Ich bin doch kein Mörder

Gerichtsreportagen 1989-2004
Buch | Hardcover
320 Seiten
2004 | 3. Auflage
DVA (Verlag)
978-3-421-05781-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich bin doch kein Mörder - Gisela Friedrichsen
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Gerichtsverfahren wühlen die Menschen auf, wie zuletzt der Fall Mannesmann oder der Fall des »Kannibalen«. Sie stellen grundsätzliche Fragen nach Schuld, Verantwortung, Niedertracht, Menschlichkeit. Gisela Friedrichsens herausragende Reportagen versuchen das oft Unbegreifliche begreiflich zu machen und sind zugleich ein Stück Zeitgeschichte.


Der angesehene Bankchef Ackermann, der sich wegen schwerer Untreue vor Gericht wiederfindet. Der Raser, der auf der Autobahn den Tod zweier Menschen verursacht. Die Techniker und Ingenieure, die für die Zugkatastrophe von Eschede geradestehen sollen. In den Gerichtsreportagen von Gisela Friedrichsen geht es nie nur um den einzelnen Fall, sondern auch um den Zustand der Gesellschaft, in der er sich ereignet hat. Es geht um die Psychologie der Menschen auf der Anklagebank. Und es geht nicht zuletzt um das Urteilen von Menschen über Menschen in einer Zeit, in der die Medien oft genausoviel Schaden anrichten wie die Straftäter selbst.




Gisela Friedrichsen ist die bekannteste Gerichtsreporterin Deutschlands. Sie arbeitete 16 Jahre lang als Redakteurin bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, seit 1989 berichtet sie für den SPIEGEL aus den Gerichtssälen Deutschlands. Bei DVA erschien zu

Wir glauben gerne, das Verbrechen habe an den Rändern der Gesellschaft seinen Ort. Stattdessen hat es ihn in ihrer Mitte. Kein Beruf, Stand oder Alter bewahrt davor, aus Gier oder Lust, Verblendung oder Verzweiflung zu morden, zu stehlen und zu betrügen. In den Reportagen von Gisela Friedrichsen kommen sie alle vor: kriminelle Jugendliche aus guten und schlechten Elternhäusern, Erwachsene mit und ohne Beruf oder Arbeit, Richter, Pfarrer, Politiker und Manager, Krankenschwestern und Ärzte. In ihnen begegnet die ganze Gesellschaft.
Sie begegnet in doppelter Weise. Die individuelle Geld- oder Machtgier der Täter, ihre individuelle Unfähigkeit, sich in Veränderungen zu behaupten oder aus Verstrickungen zu lösen, ihre individuellen Lebenslügen spiegeln Probleme der Gesellschaft. Zugleich spiegeln die Strafverfahren das positive Bild, das die Gesellschaft von sich entwirft und dessen sie sich vergewissern und das sie sich bestätigen möchte. Besonders deutlich wird dies in politischen Strafsachen. Prozesse gegen DDR- oder nationalsozialistisches Unrecht und gegen Rechtsradikale sind für Richter, Staatsanwälte und Nebenkläger Gelegenheit, sich und der Gesellschaft ihre makellose politische Gesinnung zu demonstrieren. Weil sie Repräsentanten der Gesellschaft sind, demonstrieren sie der Gesellschaft auch deren makellose politische Gesinnung.
Gisela Friedrichsens Reportagen bieten Gesellschaftsanalyse, Mentalitäts-, Kultur- und politische Zeitgeschichte. Manchmal weiten sie sich zu kleinen Essays über die Situation Jugendlicher in den neuen Ländern, das Entstehen jugendlicher Gewalt, die Radikalisierung von Muslimen oder den Schatten, den die nationalsozialistische Vergangenheit in die Gegenwart wirft. Nie verschwinden hinter dem gesellschaftlichen Befund das individuelle Schicksal und die individuelle Verantwortung. Gisela Friedrichsen schließt die Ereignisse dadurch auf, dass sie analytische Schärfe und persönliche Einfühlsamkeit und Behutsamkeit vereint.
Mit dem Bild der Gesellschaft entsteht in Gisela Friedrichsens Reportagen ein Bild der Strafrechtspflege. Wie das Zusammenspiel von Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Sachverständigem funktioniert und wie das von Verteidiger und Angeklagtem, wann und warum Verfahren statt von der Strafprozessordnung durch einen Deal der Beteiligten regiert werden, wie Verfahren auf Reaktionen der Medien reagieren, was Justiz zu politischer Justiz macht, warum ähnliche Taten verschieden bestraft werden, was vom Strafvollzug erhofft werden darf und befürchtet werden muss - es wird zwar nicht im Detail ausgemalt, aber in klaren, kräftigen Strichen skizziert.
Im Bild der Strafrechtspflege, wie sie ist, scheint das Bild der Strafrechtspflege auf, wie sie sein sollte. Ohne zu belehren, ohne zu moralisieren, macht Gisela Friedrichsen in ihren Reportagen deutlich, was das Amt von Richter, Staatsanwalt und Gutachter, Nebenkläger und Verteidiger ist. Das ist besonders eindrucksvoll. Seit dem Ende des Dritten Reichs wird über Recht und Moral diskutiert, die Moralvergessenheit des Rechts für das nationalsozialistische und das DDR-Unrecht verantwortlich gemacht und der Moral im Recht ein Ort gegeben. Grundrechte werden zu moralischen Prinzipien erklärt, Gesetze werden im moralischen Licht der Grundrechte interpretiert, und das Verhalten von Institutionen und einzelnen wird an der moralischen Latte der Grundrechte gemessen. Ein moralisch gesättigtes Recht soll staatliches Unrecht verhindern.
Aber die Moral lebt nicht im Buchstaben des Gesetzes, auch nicht in dem des Grundgesetzes. Sie lebt im Richter, der den Sachverhalt gründlich erhebt, das Recht sorgfältig beachtet, sich auf den Angeklagten einlässt und Distanz zu seinen eigenen moralischen und politischen Positionen wahrt. Sie lebt auch bei Staatsanwälten, Gutachtern und Rechtsanwälten vor allem von der Sachlichkeit, Gründlichkeit und Sorgfalt ihrer Arbeit. Der zynische Richter, der Staatsanwalt mit Kreuzzugsmentalität, der schlampige Gutachter, der Rechtsanwalt in Selbstdarstellungsmanie - sie handeln unmoralisch, auch wenn sich daraus kein Berufungs- oder Revisionsgrund machen lässt.
Wie Gisela Friedrichsens Reportagen ein Lehrstück zur Moral der Agenten des Rechts sind, so sind sie auch eines zur Moral des Journalisten. Auch sie ist vor allem eine Moral der Sachlichkeit, Gründlichkeit und Sorgfalt. Beim besonders sperrigen Gegenstand des Rechts wird sie oft besonders vernachlässigt. Wird ihr aber genügt und verbindet sich mit der Sachlichkeit, Gründlichkeit und Sorgfalt überdies Sensibilität für die Schicksale der Menschen und die Aufgabe des Rechts, dann ist Gerichtsjournalismus ein Glück für das Gemeinwesen. Gisela Friedrichsens Reportagen sind ein solches Glück.
Bernhard Schlink

