Brasilien brennt (eBook)

Reportagen aus einem Land im Aufbruch
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
296 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-8387-5620-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brasilien brennt -  Adrian Geiges
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Lange Jahre berichtete der Journalist Adrian Geiges aus China und Russland. Nun hat er das Land der Fußball-WM als neue Heimstatt gewählt: Brasilien, ein Land im Aufbruch. Geiges recherchiert hautnah. Er übernachtet in Indianerhütten am Amazonas, steht bei VW in São Paulo an der Werkbank, erlebt wilde Partys an der Copacabana und wohnt in einer Favela von Rio de Janeiro, einem Armenviertel, das zwischen Militärpolizisten und Drogengangs umkämpft ist. Doch Brasilien ist längst nicht mehr 'Dritte Welt'. In wenigen Jahren wird Brasilien einer der neuen Wirtschaftsriesen sein: Ein Gigant erwacht! Erwacht sind auch seine Bürger, die sich gegen korrupte Politiker erheben und ihre Rechte einfordern.

Deutschland, leb wohl


Hamburg, Anfang 2013. Zehn Zentimeter Neuschnee bedecken meine Terrasse, der Himmel ergraut. Draußen friert man sogar in langer Unterwäsche, die ich so gemütlich finde wie einen Stahlhelm. Der Umzugswagen kann vor dem Jugendstilbau nicht halten, weil ein Gerüst seit Wochen fünfzehn Parkplätze wegnimmt – gearbeitet wurde darauf noch keine Sekunde. Mein Nachmieter wartet auf seinen Vertrag, da der Zuständige in der Hausverwaltung krank ist und ihn keiner vertreten kann. Manchmal scheint mir, in Deutschland wird nur noch eines »erneuert«: Weniger Leute leisten mehr Arbeit. Zypern bricht das zweite Gebot der modernen europäischen Zivilisation, wonach der Staat die Spareinlagen sichert. Auf der toten Baustelle des Berliner Flughafens brennt Licht, weil niemand den Schalter findet, um es abzustellen. Zeit für mich, Europa zu verlassen und nach Brasilien aufzubrechen, in das Land der Fußballweltmeisterschaft 2014. Die größte Party der Welt wartet. Das Land errang fünf Mal den Weltmeistertitel, so oft wie kein anderes. 2014 feiert der brasilianische Fußballverband seinen 100. Geburtstag – als die WM für dieses Jahr vergeben wurde, bewarben sich andere Länder gar nicht erst, es war klar, wohin sie geht. Und mittlerweile ist Brasilien nicht nur im Fußball ein Riese: Auch in der Weltwirtschaft wächst seine Rolle in Riesenschritten. Kein Wunder, bei diesen Dimensionen: Brasilien ist 24-mal so groß wie Deutschland, erstreckt sich über eine größere Fläche als die Europäische Union. 200 Millionen Menschen leben dort, so viele wie in Russland, Kanada und Australien zusammengenommen. Da will ich hin! Jogi und die Jungs kommen nach, ich gehe schon mal vor.

Die Fußball-WM verteilt sich auf zwölf Städte, kennenlernen will ich sie alle, leben aber in Rio de Janeiro. Nicht nur, weil dort das Finale gespielt wird. Meine Expedition in den Süden soll Spaß bringen, und ich verbinde mit Rio Sonne, Strand und Karneval, wie wohl jeder. Obendrein ist Rio auch noch die Stadt der Olympischen Sommerspiele 2016, und die bewegen mehr in einer Stadt als nur den Sport. Das habe ich 2008 in Peking erlebt.

Erst vor vier Jahren kehrte ich aus China in die Heimat zurück – und staunte, wie viele Standuhren im angeblich so perfekten Deutschland ihrem Namen zur Ehre gereichen. Leider sind nicht nur die Uhren stehen geblieben, sondern auch die Zeit. Den Europäern ist lediglich das Selbstbewusstsein geblieben, am wohlhabendsten, sozialsten und umweltfreundlichsten zu sein – ein Selbstbewusstsein, das immer weniger durch Fakten gestützt wird. Zwar zehren wir noch von Erbschaften aus besseren Zeiten, doch die schmelzen zusammen. Denn die Ehrgeizigen, Mutigen und Schnellen leben anderswo. Zum Beispiel in Peking und Shanghai. Das habe ich zehn Jahre lang als Korrespondent des Stern und als Geschäftsführer von Gruner + Jahr dort erlebt.

