Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen (eBook)

Regieren in den Fallstricken des Szientismus
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
293 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45109-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen -  Richard Münch
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»Evidenzbasiertes« Regieren anhand von Statistiken ist schon immer ein Kennzeichen des modernen Staates. Der politisch-administrative Umgang mit der Corona-Pandemie, der von Inzidenzwerten des Infektionsgeschehens bestimmt ist, und zuvor schon die »datengetriebene« Bildungspolitik, insbesondere seit Einrichtung des Programme for International Student Assessment (PISA) der OECD im Jahr 2000, haben diese Praxis auf ein neues Niveau gehoben. Richard Münch zeigt, inwieweit diese Art des Regierens die Wissenschaft für die eigenen Legitimationszwecke instrumentalisiert, wie sie zu einer politisch-administrativen Kontrolle über alle Sektoren der Gesellschaft führt und wie sie sich in den Fallstricken des Szientismus verfängt. Zahlen und Modellrechnungen erzeugen - so die These - einen Schematismus des Entscheidens, der die Komplexität der konkreten Wirklichkeit verfehlt, sodass die gesetzten Ziele nicht erreicht werden und unerwünschte Nebenfolgen auftreten.

Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.

Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.

1.Einleitung: Evidenzbasiertes Regieren durch Zahlen


Der politisch-administrative Umgang mit der Corona-Pandemie der Jahre 2020–2022 bringt eine Regierungsweise auf den Punkt, die sich schon länger in Entwicklung befindet. Es ist das wissenschaftlich fundierte, »evidenzbasierte« Regieren durch Zahlen (vgl. Porter 1995; Desrosières 2008a, 2008b, 2014; Vormbusch 2012). Hier sind es die sogenannten Inzidenzwerte des Infektionsgeschehens. Dieses Regieren soll ermöglichen, Probleme »ideologiefrei« und rein sachorientiert zu lösen. Die Protagonisten dieser Entwicklung sehen darin einen großen Fortschritt in der Bewältigung kleinerer und größerer Probleme bis hin zu Menschheitsproblemen wie dem Klimawandel und eben der Bewältigung einer gefährlichen Pandemie. Von der Fundierung politischer Entscheidungen in wissenschaftlich generierten und von Experten interpretierten Daten verspricht man sich eine Steigerung ihrer Rationalität, ihres Reflexionsniveaus, ihrer Effizienz und Effektivität. Es gibt aber auch entschiedene Gegner dieser Entwicklung, die in ihr eine gefährliche Tendenz zur Einschränkung von Demokratie und Rechtsstaat erkennen, weil evidenzbasiertes Regieren kollektiv verbindliche Entscheidungen als »alternativlos« der demokratischen Willensbildung entzieht und damit das Grundrecht der politischen Partizipation empfindlich einschränkt und darüber hinaus im Interesse des Gemeinwohls auch in weitere Grundrechte eingreifen kann.

In der aktuellen Corona-Politik treffen die beiden, einander entgegengesetzten Positionen des expertokratischen und demokratischen Regierens in aller Härte und Unversöhnlichkeit aufeinander. Dazu kommt noch, dass das »ideologiefreie« evidenzbasierte Regieren in seinem Steuerungswillen auf eine mehrfach tief gespaltene Gesellschaft trifft, in der die intendierte Sachlichkeit der Politik, die von allen Bürgern als die bestmögliche anerkannt werden soll, Gräben aufreißt und vorhandene gesellschaftliche Polarisierungen noch weiter verschärft. So stößt auch die evidenzbasierte Corona-Politik mit Inzidenzwerten des Infektionsgeschehens nicht auf ungeteilte Zustimmung, sondern wirkt sogar ganz anders als intendiert als Brandbeschleuniger der gesellschaftlichen Polarisierung. In der Notlage der Pandemie erkennen wir wie unter einem Brennglas, wie das Regieren durch Zahlen demokratische Entscheidungsverfahren aushebelt und darunter die Legitimität der politischen Entscheidungen im Sinne ihrer breiten Akzeptanz unabhängig von den politischen Präferenzen leidet. Der Legitimitätsverlust des politischen Entscheidens ist das Ergebnis der zunehmenden Überlagerung der Demokratie durch eine spezifische Art der Expertokratie. Die Durchleuchtung dieses Vorgangs ist die Aufgabe der hier vorgelegten soziologischen Analyse der Corona-Pandemie.

Die Gesundheit der Bevölkerung ist nur ein Sektor der Gesellschaft, in dem sich die Eigenart der Regierung der Bevölkerung mittels Zahlen beobachten lässt. Ein zweiter Sektor, in dem sich diese Art des Regierens weltweit ausgebereitet hat, ist die Bildung. Hier handelt es sich allerdings nicht wie bei der Bewältigung der Pandemie um ein Regieren in einer Notlage, in der unmittelbar der mit der Überlagerung der Demokratie durch eine spezifische Art der Expertokratie einhergehende Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen sichtbar wird. Es geht hier mehr um eine langfristige Transformation der Bildungswirklichkeit durch das Regieren der Bildung mittels Zahlen, die sich schleichend und ohne große politische Auseinandersetzungen vollzieht. Gleichwohl zeigt sich auch hier, wie demokratisches Entscheiden zunehmend durch expertokratisches Regieren überlagert wird und ein Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen eintritt. Das genau zu erfassen, ist die zweite Aufgabe, die es hier zu bewältigen gilt.

