Der Zwang in meiner Nähe -  Michael Rufer,  Susanne Fricke

Der Zwang in meiner Nähe (eBook)

Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen
eBook Download: EPUB
2023 | 3. Auflage
176 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76275-3 (ISBN)
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Grundlagen und praktische Tipps für Betroffene und Angehörige Zwangserkrankungen wirken sich erheblich auf das Umfeld der Betroffenen aus. Familienangehörige, Partner_innen, Freund_innen, Arbeitskolleg_innen und andere Menschen, die einer zwangserkrankten Person nahestehen, sind oft alleine gelassen mit ihren Fragen: Wie kann ich der/dem Betroffenen am besten helfen? Wie kann ich zwanghafte Verhaltensweisen verstehen? Wie kann ich mich abgrenzen, und was mache ich dann mit meinem schlechten Gewissen? Wann ist eine professionelle Therapie notwendig? Soll ich einmal mit zur Therapie gehen? Diese und viele andere häufig gestellte Fragen werden von den Autor_innen, die beide jahrelange Erfahrung in der Beratung von Angehörigen und in der Therapie von Zwangskranken haben, aufgegriffen und mit Beispielen aus der Praxis und konkreten Tipps verständlich beantwortet. Für die dritte Auflage wurde der gesamte Text aktualisiert und dem heutigen Stand des Wissens angepasst. Einige Kapitel wurden erweitert; das betrifft insbesondere Informationen zu neueren Therapiemöglichkeiten wie die achtsamkeitsbasierten Ansätze in der Psychotherapie und die hirnchirurgischen Verfahren, die bei sehr schweren Zwangserkrankungen vermehrt durchgeführt werden. Ein neues Kapitel beschäftigt sich zudem mit den Besonderheiten der Situation von Eltern zwangskranker Kinder.

|45|2  Wie Zwangsstörungen entstehen und warum sie nicht von alleine wieder verschwinden


Für die meisten Angehörigen ist dieses Thema von großem Interesse, denn viele von ihnen fragen sich immer wieder, ob sie mit zur Erkrankung des Betroffenen beigetragen haben. Besonders häufig betrifft dies Eltern, die sich verantwortlich für die Zwänge ihres Kindes fühlen und verzweifelt überlegen, was sie denn falsch gemacht haben. Dahinter steckt oft die Vorstellung, dass es eine einzige Ursache für Zwangsstörungen gibt, beispielsweise eine falsche Erziehung. Diese Vorstellung ist jedoch widerlegt, man weiß heutzutage, dass verschiedene psychologische und biologische Risikofaktoren eine Rolle bei der Entstehung von Zwangsstörungen spielen. Dabei ist es von Mensch zu Mensch unterschiedlich, welche dieser Faktoren wichtig sind. Sicher ist, dass immer mehrere eine Rolle spielen. Die Erziehung kann also höchstens einer von vielen Einflussfaktoren sein. Im folgenden Kapitel beschäftigen wir uns mit möglichen Risikofaktoren für die Entstehung von Zwangserkrankungen, nämlich den Eltern und anderen nahestehenden Personen (2.1), kritischen Lebensereignissen (2.2), der Persönlichkeit der Betroffenen (2.3) und biologischen Risikofaktoren (2.4). Danach folgen Informationen zur Frage, warum Zwänge nicht von allein wieder verschwinden (2.5), und zum Schluss fassen wir das Wichtigste noch einmal zusammen (2.6).

2.1  Die Eltern und andere nahestehende Personen


Jeder von uns hat im Laufe seines Lebens viele Erfahrungen gemacht, die ihn als Mensch positiv oder negativ geprägt haben. Wichtig ist häufig das Elternhaus, also die Persönlichkeit der Eltern, die Werte und Normen, die sie vermittelt haben. Aber auch andere Personen können einen nachhaltigen Einfluss gehabt haben: Großeltern, Freunde, Lehrerinnen |46|usw. Darüber hinaus können uns auch Lebensereignisse prägen: positive, wie eine Beförderung oder die Geburt eines Kindes, und negative, wie zum Beispiel Krankheiten oder Todesfälle von nahestehenden Personen. Sehen wir uns im Folgenden die Punkte im Hinblick auf ihre Bedeutung als mögliche Risikofaktoren für die Entstehung von Zwangserkrankungen genauer an.

Eltern meinen es fast ausnahmslos gut mit ihren Kindern, sie wollen ihnen helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, indem sie ihnen das vermitteln und weitergeben, was sie brauchen. Manchmal können aber mit einer guten Absicht auch Probleme für das Kind verbunden sein. Nehmen wir beispielsweise den Wunsch von Eltern, ihren Kindern zu vermitteln, dass gute Leistungen positive Folgen (z. B. Lob) und schlechte Leistungen negative Folgen (z. B. Strafe) haben und dass man für Lob etwas tun muss. Solche Lernerfahrungen sind wichtig, weil man damit im Leben und vor allem im Beruf bessere Chancen hat, es weit zu bringen. Werden diese Erziehungsprinzipien sehr konsequent verfolgt, kann das aber von einem Teil der Kinder anders als von den Eltern beabsichtigt empfunden werden: Zwangskranke berichten uns rückblickend häufig, dass sie ihre Eltern oder einen Elternteil als zu streng und unflexibel empfanden, dass es zu wenig Lob gab und Fehler hart bestraft wurden. Sie hätten bereits als Kinder Angst gehabt, etwas falsch zu machen, und seien lieber auf „Nummer sicher“ gegangen. Als Erwachsene haben sie dann immer noch dieses hohe Sicherheitsbedürfnis, und es gibt möglicherweise einen Zusammenhang zwischen diesem und ihrer Zwangssymptomatik. Beispielsweise kontrollieren sie immer wieder, um ganz sicher zu sein, nichts übersehen zu haben, keinen Fehler gemacht zu haben.

