Die kranke Frau (eBook)

Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30128-1 (ISBN)

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Die kranke Frau -  Elinor Cleghorn
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Von den antiken Anfängen der Medizin bis in die Gegenwart, von der »wandernden Gebärmutter« bis zur Entdeckung von Autoimmunerkrankungen und Endometriose: Die englische Feministin Elinor Cleghorn präsentiert eine bahnbrechende und aufwühlende Kulturgeschichte über das Verhältnis von Frauen, Krankheit und Medizin. Elinor Cleghorn, selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erkrankt, hat sich nach einer nervenaufreibenden Diagnose-Odyssee auf die Suche nach den Wurzeln der patriarchalen Mythen begeben, die unsere westliche Medizin bis heute prägen. Anhand einer Fülle von historischem Material rekonstruiert sie, wie stark die Medizin als Wissenschaft und Institution von kulturellen und gesellschaftspolitischen Umständen beeinflusst ist. Denn die Tatsache, dass Frauen als das schwächere Geschlecht galten und auf die soziale Aufgabe der Mutterschaft reduziert wurden, formte auch den medizinischen Blick auf Frauen und Weiblichkeit über die Jahrhunderte. Von der »wandernden Gebärmutter« über die »Hysterie« bis hin zum sich nur äußerst langsam wandelnden Verständnis für Menstruation und Menopause - all diese Diagnosen und Entwicklungen zeugen von einer männlich geprägten, nicht selten sexistischen Medizin. Feminist:innen erheben seit Langem ihre Stimme gegen diesen patriarchalen Zugriff auf ihren Körper und kämpfen für eine bessere Aufklärung über weibliche Gesundheit. Wer verstehen will, warum dieser Kampf wichtig und notwendig ist, findet in Elinor Cleghorns augenöffnendem Buch die Antwort.

Elinor Cleghorn ist promovierte Kulturhistorikerin und Feministin. Sie arbeitete an einem medizinisch-geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekt der Universität Oxford, ehe sie motiviert durch persönliche Erfahrungen mit der Recherche zu »Die kranke Frau« begann. Heute lebt und arbeitet sie als Autorin in Sussex.

Elinor Cleghorn ist promovierte Kulturhistorikerin und Feministin. Sie arbeitete an einem medizinisch-geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekt der Universität Oxford, ehe sie motiviert durch persönliche Erfahrungen mit der Recherche zu »Die kranke Frau« begann. Heute lebt und arbeitet sie als Autorin in Sussex. Dr. Anne Emmert, (1965-2024) promovierte Anglistin und Amerikanistin, übersetzte Sachbücher und erzählende Texte aus dem Englischen, u. a. Ayaan Hirsi Ali, Christopher Hitchens, Garri Kasparow, Kitty Kelley, Nelson Mandela, Ewan McGregor und Michael Moore. Für ihre Arbeit wurde sie 2024 mit dem Übersetzerpreis "Rebekka" ausgezeichnet. Judith Elze ist in Italien aufgewachsen, hat Sprachen studiert und lange im Kulturbereich gedolmetscht. Heute lebt und arbeitet sie im Kaiserstuhl als Übersetzerin englischer, italienischer und russischer Literatur.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Vom antiken Griechenland bis ins 19. Jahrhundert


Kapitel 1

Gebärmutter auf Wanderschaft


Vor vielen Jahrhunderten erkrankte auf der griechischen Insel Kos ein Mädchen. Sie war seltsam schwach, die Brust fühlte sich schwer und eng an. Bald bekam sie Schüttelfrost, das Herz tat ihr weh, schreckliche Halluzinationen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie irrte durch die Straßen und wollte sich, gequält von innerer Glut und Pein, schon das Leben nehmen. Sich in einen Brunnen zu stürzen oder an einem Baum aufzuhängen wäre eine Wohltat gewesen, verglichen mit den Qualen, die Körper und Geist erfasst hatten. Ihr Vater rief einen Arzt, also einen in der Heilkunst ausgebildeten Mann. Dem Arzt war diese Krankheit schon bei anderen Mädchen begegnet, die menstruierten, aber noch nicht verheiratet waren. Solange sie sich noch in der Pubertät befanden, brauchten sie das reichlich vorhandene weibliche Blut für das Wachstum, so der damalige Wissensstand. Sobald sie aber zur Frau gereift waren, sammelte sich das Blut in der Gebärmutter, aus der es jeden Monat abfloss. Wie jeder Arzt damals wusste, bewahrte sich der weibliche Körper auf diese Art seine Gesundheit. Dieses Mädchen aber ertrank im eigenen Blut, da das Blut keine Möglichkeit hatte abzufließen. Vielmehr ströme es von der Gebärmutter zurück in die Adern, betäube das Herz und vergifte die Sinne. Der Arzt empfahl dem Vater des Mädchens, sie unverzüglich zu verheiraten. Der Geschlechtsverkehr werde den Körper öffnen, sodass das Blut abfließen konnte, und mit einer Schwangerschaft werde sie wieder völlig gesund werden.[11]

