Diagnose: Judenhass (eBook)

Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
279 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75590-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Diagnose: Judenhass -  Eva Gruberová,  Helmut Zeller
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Bis vor wenigen Jahren hieß es in Deutschland stets, jüdisches Leben sei ein selbstverständlicher Teil der Normalität. Aber spätestens nach dem Überfall auf die Synagoge in Halle 2019 und der massiven Ausbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen in der Corona-Krise bekam dieses Bild tiefe Risse. Was erleben Jüdinnen und Juden in ihrem Alltag in Deutschland?

Eva Gruberová und Helmut Zeller sind durch Deutschland gereist und haben zugehört — von Rostock über Berlin bis Dortmund und nach München, mit einem Abstecher nach Wien. Dabei zeigt sich, dass Juden hierzulande kein normales Leben führen können, es sei denn, man hält Polizei und Sicherheitszäune vor jüdischen Kindergärten, Brandanschläge auf Synagogen, Hakenkreuze auf Schulbänken, »Jude« als Schimpfwort auf dem Pausenhof, antisemitische Klassenchats, zerstörte Grabsteine, perfide Witze, Hitlergrüße und Schüler-Selfies an KZ-Gedenkstätten für etwas, das zur deutschen Normalität gehört. Juden sind nicht erst seit Halle, sondern seit Jahrzehnten Ziel rechtsextremer Angriffe und Mordanschläge. Sie erleben Übergriffe und Anfeindungen auch aus muslimisch geprägten Milieus, die oft selbst unter Rassismus leiden. Was aber viele nicht sehen: Antisemitismus kam und kommt aus der »bürgerlichen Mitte«. Die Reportagen, Interviews und Analysen machen sichtbar, dass der Judenhass tief in der Gesellschaft verwurzelt ist — und uns alle angeht.

Eva Gruberová arbeitet als Autorin und freie Journalistin; sie ist Referentin in der KZ-Gedenkstätte Dachau und leitet Workshops zur NS-Geschichte, Rechtsextremismus und Antisemitismus für Jugendliche am Max-Mannheimer-Studienzentrum.

Helmut Zeller leitet seit vielen Jahren die Dachauer Redaktion der »Süddeutschen Zeitung«.

Vorwort
1. Das Kröpelin-Syndrom: Über das Schweigen und die Gewalt von rechts
2. Ein politisches Minenfeld: Antisemitismus unter Muslimen
3. «Sie verstehen nicht, was das Land für uns bedeutet»: Wie israelbezogener Antisemitismus Juden in Deutschland belastet
4. Der Krankheitsherd: Erkundungen in der gesellschaftlichen Mitte
Anmerkungen
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis

2. Ein politisches Minenfeld: Antisemitismus unter Muslimen


Demonstrationen gegen Israel und Versatzstücke des uralten Antijudaismus

Angst vor einer Zunahme des Judenhasses


Als Josef Schuster mit seinem Redebeitrag fertig ist, schweigt die Runde im Kanzleramt betreten. Bundeskanzlerin Angela Merkel macht sich eine Notiz und versichert: «Darum müssen wir uns jetzt kümmern.» So erzählt es ein Teilnehmer des Treffens am 29. September 2015 ein paar Tage später einem Journalisten der Welt. Vertreter von Verbänden, Kirchen, Stiftungen, Wirtschaft und Kommunen informierten Angela Merkel über ihre Erfahrungen mit der Integration von Geflüchteten. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnte eindringlich vor einer Zunahme des Antisemitismus: Die Geflüchteten müssten so schnell wie möglich in unsere Wertegemeinschaft integriert werden. Zwei Wochen vor dem Kanzleramtstreffen veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Gastbeitrag des Historikers Michael Brenner. Israel gelte in den Herkunftsländern der meisten Geflüchteten als «Satan unter den Nationen», deren Eliten verteufelten oft die Juden, schrieb der Professor für jüdische Geschichte in München und Washington. Er verwies auf eine Umfrage der Anti-Defamation League, der zufolge die Mehrheit in Ländern des Nahen Osten glaubt, dass Juden zu viel Macht hätten, für die meisten Kriege in der Welt verantwortlich und am Antisemitismus selbst schuld seien. Der Anlass der Debatte: Bundeskanzlerin Merkel hatte Anfang September die Geflüchteten, die in Ungarn festsaßen, an der deutsch-österreichischen Grenze nicht zurückweisen lassen, da eine humanitäre Katastrophe drohte. Bis zum Jahresende kamen über das Nachbarland 890.000 Asylsuchende. Diese Entscheidung spaltet Deutschland bis heute. Waren laut einer Umfrage im September 2015 noch zwei Drittel der Befragten dafür, dass Deutschland weiter genauso viele Geflüchtete aufnimmt, fürchteten Ende 2016 schon 60 Prozent der Bundesbürger, dass die Ausgaben zu Einsparungen in anderen Bereichen führen würden. Jeder zweite erwartete eine Zunahme der Kriminalität. Am 19. Dezember 2016 raste der islamistische Terrorist Anis Amri mit einem Lastwagen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in die Menge und tötete zwölf Menschen. Das war die Stunde der Rechtspopulisten. Die Asylsuchenden lernten den hässlichen Deutschen kennen. Er hielt statt einem Willkommenstransparent eine Brandflasche in der Hand und brüllte «Merkel muss weg!», «Wir sind das Volk!» und «Deutschland den Deutschen!»