Die Förderung der Bildung ist im Zuge der neuen ökonomischen Wachstumstheorie zur zentralen Regierungsaufgabe geworden. Die Regierung soll darauf zielen, das Humankapital in größtmöglicher Menge und bestmöglicher Qualität zu generieren, das in der wissensbasierten Ökonomie bzw. Wissensgesellschaft der Gegenwart benötigt wird, um Wettbewerbsfähigkeit, ökonomisches Wachstum und Wohlstand nachhaltig zu garantieren (vgl. Becker 1964/2009; OECD 1996, 1999; Rindermann 2018). Über diese ökonomische Seite hinaus, soll bestmögliche Bildung für alle auch die Teilhabe aller am produzierten Wohlstand sicherstellen. Je mehr die Menschen durch die Entwicklung ihrer Kompetenzen befähigt werden, sich ohne weitere Hilfe auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, umso weniger wohlfahrtsstaatlicher Ausgleich ist erforderlich, um allen Menschen ein Leben im Wohlstand zu ermöglichen. Im Rahmen dieser Programmatik wird der Wohlfahrtsstaat durch den Wettbewerbsstaat abgelöst, der im internationalen Wettbewerb darauf zielt, Humankapital durch Bildung zu generieren und durch selektive Zuwanderung zu gewinnen, um für die eigene Bevölkerung den größtmöglichen Anteil am weltweiten Wohlstand zu erreichen (vgl. Cerny 1997; Hirsch 1995; Münch 2012). Das Ergebnis dieser Entwicklung ist nach der von Adam Smith (1776/1952) begründeten Theorie des Wohlstands der Nationen eine wachsende, allen einbezogenen Ländern Vorteile bietende internationale Arbeitsteilung. Diese Entwicklung mündet aber auch in eine globale Wettbewerbsgesellschaft, in der die individuelle Selbstbehauptung Vorrang vor aller kollektiven, in der Regel eben auch partikularistischen Solidarität hat. Das impliziert eine abnehmende Ungleichheit zwischen den wettbewerbsfähigen Nationen und eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Nationen (vgl. Münch 2016). Um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Bevölkerung einschätzen und verbessern zu können, benötigen Regierungen Daten über die Effekte bildungspolitischer Maßnahmen auf das Qualifikationsniveau der eigenen Bevölkerung im internationalen Vergleich. Diese Nachfrage nach Daten wird in zunehmendem Maße durch ein immer umfassenderes nationales und internationales Bildungs-Monitoring befriedigt. Auch in der Bildungspolitik setzt sich demnach immer mehr das Regieren mittels Zahlen bzw. Daten und Evidenzen durch. Größte Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die international vergleichende Bildungsstatistik der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) mit Sitz in Paris erlangt. Mit dem Programme for International Student Assessment (PISA) stellt die OECD seit 2000 alle drei Jahre ein Zahlenwerk zu den Basis-Kompetenzen der fünfzehnjährigen Schüler und Schülerinnen in der jeweiligen Landessprache, in Mathematik und Naturwissenschaft bereit, anhand dessen die zuletzt 2018 insgesamt 79 teilnehmenden Länder bzw. Volkswirtschaften ermitteln können, in welcher Position sie sich im internationalen Wettbewerb befinden.

Es sind diese beiden Sektoren der Gesundheit und der Bildung, anhand derer hier die Eigenart des Regierens durch Zahlen durchleuchtet werden soll. Dazu gehört auch, dass dieses Regieren in einem doppelten Sinn im internationalen Wettbewerb stattfindet. Zum einen geschieht das im primären ökonomischen Wettbewerb um die Entwicklung und den Absatz von Gütern und Dienstleistungen zur Steigerung von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand durch eine gesunde und gebildete Bevölkerung. Zum anderen erfolgt es im sekundären symbolischen Wettbewerb um die Erfüllung von Standards, die von globalen Instanzen als verbindlich definiert und von Experten zur Beurteilung der Gesundheit und Bildung von Bevölkerungen verwendet und in Rankings umgesetzt werden (vgl. Heintz & Werron 2011; Mau 2017; Ringel & Werron 2019; Ringel, Brankovic & Werron 2020). Rankings tragen maßgeblich dazu bei, dass die Zahlen eine Realität sui generis bilden, wie die Mikroben von Louis Pasteur zu »Aktanten« in einem Geschehen wurden, dem sich niemand entziehen kann (vgl. Latour 1988, 2005). Ähnlich wie beim Warenwert nach Marx Theorie des Warenfetischismus wird ihre immer auch anders mögliche gesellschaftliche Konstruktion verkannt. Sie erscheinen als natürlich gegeben, sodass sie umso uneingeschränkter ihre Herrschaft über die Menschen ausüben können (Marx 1867/1970, S. 85–98).

Die »gesellschaftliche Konstruktion« der Pandemie-Wirklichkeit impliziert nicht, dass es keine realen Infektionen hinter den gemessenen Inzidenzen gibt (vgl. Berger & Luckmann 1969). Auch hinter der gesellschaftlich konstruierten Bildungswirklichkeit stehen real mehr oder weniger wissende und kompetente Menschen. »Gesellschaftlich konstruiert« ist immer nur die...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte bildungsdaten • Bildungspolitik • Corona • Corona-Pandemie • Demokratie • evidenzbasiertes Regieren • expertokratie • Gesundheitspolitik • Governance • Internationaler Wettbewerb • Inzidenzen • Kritik • Pandemie • Paternalismus • Pisa • Regierung von Gesundheit und Bildung • Sozialwissenschaft • Soziologie • Szientismus
ISBN-10 3-593-45109-3 / 3593451093
ISBN-13 978-3-593-45109-1 / 9783593451091
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