NS-Rassenpolitik und die Bundesrepublik (eBook)

Reclam Sachbuch premium
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2024 | 1. Auflage
310 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962239-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

NS-Rassenpolitik und die Bundesrepublik -  Reiner Pommerin
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Das »Dritte Reich« ging bei seiner Vernichtungspolitik erschreckend systematisch zu Werke und berief sich dabei immer wieder auf Adolf Hitlers Mein Kampf. Reiner Pommerin legt den ersten vollständigen Überblick zur NS-Rassenpolitik vor: Nicht nur wird darin genau beschrieben, was die einzelnen Opfergruppen (von Menschen mit Erbkrankheiten über Sinti und Roma bis hin zu Homosexuellen) im NS-Staat erleiden mussten. Pommerin geht auch auf die Aufarbeitung der einzelnen Verbrechen nach 1945 ein.

Reiner Pommerin, geb. 1943, ist Historiker und emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte. Seine Forschungsinteressen gelten neben dem Nationalsozialismus der Geschichte der Internationalen Beziehungen sowie der Militärgeschichte.

Reiner Pommerin, geb. 1943, ist Historiker und emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte. Seine Forschungsinteressen gelten neben dem Nationalsozialismus der Geschichte der Internationalen Beziehungen sowie der Militärgeschichte.

Vorwort

1. Einleitung

2. Bausteine für eine Rassenideologie
2.1 »Minderwertige«
2.2 »Unwertes Leben«
2.3 »Parasitäres Judentum«
2.4 »Verbrecherrasse Zigeuner«
2.5 »Widernatürliche Unzucht«
2.6 »Rassische Zucht«

3. Hitlers rassenpolitisches Programm

4. Zwangssterilisation, Abtreibung, »unbarmherzige Aussonderung«
4.1 »Reinerhaltung des Blutes«
4.1.1 Zwangssterilisationen
4.1.2 Sterilisierung der Kinder kolonialer alliierter Besatzungstruppen
4.1.3 Zwangsabtreibungen
4.1.4 »Unbarmherzige Absonderung«
4.1.5 Kindermord
4.1.6 »Gnadentod«
4.1.7 »Sonderbehandlung 14f13 «
4.2 Bundesrepublik: Geringe Entschädigung und vergeblicher Kampf um Rehabilitierung
4.2.1 Verweigerung des rassenpolitischen »Opferstatus«
4.2.2 Halbherzige »moralische Rehabilitierung«

5. »Entfernung der Juden aus dem deutschen Volkskörper«
5.1 Gewalt und Boykott
5.1.1 Juristische Ausschließung
5.1.2 »Restlose Auswanderung«
5.1.3 Nürnberger Rassengesetze
5.1.4 Der »Anschluss« Österreichs
5.1.5 Novemberpogrom
5.1.6 »Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben«
5.1.7 Kriegsbeginn und Verfolgung
5.1.8 Deportation und Vernichtung
5.2 Bundesrepublik: Die »Wiedergutmachung« jüdischen Leids

6. »Rassische Absonderung des Zigeunertums«
6.1 Ausgrenzung, Entrechtung, Gewalt
6.1.1 Verfolgung und Ermordung
6.2 Bundesrepublik: Späte Rehabilitierung und Entschädigung
6.2.1 Rassisch verfolgt oder »kriminell« und »asozial«?

7. »Staatsfeind« Homosexueller
7.1 Ausgrenzung, Entrechtung, Gewalt
7.1.1 Verschärfung des § 175
7.1.2 Verfolgung und Ermordung
7.2 Bundesrepublik: Rehabilitierung und Entschädigung
7.2.1 Fortführung der Kriminalisierung
7.2.2 Aufhebung des § 175 und Rehabilitierung

8. Die Gewinnung von »Rassegut«
8.1 Die Förderung ehelicher Geburten
8.1.1 Förderung unehelicher Geburten
8.1.2 Die Förderung von Wehrmachtkindern
8.1.3 Die »Germanisierung« verschleppter Kinder
8.2 Bundesrepublik: Weder Entschädigung noch Rehabilitierung

9. Fazit

Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Literaturhinweise
Personenregister

[20]2. Bausteine für eine Rassenideologie


2.1 »Minderwertige«


Der britische Naturforscher Charles Darwin legte 1859 mit seinem Buch Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder über die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein die Grundlagen der Evolutionsbiologie. Im »Kampf ums Dasein« konnten laut seinen Forschungsergebnissen nur diejenigen Arten erfolgreich überleben, welche den harten Prozess der natürlichen Auslese durch eine bestmögliche Anpassung an die Umwelt bestanden hatten. Darwins Werk erschien 1860 in deutscher Sprache. Seine in der Natur erkannten Gesetzmäßigkeiten erfuhren allerdings schon bald eine von ihm ganz unbeabsichtigte Übertragung auf die menschliche Gesellschaft.

