2: Vorstoß ins Unbekannte

Als ich nach New York zurückkehrte, fühlte ich mich wie Cäsar, als er den Rubikon überquerte. Dies war nicht das erste Mal, dass ich auf der Suche nach neuen Wahrheiten mein Leben neu einstellen musste, aber in der Vergangenheit hatten alle meine Forschungsprojekte Raum und Rahmen unter den schützenden Fittichen der anerkannten und orthodoxen Wissenschaft gefunden. Ich konnte mich an Leute wenden, die besser informiert waren als ich selbst und mir mit Vorschlägen und Hinweisen halfen. Meine Projekte genossen die Zustimmung und den Respekt der Kollegen und wissenschaftlichen Mitarbeiter. Bei diesem neuen Unterfangen riskierte ich nun wahrscheinlich meinen wissenschaftlichen Ruf und hatte niemanden, an den ich mich um Rat und Geleit wenden konnte. Dies war ein Vorstoß ins Unbekannte. Es war die Herausforderung meines Lebens, einen neuen und unerforschten Bereich des menschlichen Geistes zu betreten, es war ein Bereich, der noch nicht anerkannt war und ein großes Unterfangen, es in den Schoß der wohl dokumentierten wissenschaftlichen Forschungswege zu bringen.

Die Herausforderung reichte weiter, als sich einfach auf den Weg in ein neues Gebiet zu machen. Was mich wirklich motivierte, mich auf dieses Wagnis einzulassen, war mein drängendes Bedürfnis zu verstehen, wie der menschliche Geist arbeitete. Die höhersinnliche Wahrnehmung bedeutete eine Herausforderung für alle Vorstellungen, die ich bis dahin gehegt hatte. Ich musste die Wahrheit entdecken, die Antworten auf alle diese Fragen, ganz gleich, welchen Preis es kosten würde. Da sich die Beweise gehäuft hatten, die das Vorhandensein jener Fähigkeiten bei einer großen Zahl von Menschen belegten, wusste ich, dass man es nicht weiter ignorieren konnte. In der Vergangenheit hatte es Phasen gegeben, in denen meine wissenschaftlichen Entdeckungen mich gezwungen hatten, meine Meinung zu ändern. Als ich einst mit meiner Arbeit in der Psychiatrie anfing, war ich vom Wert der Elektroschocktherapie überzeugt. Drei Jahre der Forschung zeigten mir das genaue Gegenteil, und ich musste akzeptieren, was die Fakten mir vermittelten. Mehr als einmal hatte eine neue Wahrheit meine vorgefassten Theorien oder Meinungen zunichte gemacht. Wenn es eine substanzielle Anzahl von Menschen mit höhersinnlicher Wahrnehmung gab, musste ich deren Fähigkeiten identifizieren und evaluieren – und schließlich meine eigenen Vorstellungen darüber revidieren, wie der Geist des Menschen arbeitet. Ich wusste, dass das Hochgefühl, neue Wahrheit und deren Wert und Sinn zu entdecken, mich tragen würde, wenn ich mich den vor mir liegenden Schwierigkeiten stellte.

Es gab eine zusätzliche Motivation, die Forschung voranzutreiben. Wenn es Menschen gab, die über höhersinnliche Wahrnehmung verfügten – konnten solche Begabungen zu höheren Leistungen trainiert werden? Konnten wir Methoden und Möglichkeiten finden, diese Ausnahme-Fähigkeiten zu nutzen und zum Wohle und Fortschritt der menschlichen Gesellschaft einzusetzen? Konnte man solche Personen schon in jungen Jahren entdecken und ihnen helfen, ihre Fähigkeiten zu begreifen und zu beherrschen? Wurden heute mehr Menschen mit diesen Fähigkeiten geboren als in der Vergangenheit? Falls ja – wäre ein solcher Trend ein Indiz für eine Art von neuem Durchbruch für den menschlichen Geist?

Ich hatte meine finanziellen Reserven gebraucht, um ein Gutachten über die Möglichkeiten zur Forschung auf dem Gebiet der höhersinnlichen Wahrnehmung zu erstellen und um geeignete Versuchspersonen ausfindig zu machen. Ich war fest davon überzeugt, dass die Zeit für ein gründlicheres und breitgefächertes Forschungsprogramm gekommen war. Ich hatte provisorische Versuchs-Prozeduren und Forschungsmethoden ausgearbeitet, während ich Menschen mit speziellen Begabungen interviewte.

Ich war entschlossen, mit der Forschung fortzufahren, ganz gleich welcher Art von Problemen ich begegnen würde. Mir war klar, dass dies alle meine Zeit, Energie und Einfallsreichtum erfordern würde, und ein Stipendium könnte es möglich machen, dass ich dieser Arbeit meine ganze Zeit widmete. Am Ende war es die für ihre Unterstützung neuartiger und kreativer Projekte bekannte Eliot D. Pratt Foundation, die beschloss, meine Arbeit für die nächsten Jahre zu sponsern. Schließlich leistete eine Reihe von interessierten Personen Spenden an die Pratt-Stiftung, um mit ihren Zuwendungen dazu beizutragen.

Im Jahre 1958 war die Finanzierung der Arbeit gesichert, und ich selbst war bereit, mein Forschungsprogramm aufzustellen und mit den Experimenten fortzufahren. Die verschiedenen Typen höhersinnlicher Wahrnehmung hatte ich grob katalogisiert. Ich stellte fest, dass manche Menschen eine bestimmte Fähigkeit aufwiesen und manche eine andere. Auch konnte das gleiche Individuum mehrere verschiedene Fähigkeiten besitzen, aber bislang hatte noch keine einzige Person Fähigkeiten aller Typen unter Beweis gestellt.