Aber gilt das auch für Brasilien? Gemeinsam mit Russland, Indien und China zählt es zu den aufstrebenden BRIC-Staaten, manchmal mit Südafrika erweitert zu BRICS. Vierzig Prozent der Erdbevölkerung leben in diesen fünf Ländern. 2012 hat Brasilien Großbritannien überholt und ist zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen, Frankreich, der Nummer fünf, folgt es dicht auf den Fersen. Goodbye, British Empire, au revoir, Grande Nation! Auf Platz vier liegt Deutschland – noch. Bereits jetzt produziert kein anderes Land so viele Lebensmittel wie Brasilien. Es baut den meisten Kaffee und das meiste Zuckerrohr an und ist weltweit der größte Exporteur von Rindfleisch. Während uns Brasilien mit Essen versorgt, ist China die Werkbank der Welt – und zunehmend auch die Bank der Welt, besonders für die Amerikaner, denn der Volksrepublik gehört ein Großteil ihrer Staatsanleihen. Aber auch bei Brasilien, einst selbst stark verschuldet, stehen die USA bereits mit 335 Milliarden Dollar in der Kreide. Gas, Gold, Öl und Eisen bereichern Russland, auch dort arbeitete ich sechs Jahre, unter anderem als Korrespondent von Spiegel TV. Indien spielt bei Computern vorne mit, doch wer wie ich dort mit stundenlangen Wartezeiten an Flughäfen eincheckte, der wünscht sich, die Software wäre nicht nur für den Export bestimmt.

»Vierzig Millionen Brasilianer sind in den letzten acht Jahren der Armut entwachsen und in den Mittelstand aufgestiegen«, sagt mir in einem Vorgespräch Paulo Gustavo de Santana, Pressesprecher der brasilianischen Botschaft in Berlin. Doch spricht ein Diplomat nicht von Amts wegen gut über sein Land? Der Geo-Fotograf Michael Ende ist ein Weltenbummler wie ich, lebt seit fast dreißig Jahren in Brasilien und unterrichtet jetzt auch in China, geht also den umgekehrten Weg. Wir treffen uns in Bielefeld, weil das irgendwie auf halber Strecke liegt. Er spottet: »Brasilien war das Land der Zukunft, ist das Land der Zukunft und wird das Land der Zukunft bleiben.« Michael spielt an auf das 1941 erschienene Buch Brasilien. Ein Land der Zukunft des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig. Er war vor den Nazis nach Brasilien geflohen und sah dort das Modell für ein friedliches Zusammenleben der Rassen. Erst nachdem das Buch erschienen war, merkte er: Auch dort bestand der Rassismus unterschwellig weiter, der damalige brasilianische Diktator Getúlio Vargas hatte seine Naivität ausgenutzt. Im Februar 1942 nahm sich Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Michael möchte mit diesem Vergleich sagen, auch heute sei es mit den Veränderungen nicht so weit her. Doch verliert man vielleicht manchmal den Blick auf das Neue, wenn man lange in einem Land lebt und von diesem oder jenem im Alltag genervt ist? Ich will mir in Brasilien ein eigenes Urteil bilden.

Freunde und Kollegen reagieren begeistert, manche aber auch verwundert: Wie, von heute auf morgen Wohnung und Versicherungen auflösen und von den Colonnaden, wo ich in Hamburg gewohnt habe, an die Copacabana umziehen? Noch sind wir mehr darauf dressiert, nur dann woanders hinzugehen, wenn uns eine Firma entsendet und im Zweifel noch ein Coaching bei einem Sozialklempner bezahlt. So lange wollte ich nie warten, auch in Moskau und Peking fing ich an, indem ich mir selbst einen Sprachkurs buchte und dann langsam eine Existenz aufbaute – für mich die beste Art, ein anderes Land kennenzulernen.

Im Internet vergleiche ich verschiedene Portugiesisch-Sprachschulen in Rio. Im Preis-Leistungs-Verhältnis am besten erscheint mir Casa do Caminho, wörtlich »Haus am Weg«, nahe dem Strand von Ipanema, mit einer Kursgebühr von umgerechnet etwas mehr als 300 Euro pro Monat. Was meine Sympathie weckt: Betrieben wird die Schule von Freiwilligen, die 42 Kilometer von Rio entfernt ein Waisenhaus für vierzig Kinder unterhalten, die Opfer von Gewalt, Missbrauch und Armut wurden. Der Reinerlös fließt dorthin.