Ein zunächst Mitte des 19. Jahrhunderts in französischer Sprache erschienenes Werk des französischen Diplomaten und Schriftstellers Arthur de Gobineau erschien zu Beginn des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache mit dem Titel: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Die Übersetzung hatte Richard Wagner angeregt. Gobineau ging von drei an ihrer jeweiligen Hautfarbe erkennbaren Grundrassen aus. Dominant unter diesen sei eindeutig die weiße Rasse. Sie gehe als Herrenrasse und Kulturbringer auf die Arier zurück, eine – nach Auffassung Gobineaus – geistig, politisch und kulturell überlegene Menschengruppe. Allerdings habe die arische Rasse sich bei der Unterwerfung fremder Völker zu stark mit diesen vermischt und deshalb ihre ursprüngliche »Rassenreinheit« samt ihrer Überlegenheit eingebüßt.

[21]Gobineau und der britische Naturforscher Francis Galton interpretierten Darwins »Kampf ums Dasein« als eine ständige Auseinandersetzung zwischen angeblich minder- und höherwertigen Menschenrassen. Beide Autoren befassten sich mit den vermeintlich negativen Auswirkungen von Rassenmischung und hielten eine Vergrößerung des Anteils positiver Erbanlagen bei Menschen durch Zucht für möglich. Galton beklagte, dass die natürliche Selektion wegen eines »Pseudo-Humanismus« in den Industriestaaten nicht mehr stattfinde. Die höhere Zahl von physisch und psychisch belasteten Kindern aus den von ihm als »minderwertig« angesehenen Bevölkerungsgruppen werde somit zwangsläufig eine Degeneration der menschlichen Rasse nach sich ziehen. Im Rahmen einer von ihm so bezeichneten »positiven Eugenik« müsse daher die Geburtenrate in den nachweislich »begabten« Familien erhöht werden. Maßnahmen einer »negativen Eugenik« sollten hingegen die Geburt »untauglicher« Kinder möglichst verhindern. Überlegungen zu »Verbesserungen« der menschlichen Rasse stellten auch deutsche Anthropologen, Ärzte und Soziologen an.

Der Mediziner Wilhelm Schallmayer veröffentlichte 1891 die Schrift Über die drohende körperliche Entartung der Culturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes. Die kulturelle Entwicklung – so sein Fazit – behindere die natürlichen Prozesse der Selektion. Aus diesem Grund müssten zum einen vor einer geplanten Ehe die erblichen Anlagen überprüft werden. Auf diese Weise ließe sich eine erbbiologisch unerwünschte Eheschließung – wie in einigen Staaten der USA und in Skandinavien bereits üblich – rechtzeitig verhindern. Zum anderen hielt [22]Schallmayer die Isolierung von Epileptikern, »Schwachsinnigen«, »gemeingefährlichen Irren« und Verbrechern in geschlossenen Anstalten für angebracht, um deren Fortpflanzung zu unterbinden.

Der Mediziner Alfred Ploetz machte 1895 in Deutschland die Bezeichnung »Rassenhygiene« als Synonym für »Eugenik« publik. Er hoffte, Ehepaare mit Verweis auf eine gefährdete Erbgesundheit ihrer Nachkommen zu einem freiwilligen Verzicht auf Alkohol und Nikotin bewegen zu können. Die meisten deutschen Rassenhygieniker hielten zu diesem Zeitpunkt bei vorliegender Erbkrankheit eine Eheberatung heiratswilliger Partner noch für ausreichend. Eine kleinere Gruppe unter ihnen hielt hingegen eine Kastration oder Sterilisation und bei einer erbbiologisch unerwünschten Schwangerschaft die Einleitung eines künstlichen Aborts für erforderlich. Eine erste Unfruchtbarmachung zur Vermeidung erblich belasteter Nachkommen führte 1897 der durch den »Kaiserschnitt« bekannt gewordene Heidelberger Gynäkologe Ferdinand Adolf Kehrer durch. Der Psychiater und Kriminologe Paul Adolf Näcke, ärztlicher Vorstand der »Anstalt für geisteskranke Männer« im Schloss Hubertusburg bei Leipzig, sah die Unfruchtbarmachung »gewisser Klassen von Degenerierten« als eine Pflicht des Staates an. Allerdings bedürfe es dazu aus Gründen der Rechtssicherheit noch eines entsprechenden Sterilisationsgesetzes.

Auf das gestiegene Interesse an Themen der Rassenhygiene reagierte Ploetz 1904 mit der Herausgabe der Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene. Die dort erscheinenden Beiträge umfassten die gesamte Bandbreite [23]des damaligen rassenhygienischen Spektrums. 1905 gründete er in Berlin die »Gesellschaft für Rassen-Hygiene«, die eine »Förderung der Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern« propagierte. Der Gesellschaft traten neben Ploetz der Biologe Erwin Baur, der Psychiater Ernst Rüdin und auch Schallmayer bei. Weitere Gruppen der Gesellschaft bildeten sich bald in Freiburg, München und Stuttgart.