Ich traf die Entscheidung, dass die beste verallgemeinernde Bezeichnung für Menschen mit höhersinnlicher Wahrnehmung das Wort „Sensitive“ war. Vielleicht werden wir früher oder später einen besseren Begriff finden. Die Bezeichnung „Sensitiver“ wurde erstmals von Reichenbach 1842 bei seinen Versuchen mit Menschen verwendet, die das Feld sehen oder spüren konnten, das Magnete umgab. Der „Sensitive“, wie ich den Begriff im vorliegenden Buch verwende, kann eine oder mehr Fähigkeiten der höhersinnlichen Wahrnehmung besitzen. Den Begriff „höhersinnliche Wahrnehmung“ werde ich als HSW abkürzen.

Bei der Erkundung meines Tätigkeitsfeldes hatte ich schon früh beschlossen, dass die einzelne Person, das Individuum, das außergewöhnliche HSW-Begabung besaß, Gegenstand der Forschung sein sollte. Wir können keine Statistik von einem Genie erarbeiten, noch können wir eine Statistik von Individuen zusammenstellen, die mit HSW-Fähigkeiten begabt sind. So kam ich auch auf die Frage, welchen Anteil von einer Genialität in Wirklichkeit die HSW ausmacht. Einige wenige sehr hoch begabte Sensitive dürften imstande sein, unsere Gesellschaft so drastisch zu verändern, wie die Genies der Renaissance vor Jahrhunderten das Antlitz Europas veränderten. Es ist der eine herausragende Anführer oder das eine herausragende Genie, die für plötzliche, gewaltige Fortschritte in der Zivilisation verantwortlich sind.

Meine erste Aufgabe bestand nun darin, eine erhebliche Anzahl solcher begabter Individuen im Lande zu finden, die sich einige Zeit für experimentelle Arbeit zur Verfügung stellen oder die ihre Anwendung von HSW in ihrem jeweils eigenen Beruf oder Tätigkeitsbereich demonstrierten konnten. Meine Bemühungen in den Monaten davor galten einer Art rascher allgemeiner Übersicht – einem Pilotprojekt, um mich selbst davon zu überzeugen, dass solche Individuen tatsächlich existierten und um die unterschiedlichen Typen der HSW vorläufig zu identifizieren. Dank meiner Untersuchungen in Europa und dem Nahen Osten sowie in den Vereinigten Staaten war ich zu der Überzeugung gelangt, dass Menschen mit HSW-Fähigkeit überall auf der Welt zu finden waren.

Zwei sehr begabte Personen, Kay und Dora, hatten sich bereiterklärt, mit mir zusammenzuarbeiten, gleich welche Experimente ich durchzuführen wünschte. Ich lernte viele Menschen kennen und interviewte sie. In einer Reihe von Fällen nutzte ich Gelegenheiten, um die Leistung von Personen zu beobachten, die in öffentlichen Darbietungen ihre Fähigkeiten vorführten: Psychometrie, das Hell-Sehen auf Distanz oder das Beantworten von Fragen, die in versiegelten Umschlägen überreicht worden waren. Nachdem ich die überragende Qualität ihrer Fähigkeiten bereits durch experimentelle Prozeduren festgestellt hatte, begleiteten mich Kay und Dora oft zu solchen Demonstrationen. Sie erkannten beide auf ihre jeweils eigene Weise, ob die Menschen, die wir beobachteten, tatsächlich HSW-Fähigkeit besaßen oder nicht. Kay und Dora können das Kraftfeld eines Vorführenden und gewisse Energiemuster sehen, die ihnen vermitteln, welche Art von HSW ein Sensitiver besitzt sowie den Grad seiner Befähigung. In manchen Fällen wissen sie mehr über das, was ein Darbietender gerade tut, als dieser selbst. Sie sind in der Lage, Veränderungen im Energiefeld eines Ausführenden zu beschreiben und bemerken rasch jegliche Täuschung oder Betrügerei. Es war vereinbart, dass jede von ihnen bei solchen Gelegenheiten aufschreiben würde, was sie sah, ohne dass sie sich darüber austauschten. Ich würde dann später die Notizen vergleichen. Mit großem Vergnügen bezeichneten sich Kay und Dora als meine „Sensitiven mit sehenden Augen“.

Weil wir bei unserer Forschungsarbeit eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut hatten, begannen Kay und Dora, mich mit Freundinnen und Bekannten in Kontakt zu bringen, die HSW-Fähigkeiten besaßen. Bei einer Gelegenheit lud Kay mich für den Abend in das Haus eines Arztes ein, der sich für HSW interessierte. Es war auch ein junger Mann gekommen, der sich gerade einen guten Ruf in der Welt der Wissenschaft erwarb. Er hatte bereits eine Reihe von Entwicklungen und Entdeckungen veröffentlicht, die für ihn sprachen. Sowohl der Wissenschaftler als auch der Arzt interessierten sich für Kraftfelder – solche, die durch technische Geräte aufgespürt werden konnten, aber auch mögliche Felder, die noch gar nicht entdeckt worden waren. Im Laufe des Abends erfuhr ich, dass der junge Wissenschaftler an Forschungen arbeitete, die mit Raumstationen zu tun hatten. Er teilte mir schließlich offen, aber im Vertrauen mit, dass er einige seiner besten Ideen von einem Individuum mit höhersinnlicher Wahrnehmung erhalten habe. Er selbst hatte keine Vorbehalte, Menschen mit HSW-Begabung zu konsultieren. Er hatte festgestellt, dass sich manche der Ideen, die er...