Auch unter Juden und Jüdinnen in Deutschland wurde die Aufnahme vieler Geflüchteter kontrovers diskutiert – aber aus einem anderen Grund. Auf unseren Reisen quer durch das Land trafen wir viele, die Geflüchteten halfen und noch heute helfen. Wir sprachen auch mit solchen, die ihnen misstrauisch bis ablehnend gegenüberstehen. Deren Ängste sind verständlich. Selbst wenn unter den mittlerweile 1,8 Millionen Geflüchteten (bis 31. Dezember 2019 hatten davon 1,4 Millionen einen anerkannten Schutzstatus) nur ein Teil antisemitisch eingestellt ist, kann man das weder ignorieren noch mit Hinweis auf den Antisemitismus hierzulande kleinreden. Seit Halle und Hanau steht zu Recht der rechtsextreme Terror im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, von Judenhass unter Islamisten ist jedoch kaum mehr zu hören und zu lesen. Überhaupt ist das Thema Migration und Integration in der Corona-Pandemie in den Hintergrund getreten. Doch ist deshalb das Problem nicht verschwunden.

Juden in Deutschland und Europa erinnern sich noch lebhaft an die antisemitischen Ausschreitungen während der Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg im Sommer 2014. «Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf’ allein!», schrien pro-palästinensische Demonstranten am Kürfürstendamm in Berlin. Der salafistische Imam Abdallah Khalid predigte in der Neuköllner Al-Nur-Moschee: «Oh Gott, übernimm die Angelegenheiten der zionistischen Juden, denn sie werden sich dir nicht entziehen! Verringere ihre Zahl und töte sie, einen nach dem anderen!»[1] In Gelsenkirchen warfen Unbekannte eine Fensterscheibe der Synagoge mit einem Gully-Deckel ein. In Bochum, Dortmund und München waren bei den Demos Rufe wie «Hamas, Hamas, Juden ins Gas» zu hören. In Frankfurt am Main skandierte die Menge die Parole «Kindermörder Israel» sogar über Polizei-Lautsprecher. Monty Ott, den wir im Herbst 2018 in der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover treffen, erzählt uns, wie schockiert er war, als er mitten in der Stadt eine Demonstration mit etwa 10.000 Menschen sah. «Die Teilnehmenden waren ziemlich divers. Am stärksten vertreten waren jedoch Demonstranten mit Türkei-Flaggen, es gab aber auch welche von der Partei Die Linke. Viele hielten Schilder hoch, auf denen die Shoah geleugnet oder verharmlost wurde, der Davidstern durchgestrichen war und Netanyahu mit Hitler gleichgesetzt wurde. Das hat mich angewidert», sagt er. Zusammen mit vier anderen entschied sich der damals 23-Jährige zum Gegenprotest. Ein paar Meter abseits hielten sie Israel-Flaggen hoch. Es vergingen keine fünf Minuten, schon stürmten die ersten Demonstranten auf sie los, einem gelang es, sie über die Polizeikette hinweg mit einem Karatesprung anzugreifen.