Nehmen wir noch ein anderes Beispiel: Eltern möchten ihre Kinder vor negativen Beurteilungen durch andere bewahren und verbieten deswegen vieles, was das Kind gern gemacht hätte, wodurch es aber vielleicht negativ aufgefallen wäre. Einige Zwangskranke berichten rückblickend, dass sie das Verhalten ihrer Eltern in dieser Hinsicht übertrieben fanden. Sie hätten als Kind zu wenig Freiraum und Ermutigung für eigene Entscheidungen bekommen, stattdessen sei von ihnen Gehorsam und Anpassung an das erwartet worden, was die Eltern wollten oder „was sich gehört“. Als Erwachsene können so erzogene Menschen Schwierigkeiten haben zu erkennen, was sie möchten und was nicht, und passen sich an andere an. So haben sie nie gelernt, sich |47|gegenüber anderen abzugrenzen, eigene Vorstellungen direkt durchzusetzen. Zwänge können dann ungewollt zum unbewussten „Helfer“ bei der Abgrenzung werden. Beispielsweise löst ein Betroffener seine Konflikte mit dem Ehepartner nicht direkt, stattdessen hält der Zwang den Partner auf Distanz und nötigt ihn, sich an bestimmte Regeln zu halten.

Auch auf andere Weise kann das Elternhaus Betroffene geprägt haben: Manche Betroffene stellen fest, dass ein Elternteil von ihnen etwas „zwanghaft“ ist, also keine ausgeprägte Zwangsstörung hat, aber Zwänge in milder Form aufweist. Dazu gehört beispielsweise die Mutter, in deren Küche es aussieht wie bei Meister Proper® persönlich, oder der Vater, der beim Weggehen immer dreimal kontrolliert, ob die Haustür richtig abgeschlossen ist. Der Mutter aus dem Beispiel ist es wichtig, dass alles sauber und ordentlich ist, dem Vater ist es wichtig, dass Aufgaben gründlich erledigt und keine Fehler gemacht werden. Beide möchten ihren Kindern ein Vorbild oder ein Modell sein, denn mit einer guten Portion Ordnung und Gründlichkeit kommt man im Leben weiter. Es kann nun aber vorkommen, dass Kinder von diesem Modell zu viel übernehmen, sodass sie später zu einem übertrieben ordentlichen oder sauberen Erwachsenen werden. Modelllernen kann natürlich auch anhand anderer wichtiger Bezugspersonen stattfinden, man denke beispielsweise an den Großvater, der mit im Haushalt wohnt, in dessen Arbeitszimmer immer alles am richtigen Platz liegen muss, und der schimpft, wenn die Enkelin seine „heilige“ Ordnung durcheinanderbringt. Auch ihm ist es wichtig, dass seine Enkelin früh lernt, dass Ordnung einem im Leben weiterhilft. Problematisch kann es werden, wenn die Enkelin sich eine übertriebene Neigung zu Ordnung abschaut, die dann ein Risikofaktor für eine spätere Zwangsstörung sein kann. Diese Art von Modelllernen muss aber nicht immer stattfinden. Das können Sie daran erkennen, dass es oft vorkommt, dass jemand beispielsweise zwanghaft ordentliche Eltern hatte, selbst aber nicht besonders ordentlich oder sogar unordentlich ist.

Nicht nur Familienangehörige, auch andere nahestehende Personen können eine wichtige Bedeutung haben: Eine Betroffene berichtete, dass für sie eine Kindergärtnerin prägend war, die immer sehr darauf geachtet hat, dass die Kinder sich ordentlich die Hände waschen und mit schauerlichen Geschichten vor den Gefahren von Bakterien gewarnt hat. Diese Kindergärtnerin habe sicher dazu beigetragen, dass sie ein insgesamt ängstlicher Mensch geworden sei. Als Erwachsene hatte sie |48|dann große Ängste, sich mit einer Krankheit zu infizieren, und entwickelte Waschzwänge. Ein anderer Betroffener wurde als Kind eine Zeitlang sehr häufig von seinen Mitschülern gehänselt. Er selbst vermutete, dass diese Erfahrungen dazu beitrugen, dass er ein eher misstrauischer Mensch wurde, der sich schwertut, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Dies spielte für seine Zwänge insofern eine Rolle, als diese es ihm noch zusätzlich erschwerten, soziale Kontakte zu knüpften, und ihn gleichzeitig von seiner Einsamkeit „ablenkten“: Er war mit ihnen zu sehr beschäftigt, um die Einsamkeit zu spüren. Er selbst sprach davon, dass er zu Hause einen Mitbewohner habe, und meinte damit den Zwang.

Zum Abschluss möchten wir zum Thema „Erziehung durch die Eltern“ noch einmal festhalten, dass Eltern fast immer das Beste für ihre Kinder wollen, manchmal aber, trotz aller Bemühungen, in der Erziehung auch ein Risikofaktor für die Entstehung von Zwangsstörungen liegen kann. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Menschen, die sehr unter ihrer Erziehung gelitten, aber keine Zwangsstörung bekommen haben. Und viele Zwangskranke hatten ein harmonisches Elternhaus und wurden von ihren Eltern geliebt und unterstützt. Das Elternhaus kann also nicht „schuld“ an der Entwicklung einer Zwangsstörung sein, es müssen immer viele Einflussfaktoren zusammenkommen.

2.2  Kritische Lebensereignisse


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Erscheint lt. Verlag 6.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
ISBN-10 3-456-76275-5 / 3456762755
ISBN-13 978-3-456-76275-3 / 9783456762753
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