In einer anderen Familie auf Kos wurde eine ältere Frau von gewaltigen Zuckungen geschüttelt. Die Augäpfel rollten nach hinten, die Zähne knirschten, aus dem Mund trat schäumender Speichel. Die Haut war kalt wie der Tod, der Unterleib verkrampfte sich vor Schmerzen. Der Ehemann der Kranken rief den Arzt. Diese Krankheit befiel häufig Frauen ihres Alters, die keinen Geschlechtsverkehr mehr hatten und keine Kinder mehr gebaren. Der Arzt musterte die sich krümmende und schluchzende Frau und bemerkte ihre feucht-kalte Haut. Die Gebärmutter der Frau sei – leer und trocken, weil sie nicht mehr gefüllt wurde – auf der Suche nach Feuchtigkeit zur Leber gewandert. Dort blockiere sie das Zwerchfell und raube der Frau den Atem. Die Frau werde von ihrer eigenen Gebärmutter erstickt. Der Arzt hoffte nun, Schleim werde aus dem Kopf hinabfließen, die Gebärmutter befeuchten und wieder nach unten drücken. Er hörte den Bauch der Frau nach den Gurgelgeräuschen einer Gebärmutter ab, die an ihren angestammten Platz zurückkehrt. Falls das Organ zu lange in der Nähe der Leber verharrte, würde die Frau ersticken. Hätte sie nur regelmäßig Geschlechtsverkehr gehabt, so wäre ihr dieses Elend erspart geblieben.[12]

 

Frauen wie diese geistern durch das Corpus Hippocraticum, eine Sammlung medizinischer Texte, die dem Hippokrates von Kos zugeordnet werden. Der griechische Arzt, der als Vater der Medizin gilt, lebte im vierten und fünften Jahrhundert vor unserer Zeit. Als Lehrer und Arzt revolutionierte er die Heilkunst und widerlegte den jahrhundertealten Aberglauben, nach dem Krankheiten eine von rachsüchtigen Göttern verhängte Strafe seien. Er führte Krankheiten auf Ungleichgewichte im Körper zurück und entwickelte das Instrument der Fallstudie, für die er die Symptome und den Krankheitsverlauf seiner Patient:innen sorgfältig notierte. Als Therapie verordnete er Kräutermischungen. Er schwor, sämtliche Krankheiten aller Menschen nach bestem Wissen zu behandeln und den Körper eines Mannes oder einer Frau niemals zu missbrauchen. Und er versprach, den Menschen, die er behandelte, egal, ob sie frei geboren oder versklavt waren, keinen Schaden zuzufügen: Der Hippokratische Eid wurde zum Grundpfeiler der Patientenethik und wird noch heute von angehenden Ärztinnen und Ärzten geleistet.

Hippokrates zufolge mussten Körper und Krankheiten von Frauen völlig anders behandelt werden als die von Männern. Die Ärzte, betonte er, müssten ihren »Krankheitserscheinungen« auf den Grund gehen, indem sie »geradewegs die Ursache der Krankheit erfragen«. Viele Frauen, merkte er an, müssten leiden und sterben, weil der Arzt ihre Krankheiten wie »Männerkrankheiten« behandele.[13] Hippokrates erkannte somit zwar an, dass »Frauenkrankheiten« besondere und spezifische Heilmethoden erforderten, doch das Recht von Frauen auf körperliche Autonomie und aufgeklärte medizinische Entscheidungen war ihm eher fremd. Die hippokratischen Schriften wurden zu einer Zeit verfasst, in der die meisten Frauen kaum Bürger- oder Menschenrechte besaßen. In der patriarchalen Gesellschaftsordnung des antiken Griechenland gehörten Mädchen ihrem Vater, Frauen ihrem Ehemann. Sie besaßen kein Land, kein Hab und Gut, kein Geld und konnten nicht einmal über den eigenen Körper verfügen. Sie galten als schwächere, trägere, kleinere Version des männlichen Menschenideals, als unvollkommen und unzulänglich, eben weil sie anders waren als Männer. Allerdings besaßen Frauen in diesem Anderssein das nützlichste und rätselhafteste aller Organe: den Uterus. Da Frauen einzig dazu bestimmt waren, Kinder zu gebären und großzuziehen, wurde ihre Gesundheit ausschließlich vom Uterus bestimmt. Diese medizinischen Vorstellungen reflektierten und legitimierten die Kontrolle der Gesellschaft über den weiblichen Körper und seine kostbare Fortpflanzungsfähigkeit. Gleich zu Beginn der westlichen Medizingeschichte reduzierte man kranke Frauen in den Schriften, die sich später zur Grundlage der wissenschaftlich-medizinischen Debatte und Praxis entwickelten, auf eine anonyme Masse pathologischer Gebärmuttern.

