Die neun Leben des Herrn F. (eBook)

Autobiographie
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2014 | 1. Auflage
384 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0957-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die neun Leben des Herrn F. -  Herbert Feuerstein
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1. Leben: In Salzburg versucht Herbert Feuerstein aufzuwachsen, wird aber nur 1,65. 2. Leben: Er studiert am Mozarteum Musik und erhält dafür Ohrfeigen. 3. Leben: Kaffeehausliterat in Wien und Giftzwerg der Musikkritik. 4. Leben: Zehn Jahre New York: Journalist, Hobby-Tischler und Stadtneurotiker. 5. Leben: Drei Jahre Buchverlagsleiter in Frankfurt. (Zählt wie dreißig Jahre Buchhalter.) 6. Leben: Zwanzig Jahre Macher des Satiremagazins MAD. (Zählt wie zwei Monate FAZ.) 7. Doppelleben: Radio, Fernsehen & Trallala sowie Theater und Oper für die restlichen fünf Prozent. 8. Leben: Zurück zur Musik, wovon sein Klavierspiel aber leider nicht besser wird. 9. Leben: Danke, es geht. Aber wie lang noch?

Herbert Feuerstein, geboren 1937 in Zell am See (Österreich), gestorben 2020 in Erftstadt, war Journalist, Schauspieler und Entertainer. Für seine Mitgestaltung der TV-Reihe 'Schmidteinander' wurde er 1994 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.

Herbert Feuerstein, geboren 1937 in Zell am See (Österreich), ist Journalist, Schauspieler und Entertainer. Für seine Mitgestaltung an der TV-Reihe "Schmidteinander" wurde er 1994 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Brühl und in Berlin.

1.
Vorleben

(1937–1947)

Stochern im Nebel

Es muss im Sommer des Jahres 1940 gewesen sein, meine erste Erinnerung überhaupt. Drei Jahre bin ich alt, es ist ein warmer Tag, und ich trage kurze Hosen. Wir wohnen im ersten Stock eines Eisenbahner-Personalhauses von Bischofshofen. Ich gehe die Treppe hinunter, die Haustür ist offen, von ihrer Schwelle führt eine Stufe hinunter auf den Gehsteig, wo ein paar riesige Kerle toben, bestimmt schon fünf oder sechs Jahre alt. Ich will an ihnen vorbei, da stößt mich einer über die letzte Stufe. Ich falle mit dem Gesicht voraus auf sandigen Grund. Die Übel­täter laufen fort.

Als ich wieder aufstehe, betaste ich das Gesicht. Auf meinem Finger ist ein bisschen Blut, die Oberlippe fühlt sich seltsam an, und jetzt spüre ich, nein, ich weiß es: Ich habe keine Nase mehr. Meine Nase ist weg.

Weinend klettere ich die Treppe hoch. Irgendjemand, wahrscheinlich meine Mutter, sagt, die Nase sei noch dran, aber ich glaube ihr nicht. Lange weigere ich mich, in den Spiegel zu schauen, weil ich mich ohne Nase nicht ansehen mag.

Diese erste Erinnerung habe ich fest gespeichert, ich kann sie jederzeit abrufen, worauf ein zehn bis fünfzehn Sekunden langer Film vor dem inneren Auge abläuft, ein Farbfilm: Ich sehe das rote Blut auf der Fingerspitze und den gelben Anstrich der Hausfassade. Heute ist deren Farbe bläulich-grau. Die abweisende Kargheit des ehemaligen Eisenbahnerhauses hat mich erschreckt, als ich auf der Suche nach der verlorenen Nase vor wenigen Jah­ren wieder davorstand, denn in meiner Erinnerung war das Haus Zuflucht und Geborgenheit. Heute ist es einfach nur hässlich.

Lange habe ich an der Datierung gezweifelt: Kann man Erinnerungen über mehr als sieben Jahrzehnte unverfälscht bewahren? Hat der vermeintliche Nasenverlust einen winzigen Speicherplatz im Hirn zur Alterslosigkeit verurteilt? Aber kalendarisch stimmt es. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass ich diese Episode bereits als Zweijähriger erlebt habe, denn schon 1939 war mein Vater als Eisenbahnbeamter von Zell am See nach Bischofshofen versetzt worden, mit einer Dienstwohnung in diesem Personalhaus gleich neben dem Bahnhof.

Ich habe danach immer wieder mein Gesicht verloren. Aber die Nase nur damals, das eine Mal.