Der Psychiater Emil Kraepelin veröffentlichte 1909 ein Lehrbuch für Psychiater. Geisteskrankheiten – so seine These – seien eindeutig auf Vererbung zurückzuführen. Eine Unterbringung der Betroffenen in Anstalten könne daher die Erblichkeit dieser Krankheit, wenn auch mit hohen Kosten, wenigstens eindämmen. Sein Schüler Rüdin hielt ebenfalls Geisteskrankheiten für vererbbar. Eine Mehrheit der deutschen Rassenhygieniker sah allerdings immer noch das Einverständnis der Betroffenen oder eines Vormunds als notwendige Voraussetzung für eine Sterilisation aus eugenischen Gründen an. Doch die Zahl der Befürworter einer Zwangssterilisation nahm zu, was wohl auch der generellen politischen und sozialen Radikalisierung in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zuzuschreiben war.

Der Dresdner Sozialhygieniker Rainer Fetscher führte 1919 nach eigener Aussage ohne Rücksicht auf die gesetzliche Situation in seiner Praxis elf Sterilisationen aus eugenischer Indikation durch. Auch er ging davon aus, dass Alkoholismus und Kriminalität erblich bedingt seien. Deshalb begann er, für eine »Kriminalbiologische Kartei des Freistaates Sachsen« »kriminelle Familien« zu erfassen. 1921 legten die Rassenhygieniker Eugen Fischer, Erwin Baur [24]und Fritz Lenz einen Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (Eugenik) vor. Um Rassenhygiene kam die Wissenschaft jetzt auch institutionell nicht länger herum. Deshalb richtete die Universität München 1923 den ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene in Deutschland ein, den Lenz erhielt. Auch er hatte vor, Erbkrankheiten durch Sterilisation zu verhindern.

Der Leiter der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses in Zwickau, Heinrich Braun, führte 1924 bei einem Mädchen und drei Jungen Sterilisationen aus eugenischer Indikation durch. Diese Eingriffe machte er mit Absicht der Öffentlichkeit bekannt. Selbst wenn eine Unfruchtbarmachung oder eine Unterbrechung der Schwangerschaft in Deutschland aus eugenischen Gründen gesetzlich bisher nicht geregelt sei – so argumentierte er –, dürfe ein »Schwachsinniger« operiert werden. Erforderlich sei lediglich, dass ein Arzt die Operation für notwendig erachte und die Einwilligung der Eltern oder der gesetzlichen Vertreter vorliege. Zu den Eingriffen hatte Braun der Zwickauer Medizinalrat Gustav Emil Boeters angeregt. Dieser gab an, bereits selbst 63 »Entartete« sterilisiert zu haben. Über diese Eingriffe sei die Staatsanwaltschaft vorher informiert worden, sei jedoch nicht dagegen eingeschritten. Offensichtlich – so seine Folgerung – habe es sich bei den Eingriffen also um kein Vergehen gehandelt. Um die unklare juristische Situation aber endlich zu beenden, forderte er ein Gesetz zur »Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen«.

Dazu entwarf Boeters einen Vorschlagstext, den er nach seinem Wohnort »Lex Zwickau« nannte. Durch Sterilisation – so lautete sein Vorschlag – solle die [25]Fortpflanzungsfähigkeit von Kindern, die wegen angeborener Blindheit, angeborener Taubheit, Epilepsie oder »Blödsinn« am Schulunterricht nicht mit Erfolg teilnehmen könnten, unterbunden werden. »Geisteskranke«, »Geistesschwache«, Epileptiker, Blind- und Taubgeborene in privaten oder öffentlichen Anstalten müssten vor einer Beurlaubung, spätestens aber vor ihrer Entlassung...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2024
Reihe/Serie Reclam Sachbuch premium
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Abtreibung • Adolf Hitler • Aufarbeitung • Auschwitz • Ausgrenzung • Ausschließung • Boykott • Bundesrepublik • Deporation • Der Anschluss Österreichs • Dritte Reich • Entgrenzung • Entschädigung • Euthanasie • Germanisierung • Gewalt • Gnadentod • Homosexualität • Homosexuelle • Josef Mengele • Judenhass • Judenverfolgung • Kinder • Kindermord • Kriegsbeginn • Minderwertige • Nationalsozialismus • Neuere Geschichte • Neueste Geschichte • Novemberpogrom • Nürnberger Rassengesetze • Opfer • Opferstatus • Parasitäres Judentum • Rassegut • Rassenhygiene • Rassenideologie • Rassenpolitik • Rassische Zucht • Rehabilitierung • Reinerhaltung des Blutes • Sinti Roma • Sonderbehandlung 14f13 • Sozialhygiene • Staatsfeind • Unbarmherzige Aussonderung • unwertes Leben • Verbrecherrasse Zigeuner • Verfolgung • Verfolgungsmaßnahmen • Vernichtung • Vernichtungslager • Vernichtungspolitik • verschleppte Kinder • Verschleppung • Wehrmacht • Widernatürliche Unzucht • Wiedergutmachung • Zigeunertum • Zwangssterilisation
ISBN-10 3-15-962239-8 / 3159622398
ISBN-13 978-3-15-962239-2 / 9783159622392
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