Tage im Mai. (eBook)

Roman dialogué.
eBook Download: EPUB
2023
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491399-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage im Mai. -  Marlene Streeruwitz
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Aus dem Prater schallt vergnügtes Lachen herüber. Konstanze nimmt es wahr wie ein Echo aus ferner Zeit, als sie noch nicht auf ihren Impfpass reduziert und vom Leben abgeschnitten war.

Jeden Tag einen Clip auf TikTok, um für die Welt sichtbar zu sein. Veronica hat den Job als Rezeptionistin gegen ihr Studium eingetauscht und überlegt, ob sie vegetarisch oder vegan leben soll.

Beide sind abends auf Netflix: Dort träumt Anita Rodriguez im Buenos Aires der Dreißigerjahre von einer Karriere als Sängerin. Konstanze und Veronica fiebern mit. Ihre Textnachrichten über die Serie werden zum einzigen Austausch zwischen Mutter und Tochter.

Bringt das Frühjahr endlich die Befreiung von Isolation und Lockdown?

Marlene Streeruwitz erzählt die Geschichte ihrer Heldinnen mit Blick auf das aktuelle Geschehen: »Tage im Mai.«

Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019) und die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021). Literaturpreise:u.a.Mara-Cassens-Preis 1996Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für "Nachwelt")Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002Bremer Literaturpreis 2012Franz-Nabl-Preis 2015Preis der Literaturhäuser 2020

Postpandemische Suche nach Leben und Zukunft Kronen Zeitung 20230227

Das bitterböse literarische Donnerwetter von Marlene Streeruwitz kommt verlässlich. Roman für Roman.

Veronica.


Die Tränen rannen. Die Tränen rannen über die Wangen, und sie konnte nichts dagegen tun. Die Frau schrie sie an. Die Frau stand über den Tisch zu ihr herübergebeugt. Das Gesicht der Frau dicht vor ihrem. Das Gesicht der Frau so nahe. Sie hätte den Atem riechen müssen, wenn sie nicht die Maske aufgehabt hätte. Sie setzte die Maske immer gleich auf, wenn jemand in die Rezeption hereinkam. Sie schaute auf. Schaute zu der Frau hinauf. Saß. Von der Frau festgenagelt. Sie müsse nur dasitzen, hatte der Küchenreither gesagt. Hinter dem Tisch der Rezeption sitzen. Auskunft geben. Die Post einordnen. Und er müsse sie warnen. Es wäre nicht immer nett, wie Leute sie behandeln würden. Es gäbe fürchterliche Leute. Leute, die glaubten, es gehöre alles ihnen. Kühlen Abstand solle sie halten, hatte er gemeint. Und so gegrinst dazu. So vertraulich.

Sie war froh über die Maske. Die Frau beugte sich weit in ihren space. Diese Frau hielt sich nicht an die Abstandsregeln. Diese Frau zischte und sprühte auf sie herunter. Und sie stand doch auf. Da war das mit dem Weinen auch gleich vorbei. Sie war größer als diese Frau. Die musste zu ihr hinaufschauen. Die Frau schimpfte weiter. Und es ging gar nicht um sie. Es war der Atem gewesen. Dass sie in diesen Atem gezwungen worden war. In den Atemstrahl dieser Person gebannt. Stehend. Die Frau beschimpfte nur die Leute von »open up«. Nicht sie. Sie war gar nicht gemeint. »Open up«. Das war ein Aufsperrdienst. Die waren nur telefonisch erreichbar. Oder per E-Mail. Die hatten keine feste Adresse mehr. Nur ein Brieffach hier.

Sie hatte alles richtig gemacht. Sie hatte lächelnd aufgeschaut. Während des Maskenaufsetzens. Sie hatte der Frau die Visitkarte von »open up« hingehalten. Auf der fände sie die Telefonnummer, hatte sie gesagt. Freundlich. Sie hatte das alles freundlich gesagt. Das war mit der Maske nicht so selbstverständlich zu sehen. Eine Person wäre hier nicht anzutreffen. Auf der Website von »open up« könne sie das auch lesen. Sie hatte der Frau vorgeschlagen, ihre Telefonnummer zu hinterlassen. Sie würde dann zurückgerufen werden. Das war nett von ihr gewesen. Das musste sie nicht tun. Die Frau hatte sie aber nur angeschaut. Stumm. Da hatte die Frau selber noch die Maske aufgehabt. Die hatte sie abgenommen. Beim Schimpfen. Beim Auf-sie-herunterSchimpfen. Ein Überfall. Das war ein Überfall gewesen. Die Frau war teuer angezogen. Goldglänzend. Die Hose goldglänzend. Goldglitzernde Edelsneaker. Solche Sneaker hatte sie im Prada-Geschäft nebenan gesehen. Die Jacke im Chanel-Stil. Mit Goldtressen. Vor dem Tisch. Die Frau war an den Tisch gekommen. Und sie. Sie hatte gedacht, sie solle die Telefonnummer notieren, und hatte auf dem Bildschirm schon nach der Website von »open up« gesucht. Da hatte die Frau die Maske abgenommen.