*

Ich erinnere mich an viele Szenen der Jahre 1941 und 1942, als Vier- und als Fünfjähriger. Wir waren in die »Eckl-Villa« umgezogen, ein damals aufregend moderner Flachbau in idyllischer Hanglage am Dorfrand von Bischofshofen, sichtbarer Beweis für den Aufstieg meines Vaters auf der Nazi-Karriereleiter. Er bezog sein Gehalt zwar immer noch von der Eisenbahn, war aber jetzt Kreisgeschäftsführer der örtlichen NSDAP und damit Stellvertreter des Kreisleiters, »nur ein Ehrenamt«, wie er immer wieder betonte, auch noch zwei Jahrzehnte später, als es lang schon keine Ehre mehr war.

Da gab es diesen Bauernhof, wo wir die Milch holten, hundert Meter den Hang hinauf. Dessen Felder grenzten direkt an unseren Garten, nur ein Drahtzaun dazwischen. Meine Mutter mochte keine Hunde, duldete aber ein Kaninchen. Es war Auf­gabe meiner Schwester, acht Jahre älter als ich, Hasenfutter zu besorgen, nicht schwierig angesichts der üppigen Wiesen rundherum. Aber sie wollte sich die Aufgabe noch leichter machen, hob mich über den Zaun auf das bäuerliche Grundstück und hielt einen Beutel auf, in den ich Spinatblätter stopfen sollte. Da kam der Bauer. Ich hob meine Arme in der Hoffnung, meine Schwester würde mich retten und über den Zaun zurückheben. Aber sie rannte weg. Als der Bauer vor mir stand, erwartete ich, dass er mich töten würde. Aber er ließ mich leben, sagte nur: »Rotzbua, elendiger!«, und hob mich zurück auf unsere Seite des Zauns. Ich habe danach nie wieder Spinat gestohlen. Aber wir hatten auch nie wieder einen Hasen.

Im Winter zwang mich meine Schwester einmal, den steilen Weg hinunter ins Dorf zu rodeln, obwohl ich Schnee und jede Art der Fortbewegung darauf bis heute hasse. Natürlich flog ich über die Kurve hinaus und endete im zugefrorenen Bach. Anschließend gab sie mir eine Ohrfeige. Ich habe seit vierzig Jahren kaum Kontakt mit ihr. Aber nicht deshalb.

Ich erinnere mich an Ingrid, die Tochter des Kreisleiters. Wenn unsere Eltern spazieren gingen, liefen wir voraus und sangen das Lied von Rosamunde. Ich kannte den Text nicht, liebte aber das Wort Rosamunde wegen der von der Musik erzwungenen Betonung auf der letzten Silbe: Ro-sa-mundÄÄÄ! In meiner Vorstellung war das kein Mädchenname, sondern eine Warnung: »Rosa mundäää!« im Sinne von »Rosa, pass auf!«. Ich weiß, dass wir es auch an meinem fünften Geburtstag sangen. Ich fragte Ingrid damals, was »mundÄÄÄ« heißt, worauf sie den kompletten Liedtext aufsagte. Aber ich verstand noch immer nicht, worum es ging, weil das dominante »mundÄÄÄ!« jeden Sinn zerriss. Statt einer Antwort fragte sie mich, ob ich sie heiraten wolle.

Ich habe den Antrag abgelehnt, denn sie war Jahrgang 1936, also schon sechs, und mir damit einfach zu alt. Jetzt erst, beim Schreiben, als mir das alles wieder einfiel, habe ich mich kundig gemacht: »Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag ja. Rosamunde, frag doch nicht erst die Mama.« Endlich verstehe ich den Zusammenhang und bin doppelt froh, ihren Antrag nicht angenommen zu haben. »Ro-sa-mundÄÄÄ« war also doch eine Warnung.

*

Wenn man von Osten kommt, fährt man gleich hinter der Ortseinfahrt Bischofshofen direkt an meinem alten Kindergarten vorbei. Man legte dort Wert auf Ordnung und Disziplin, und in unregelmäßigen Abständen fand eine Hygienekontrolle statt: Jedes Kind hatte ein sauberes Taschentuch mitzuführen und auf Aufforderung durch das »Fräulein«, so nannte man damals die Kindergärtnerin, für jedermann sichtbar zu schwenken. Ich hielt es aber nie mit der Hygiene, auch heute nicht, und hatte keins dabei. Zusammen mit zwei oder drei anderen Rotznasen musste ich mich deshalb aufs Podium stellen, die sauberen Kinder bildeten einen Kreis um uns, schwenkten ihre Tüchlein und schrien: »Pfui! Pfui! Pfui!« Heute vermutet man, derlei könne die zarte Kinderseele zerstören, aber mir hat das nichts ausgemacht. Glaube ich wenigstens. Obwohl: Wieso kann ich mich nur an diese Szene aus dem Kindergarten erinnern und an keine andere?