Als Unterkunft bietet die Schule – natürlich gegen Extrakosten – einen Homestay an, also Leben bei einer Gastfamilie. Ich bin begeistert, so kann ich das brasilianische Portugiesisch praktizieren und Menschen kennenlernen. Das wird mir auch erleichtern, in Rio eine Wohnung zu finden, wenn ich vor Ort bin. Denn von Deutschland aus habe ich nur Angebote bekommen, die auf ihre Art von Brasiliens Boom zeugen. Der Andrang von Geschäftsleuten, Fußballfans und Karnevalisten hat zu einem eigenen Business geführt: Apartments für Ausländer einrichten und zu einem astronomischen Preis vermieten. Den Fotos nach zu urteilen, die ich per E-Mail bekomme, bieten sie eine gute Aussicht, sind geschmackvoll bis kitschig eingerichtet, und die Betten sind sogar schon bezogen. Doch kann ich das nicht günstiger selbst tun?

Die Sprachschule schlägt mir zur Auswahl zwei »Familien« vor, die eigentlich Einzelpersonen sind: Davi, einen 21-jährigen Studenten, und Erica, eine 39-jährige Assistentin, wie es heißt. Ich entscheide mich für Erica. Wahrscheinlich beeinflusst mich auch, dass sie, wie ihr Bild zeigt, eine gut aussehende Frau ist – sie zeigt sich darauf allerdings mit einem Mann, der ihr den Arm um die Schultern legt. Ihr Freund oder ein ehemaliger Student? Wichtiger ist ohnehin: Davi erweckt in seinem Vorstellungstext den Eindruck, es gehe ihm vor allem darum, Fremdsprachen kennenzulernen. Ich aber will mein Portugiesisch praktizieren. Erica erwähnt ihr Interesse für Rios Geschichte und ihre Kontakte zur Kunstszene. Das passt gut. Überhaupt kann sie als erwachsene Frau, die mitten im Leben steht, wohl besser vom Wandel in Brasilien erzählen, über den ich mehr wissen will.

Wir chatten auf Skype.

»Ich bin in Rio geboren und aufgewachsen, aber ich bin kein typisches Rio-Girl«, schreibt Erica. »Als ich 14, 15 war, verbrachte ich etwas Zeit in der Schweiz und lernte dort Französisch. Das hat meine Persönlichkeit beeinflusst.«

Ich antworte: »Interessant. In welcher Hinsicht entsprichst du nicht den Stereotypen von Rio?«

»Die Leute denken, wir sind große Fußballfans, tanzen im Karneval und liegen im knappen Bikini am Strand – auf mich trifft nichts davon zu. Auch schütze ich meine Privatsphäre sehr.«

»Kein Problem, ich habe in China gelebt, wo dir Menschen sehr wenig über ihre privaten Gefühle erzählen, wenn sie dich nicht gut kennen. Ich bin sicher, im Vergleich zu denen gehst du richtig aus dir heraus. Erzähle mir etwas über deine Arbeit.«

»Meine? Verglichen mit deiner?! Ich habe den langweiligsten und stumpfsinnigsten Job der Welt.«

»Aha, was machst du genau?«

»Ich arbeite in einem Unternehmen, das fünf Prozent der Einnahmen aller Industriebetriebe von Rio erwirtschaftet, mit Öl und Autos. Mit diesem Geld werden Schulen, Ärzte, Zahnärzte, Sport und andere Angebote...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2014
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • aktuell • Aktuelles Zeitgeschehen • Argumente • Armut • Culture Clash • Debatte • Diskussion • Ereignisse • Favelas • Gegenwart • geschehen • Gesellschaft • Kontroverse • Not • Olympia • Olympia 2016 • Olympiade • Olympiade 2016 • Politik • Politik und Gesellschaft • politisch • pro und contra • Rio • Rio 2016 • Rio de Janeiro • Roussef • Rousseff • Südamerika • Zika • Zika-Virus
ISBN-10 3-8387-5620-7 / 3838756207
ISBN-13 978-3-8387-5620-2 / 9783838756202
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99