»Es ist eine Schande. Ihr wollt doch nur noch das Geld.« Die Frau hatte sich immer näher zu ihr heruntergebeugt. »Ich gehe extra hierher. Es gibt nirgends mehr einen Schlüsseldienst. Es ist kein Schlüsseldienst oder ein Schlosser in der Innenstadt zu finden. Der hier. Dieses Ding da. Das steht in den Gelben Seiten. Das habe ich auf den Gelben Seiten gefunden. Und was ist dann? Nichts. Nichts ist. Nada.«

Da war die Frau knapp über ihr gewesen. Sie hätte schneller aufstehen sollen. Diese Covid-Viecher von oben in ihre Maske hinein.

»Betrüger seid’s es.«, hatte sie ihr in die Maske gezischt. »Scheiße. Absolute Scheiße. Und du. Du deppate Funsna. Du glaubst a, weist jung bist und a bissl guat ausschaust. Aber ihr seid’s alle gleich. Du bist a nur a Officeprostituierte. Glaub net, dass des net jeda waß. Wie is er denn? Der Herr Chef?«

Im Stehen. Sie hatte keine Sorge mehr, die Frau könne auf sie einschlagen. Das hatte so gewirkt. Kurz. Sollte sie nach hinten gehen. Die Stufen hinauf und in den Vorraum zur Toilette. Aber sie musste auf die Post aufpassen. Sie durfte die Post nicht unbeaufsichtigt lassen. Dazu war sie da. Und es lag Post in den Brieffächern. Von den Vortagen. Manche holten ihre Post nur einmal in der Woche ab. Oder sie musste nachschicken. Der Briefträger. Er konnte jeden Augenblick kommen. Dann war sie nicht allein. Mit dieser Person. Diese Frau. Diese Wut. Alle Sicherheitskameras waren angesprungen. Unter jeder Kamera blinkte das rote Licht. Die Szene war aufgezeichnet. Sie musste sich nicht sorgen. Es gab diese Dokumentation. Sie setzte sich wieder. Sie setzte sich sehr aufrecht hin. Im rechten Augenwinkel. Die Tränen juckten. Sie wischte sich die Tränen nicht weg.

»Ich kann Ihre Telefonnummer notieren und Sie werden zurückgerufen. Mehr kann ich für Sie nicht tun.«

Ihre Stimme war wieder fest. Sie hatte befürchtet, verweint zu klingen. Kühl und bestimmt hatte sie geredet. Kompetent. Die Frau drehte sich weg. Ging hinaus. Sagte nichts. Sie blieb sitzen. Sie zwang sich, sich die Tränen nicht wegzuwischen. Sie wartete, bis die Kameras nicht mehr rot blinkten. Still standen. Sie stellte ihr Handy auf. Klickte auf Aufnahme. Video. Sie saß still. Sie atmete so flach wie möglich. Unbewegt. Ließ sich zu Stein werden. In Stein verwandeln. Schaute vor sich auf den Eingangsbogen zur Rezeption hinauf. Die Geräusche von draußen. Vom Kohlmarkt. Der Lärm ein schmaler Rand zur Stille herinnen. Wie tot, fiel ihr ein. Aber das stimmte nicht. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie fühlte sich ja. Fühlte sich in der Mitte von dieser Stille in der Mitte der Stadt. Sie seufzte.

Das Kontrolllicht der Kamera vor ihr. Es begann sofort wieder zu blinken. Sie war nicht bewegungslos genug gewesen. Sie musste von vorne anfangen. Sie rückte das Handy zurecht. Setzte sich zurecht. Legte den rechten Arm auf den Tisch. Drückte wieder auf Video. Bewegte nicht einmal den Finger. Konzentrierte sich. Sie dachte sich doch tot. Sie dachte sich tot wie Gabby Petito. Sie stellte sich vor, wie alle Instagram-Postings von Gabby Petito von einer Toten waren. Wie diese Postings sich vom verwesenden Körper der Person entfernten. Wie Gabby Petito nur noch auf diesen Postings lächelte oder aß oder saß oder lief. Gabby Petito war längst begraben und als YouTube-Sensation und auf Instagram und auf Twitter schon längst vom Prozess Johnny Depp/Amber Heard ersetzt worden.