Gefangene der Geschichte Nach dem Fall der Mauer

"Damit nicht Anarchie ausbricht"
Der Prozess gegen ein Ehepaar in Magdeburg
SPIEGEL 26/1990,25. JUNI 1990
Wilmar Bohmeier, 37, ist schon lange Staatsanwalt. "Wenn man straff studiert und gut ist", sagt er, "schafft man es bei uns mit 23." Er war wohl straff und gut. Er beherrscht das Verfahren von Anfang bis Ende. Er repräsentiert, gelassen lächelnd neben dem Richtertisch, die Staatsanwaltschaft als herausgehobenes Verfassungsorgan der DDR.
"Ich darf feststellen, dass wir vor einem Gericht dieses Staates stehen. Ungeachtet aller Entwicklungen seit dem November 1989 ist die Strafprozessordnung dieses Staates DDR voll gültig. Ich darf weiter feststellen, dass wir eine geltende Verfassung haben."
Am dritten Tag der Hauptverhandlung gegen das Ehepaar Margitta und Manfred F. vor dem Bezirksgericht Magdeburg weist Bohmeier die beiden Verteidiger der Angeklagten unmissverständlich in die Schranken. Die Anwälte hatten, in Anlehnung an westdeutsches Recht, Kritik an den Vernehmungsmethoden der Volkspolizei geübt. Sie hatten beantragt, das Verfahren wieder an die Staatsanwaltschaft zurückzugeben, damit von neuem ermittelt werde. Sie wollten das Aufsehen, das der Fall erregte, zur Durchsetzung einiger weniger rechtsstaatlicher Grundsätze nutzen. Doch es blieb genau der Spielraum, den Bohmeier ihnen ließ.
Seine Selbstsicherheit verblüffte. Hieß es nicht von der Justiz der DDR, sie befinde sich im Zustand allgemeiner Unsicherheit und fehlender Perspektiven? Besonders Staatsanwälte und Richter würden umgetrieben von Befürchtungen, aus dem Amt gejagt zu werden? Erst am Tag nach dem Urteil sollte bekannt werden, dass inzwischen alle "Werktätigen", das sind auch Richter und Staatsanwälte, ihre Personalakten von Belobigungen und Auszeichnungen für treue Pflichterfüllung im Sinne von Partei und Staat, von allem, was künftig als belastend gelten könnte, längst hatten säubern können.
"Ich stimme Ihnen zu, dass nach dem heutigen Erkenntnisstand das, was man sich unter dem Recht auf Verteidigung vorstellt, nicht möglich ist", fährt Bohmeier fort. Er hoffe aber, dass die Gedanken der Verteidigung "in ein neues Recht einfließen und dass man dann nicht mehr - wie bei uns - über Postwurfsendungen oder Zeitungsartikel von Änderungen des geltenden Rechts, der Strafprozessordnung oder von Amnestien erfährt". Man sei "ehrlichen Herzens an einer Erneuerung unseres Rechts interessiert". Dafür aber sei die "konsequente Anwendung unseres Rechts die beste Voraussetzung".

Sprache deutsch
Maße 145 x 215 mm
Gewicht 547 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Schlagworte Deutschland; Politik/Zeitgeschichte • Deutschland; Recht • Gerichtsreportagen • Hardcover, Softcover / Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft • HC/Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
ISBN-10 3-421-05781-8 / 3421057818
ISBN-13 978-3-421-05781-5 / 9783421057815
Zustand Neuware
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