Einmal besuchte uns der Vermieter der Villa, der Zahnarzt Dr. Eckl. Als ich von seinem Beruf erfuhr, versteckte ich mich im Garten. Denn ich war sicher, dass er gekommen war, um mir alle Zähne auszureißen – so stand es nämlich in dem Kinderbuch über jüdische Zahnärzte, aus dem mir meine Mutter manchmal vorlas. Da ich nicht wusste, was ein Jude war, übertrug ich diese Bedrohung auf alle Zahnärzte. Ich höre heute noch, wie mein Vater nach mir ruft, während ich hinter den Büschen hocke und warte, dass der sadistische Quäler endlich geht. Und bis heute vermeide ich Besuche beim Zahnarzt. Ich habe trotzdem – vielleicht sogar deshalb – auch im hohen Alter noch ein weitgehend intaktes Gebiss mit nur drei Plomben.

Im letzten Jahrzehnt habe ich mindestens dreimal versucht, diese Eckl-Villa in Bischofshofen wiederzufinden, immer vergeblich. Wahrscheinlich wurde das Haus längst abgerissen, dachte ich – bis ich neulich, als ich im Zusammenhang mit dem albernen Rummel zu meinem 75. Geburtstag in einer Schachtel mit alten Fotos kramte. Darin fand ich tatsächlich ein Bild dieses Hauses, »Die Eckl-Villa« hatte meine Schwester mit krakeliger Kinderschrift darüber geschrieben – und ich erschrak: Denn dieses Haus sah völlig anders aus als jenes meiner Erinnerung. Ich hatte ein Phantom gesucht und bin offenbar stets an der Wirklichkeit vorbeigefahren, ohne sie zu erkennen. Gut, dass es keine Faktenprüfung als Voraussetzung gibt, eine Auto­biographie schreiben zu dürfen. Denn dann müsste ich jetzt schon aufhören. »Sich erinnern heißt erfinden«, hat einmal ein kluger Mensch gesagt. Stimmt.

Fahrt auf dem Trittbrett

Ich erinnere mich nur lückenhaft an den Anfang in Salzburg und musste in alten Unterlagen wühlen, um herauszufinden, dass ich fünf oder sechs Jahre alt war, als wir von Bischofs­hofen wegzogen. Mein Vater, jetzt 44, war auf der Karriereleiter der NSDAP wohl eine Stufe höher geklettert und wurde in die »Gauhauptstadt« Salzburg versetzt. Ob das Haus, das er dort gekauft hatte, ein Parteiprivileg war, weiß ich nicht. Es war aber keine Dienstvilla, sondern ein für Geld und Brief erworbener Neubau – mein Bruder quälte sich noch jahrzehntelang mit Hypothekenzahlungen ab. Er war ein lieber Kerl, gleichzeitig ein Finanz-Hallodri feinster österreichischer Machart. Beim Einzug in mein Elternhaus war er noch nicht geboren, jetzt ist er schon ein Jahrzehnt tot. Ein komisches Gefühl, wenn man seinen jüngeren Bruder überlebt. Irgendwie ungerecht.

Unser Haus war Teil einer kleinen Siedlung am Stadtrand, in der Nussdorferstraße, damals ein ungeteerter Sandweg, der noch ein gutes Jahrzehnt ohne Asphalt oder Gehsteig auskommen würde. In lauen Sommernächten hörte ich ein Heer von Fröschen quaken, die Begleitmusik meiner Kindheit, denn das Haus lag in Steinwurfnähe einer Sumpflandschaft rund um das Schloss Leopoldskron, einstmals Sommersitz des überfrommen Erzbischofs Firmian, der im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts 20 000 Protestanten verjagt und dabei viele von ihnen in den Tod getrieben hatte. In jüngerer Zeit war es zwanzig Jahre lang Wohnsitz und Wirkstätte von Max Reinhardt gewesen, dem Begründer der Salzburger Festspiele. Im damals völlig verwilderten Schlosspark habe ich oft gespielt, im Eis des Leopolds­kroner Weiher bin ich einmal eingebrochen. Kann...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Comic / Humor / Manga
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Autobiografie • Bastian Pastewka • Harald Schmidt • Herbert Feuerstein • MAD • Schmidteinander
ISBN-10 3-8437-0957-2 / 3843709572
ISBN-13 978-3-8437-0957-6 / 9783843709576
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