Sie saß bewegungslos. Sie hielt Gabby Petito die Treue. Sie hatte mit dem Jonas auch so eine Reise geplant gehabt. Aber sie. Sie hatte selbst abgesagt. Und sie konnte es niemandem sagen. Niemand würde ihr glauben. Sie wusste ja selbst. Es gab keinen Grund. Keine Anhaltspunkte. Aber sie wollte nicht. Wollte nicht mit ihm. Irgendwie. Sie hatte Angst bekommen. Oder nicht Angst. Der Jonas. Er war. So groß. Er schien größer geworden zu sein. Und sein Bauch. Der Bauch. Das hatte ja dann. Und er hatte sie belogen. Richtig blöd angelogen. Sie seufzte. Musste Luft holen. Tief Luft holen. Sie hatte zu flach geatmet. Und sah sie wirklich dieser Person ähnlich. Sie war doch nicht blond.

Die Kamera hatte wieder zu blinken begonnen. Sie setzte sich auf. Streckte sich. Dieses Posting musste fertig werden. Die Post würde gleich kommen. Und dann die Leute. Die Post abholen. Tratschen. Ob der Poldi in Wien wäre oder wo er sich herumtriebe. Die vollkommene Unbewegtheit. Fast-Tot-Sein. Das konnte sie nur am Morgen machen. Und dann posten. Jeden Tag. Jeden Morgen. Sie nannte es »TikTok eingefroren«. Das ewige Leben auf Instagram. 43 Follower warteten. Sie tippte wieder auf Aufnahme. Begann von neuem. Gabby. Sie dachte sich Gabby. Unbeweglich wie die. Sie saß. Die Sessellehne gegen den Rücken. Die Arme schwer hängend. Das dünne Atmen wurde wieder schwieriger. Sie zwang sich, mit dem tiefen Atmen zu warten. Nur noch kurz. Es war wichtig. Dann hatte sie es für den Tag geschafft. Dann hatte sie die Aufnahme für den Tag. Es war wichtig, Ankündigungen einzuhalten. Gabby hatte das gemacht. Sie stellte sich Gabbys Postings vor. Gabby zwischen Felsen. Gabby gegen den Abendhimmel am Meer und wie sie ihrem Mörder zuwinkt. Wie sie ein Tuch hochhält und etwas sagt. Sie hatte den Ton abgeschaltet. Weil Gabbys Leiche gefunden worden war, hatte sie den Ton abgeschaltet. Von Anfang an. Sie hatte diese Geschichte erst zu sehen bekommen, da war Gabbys Leiche schon gefunden gewesen. Der Mörder war da noch herumgefahren. Der mutmaßliche Mörder. Da war ja noch nichts klar gewesen. Eine Vermutung. Die Ermordete und ihr Mörder immer noch auf der Reise. Auf Instagram. Sie hatte die Stimme nicht hören wollen. Die Stimme einer Toten. Deshalb. Sie sagte nie etwas in ihren Postings. Sie ließ ihre Stimme nicht so gefangennehmen. Auf ewig.

War es das gewesen? Der Jonas. Der hatte immer gemeinsam auf Instagram sein wollen. Selfies gemeinsam und etwas sagen. Wo sie waren. Was sie machten. Wie schön es wäre. Wie gut das Essen. Wohin sie geradelt waren. Lauter so Klumpert. Wen interessierte das. Gabby schauten alle an, weil sie ein Mordopfer war. Ein hübsches Mordopfer. Verzweifelt und hübsch. Sie saß. Vom Nicht-so-richtig-Atmen. Graue Schleier vor den Augen. Nur noch ein bisschen. Durchhalten. Aushalten. Das war ihr Opfer an die Ewigkeit des toten Mädchens. Und sie hatte es geschafft. Sie war für 2 Minuten und 7 Sekunden erstarrt gewesen. Die Kameras hatten das Blinken aufgegeben. Sie war für 2 Minuten und 7 Sekunden verschwunden gewesen. Nicht dokumentiert. Es hatte sie nicht gegeben. Für diese Zeit. An diesem Platz. Sie hatte die Kameras abgeschaltet. Überlistet. Sie schnitt die Aufnahme auf dem Handy zurecht. Den Anfang weg. Stellte die 2 Minuten und...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Psychologie
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Corona • Ein Buch von S. Fischer • Feminismus • Generationenkonflikt • Isolation • Kinderlosigkeit • Lebensentwürfe • Mutter-Tochter-Beziehung • TV-Serie • Ukraine
ISBN-10 3-10-491399-4 / 3104913994
ISBN-13 978-3-10-491399-5 / 9783104913995
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