Die hippokratischen Schriften gründeten auf den Lehren des Hippokrates, wurden jedoch auch von anderen Ärzten, die ihm nachfolgten, festgehalten. In Abhandlungen wie Über die Frauenkrankheiten, Über die Natur der Frau und Über die Krankheiten der Jungfrauen beschrieben die hippokratischen Ärzte zahlreiche Symptome, die Frauen von der Pubertät und den Anfängen der Menstruation über Empfängnis und Schwangerschaft bis hin zur Menopause heimsuchten. Heute mutet es wie eine frauenfeindliche Verschwörung an, dass im antiken Griechenland sämtliche Krankheiten bei Frauen mit den Fortpflanzungsfunktionen verknüpft wurden. Doch damals gründete die gesamte gesellschaftliche Existenz von Frauen auf ihrer Gebärmutter, und so war es nur folgerichtig, dass dies auch für Erkrankungen und Funktionsstörungen von Körper und Geist galt. Die Verfasser der hippokratischen Schriften konnten sich kaum auf handfeste wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Da die Leichenöffnung verboten war, wussten sie nicht genau, wo die Organe lagen, wie das Blut zirkulierte oder wie die Atmung ablief. Sie wussten nichts von Zellen, Hormonen oder Neuronen. Nach ihrem Verständnis der weiblichen Physiologie besaßen Frauenkörper wegen des vielen Blutes ein Übermaß an Flüssigkeit; zu diesem Schluss gelangten sie, weil Frauen menstruieren.

Warum eine Frau krank war, konnten Ärzte nur aus dem schließen, was sie sahen, hörten und tasteten. Aus diesem begrenzten Wissen und unter dem Einfluss herrschender gesellschaftlicher Einstellungen entwickelten sie ihre Theorien zum Einfluss der Gebärmutter auf sämtliche Aspekte der weiblichen Gesundheit. Manchmal war die Gebärmutter selbst krank, ein andermal verursachte sie Krankheiten in anderen Körperteilen einschließlich des Gehirns. Der Uterus diente als Kanal wie auch als Gefäß, und eine Frau war gesund, wenn er Flüssigkeit enthielt oder abgab. Die hippokratische Uterus-Pathologie – vom Wahnsinn durch »verhaltenen Monatsfluss« bis hin zum grauenhaften »Ersticken der Gebärmutter« – war ebenso gesellschaftlich wie medizinisch bedingt. Die Heirat, idealerweise im Alter von vierzehn Jahren, regelmäßiger Geschlechtsverkehr mit dem Ehemann – der meist um die dreißig war – und viele Schwangerschaften: »Ich behaupte, dass eine kinderlose Frau durch die Regel schwerer und rascher leidet als eine Frau, welche geboren hat«, schrieb der Verfasser der ersten Abhandlung über Frauenkrankheiten.[14] Denn die Gebärmutter bereite stets Probleme, wenn durch Jungfräulichkeit der Abfluss eingeschränkt sei, sie mangels männlicher »Samen« austrockne oder nicht vom Gewicht eines Kindes nach unten gedrückt werde.

Im antiken Griechenland hatten die Frauen nicht mehr Verfügungsgewalt über ihren Uterus als über jeden anderen Lebensbereich. Die Gebärmutter, hieß es, habe einen Hunger nach Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft, der sich dem Einfluss der Frau, in deren Körper sie sich befand, entzog. Die Ärzte bestimmten das biologische Schicksal von Frauen mit der Parole: Die Gebärmutter will, was die Gebärmutter will. Aus dem »Ersticken der Gebärmutter« und anderen hippokratischen Diagnosen entwickelte sich die Vorstellung eines unerfüllten, unbeschäftigten Uterus, der auf Wanderschaft ging, die Organe, die er erreichte, etwa Herz und Leber, schädigte und eine erstaunliche Vielzahl an Symptomen auslösen konnte: Zuckungen, die epileptischen Anfällen glichen, Wahnvorstellungen, Atemnot, Schmerzen und Lähmungserscheinungen.

...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2022
Übersetzer Anne Emmert, Judith Elze
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • Abtreibungsdebatte • Abtreibung USA • Endometriose • Entwicklung der Medizin • Feminimus • frauenheilkunde • Frauenleiden • Frauenmedizin • Frauenrechte • Gender Health Gap • Gendermedizin • Gender-Medizin • gesundheitliche Ungleichheit • Kulturhistorisch • Medizingeschichte • Medizinhistorie • medizinihistorisch • medizinische Behandlung von Frauen • Medizinische Diagnosen • medizinische Fehldiagnosen • Mein Körper meine Entscheidung • Patriarchat • Sachbuch Feminismus • Sachbuch Frauenmedizin • Ungerechtigkeit • Unterdrückung der Frau • Your Body Your Choice
ISBN-10 3-462-30128-4 / 3462301284
ISBN-13 978-3-462-30128-1 / 9783462301281
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