«Wir erleben gerade eine Explosion an bösem und gewaltbereitem Judenhass, die uns alle schockiert und bestürzt», erklärte der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann. «Dass auf deutschen Straßen antisemitische Aufrufe der übelsten und primitivsten Art skandiert werden können, hätten wir niemals im Leben mehr für möglich gehalten.» Als Reaktion auf die judenfeindliche Welle ließ der Berliner Senat im Januar 2015 die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) gründen. Aber es ist nicht nur Berlin. Menachem Mendel Gurewitz, Rabbiner in Offenbach am Main, erzählte 2017 dem Spiegel, dass kaum eine Woche vergehe, in der er selbst oder seine Söhne nicht beleidigt würden. Mal sei es ein leise gezischtes «Jude», mal ein laut gebrülltes «Scheißjude», manchmal spuckt einer vor ihnen auf der Straße aus.[2] In Offenbach stammen 60 Prozent der Einwohner aus eingewanderten Familien.

Im April 2018 schlug ein 19-jähriger syrischer Asylsuchender im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg auf einen drei Jahre älteren, Kippa tragenden Israeli mit seinem Gürtel ein und schrie dabei «Yahudi» – «Jude» auf Arabisch. Das Opfer filmte den Angriff mit seinem Handy, das Video gelangte in die Medien. Auch in diesem Fall versagte die Justiz. Der Täter wurde im Juni 2018 vom Amtsgericht Tiergarten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einem vierwöchigen Dauerarrest verurteilt, ein antisemitisches Motiv, das zur Strafverstärkung geführt hätte, wurde nicht festgestellt.[3] Dieser Vorfall vor allem rückte den Antisemitismus unter Geflüchteten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern sowie dem Nahen und Mittleren Osten in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. In der aufkommenden Debatte aber ging es weniger um Fragen der Integration in unsere Wertegemeinschaft, wie Josef Schuster das gefordert hatte, sondern um Schuldzuweisungen. Nicht nur die AfD protestierte scheinheilig gegen einen «neuen» Antisemitismus von muslimischer Seite. Auch Politiker anderer Parteien griffen das Wort vom «importierten» Antisemitismus auf und folgten dem üblichen Reflex, den Antisemitismus immer bei den anderen zu sehen. CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn, der heutige Bundesgesundheitsminister, twitterte im Dezember 2017: «Wehret den Anfängen. Wir schauen importiertem Antisemitismus aus falsch verstandener Toleranz schon viel zu lange achselzuckend zu.» Oder sein Parteifreund Friedrich Merz. Am 27. Januar 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, verurteilte der Spitzenpolitiker auf Twitter den Antisemitismus, der nach seiner Auffassung überwiegend von rechts komme wie auch «durch die Einwanderung 2015/16.» Kein Wort von der deutschen Schuld an Auschwitz, keine Scham und keine Erwähnung, dass jeder vierte Deutsche laut Umfragen antisemitische Gedanken hegt.

Nach dem Überfall am Prenzlauer Berg gingen in mehreren Städten Menschen auf die Straße, um ihre Solidarität mit Juden und Jüdinnen zu zeigen. In der Hauptstadt versammelten sich im April 2018 unter dem Motto «Berlin trägt Kippa» ungefähr 2500 Demonstranten. Aufgerufen dazu hatte aber nicht etwa die Zivilgesellschaft, sondern die Jüdische Gemeinde selbst. Der jüdische Rapper Ben Salomo war nur mäßig begeistert, wie er uns bei einem...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Reihe/Serie Beck Paperback
Zusatzinfo 4 Abb.
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alltag • Analysen • Anfeindung • Antisemitismus • Deutschland • Interviews • Islam • Islamismus • Juden • Judenfeindschaft • Judenhass • Judentum • Linksextremismus • Normalität • Österreich • Rassismus • Rechtsextremismus • Religion • Reportagen • Schimpfwort • Übergriffe • Verschwörungsmythen
ISBN-10 3-406-75590-9 / 3406755909
ISBN-13 978-3-406-75590-3 / 9783406755903
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