All die Liebenden der Nacht (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
260 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8284-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

All die Liebenden der Nacht -  Mieko Kawakami
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Fuyuko ist 34 Jahre alt, Korrekturleserin und einsam. Sie lebt für ihre Arbeit, die sie mit selbstausbeuterischer Gewissenhaftigkeit verrichtet. Einzig der Spaziergang, den sie regelmäßig durchs nächtlich erleuchtete Tokio unternimmt, bereitet ihr neben dem Beruf Freude. Sie hat sich in ihrem Einsiedlerinnenleben eingerichtet, bis sie eines Tages in den Spiegel sieht und feststellt, dass sich ihr ganzes Dasein in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: miserabel. In diesem Moment entscheidet sie, dass sich etwas ändern muss - und fasst einen folgenschweren Entschluss: Sie beginnt zu trinken. Was mit einem Feierabendbier beginnt, gerät allmählich außer Kontrolle, und bald verlässt Fuyuko das Haus nicht mehr ohne eine Thermoskanne Sake. Bisher bloß am Beckenrand wagt sie sich nun hinein ins Leben - und sinkt immer tiefer. Allein die zufällige Begegnung mit einem Mann namens Mitsutsuka bewahrt sie davor, unterzugehen. Intensiv und aufwühlend zeichnet Mieko Kawakami das Bild einer Frau, die erkennt, dass sie auf sich selbst hören muss, um von der Randfigur zur Protagonistin im eigenen Leben zu werden.

MIEKO KAWAKAMI, geboren in Osaka, ist die Autorin des internationalen Bestsellerromans >Brüste und Eier< (DuMont 2020), der von der NEW YORK TIMES zu einem der bemerkenswertesten Bücher des Jahres gekürt und vom TIME MAGAZIN unter die besten zehn Bücher von 2020 gewählt wurde. 2006 debütierte Kawakami als Lyrikerin und veröffentlichte im Folgejahr ihren ersten Roman >My Ego, My Teeth, and the World<. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der

2

Im Winter vor neun Jahren, an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, kam ich um kurz nach elf plötzlich auf die Idee, einen Nachtspaziergang zu machen.

Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber während ich wieder einem Geburtstag dabei zusah, wie er ereignislos verstrich, bekam ich plötzlich Lust, das Haus zu verlassen und durch die Nacht zu spazieren. Ich hätte Kuchen kaufen und essen können (da ich an Heiligabend Geburtstag habe, quillt die Stadt vor Kuchen nur so über), hätte mit jemandem reden oder etwas unternehmen können, aber an Dingen, die man auch alleine machen konnte, fiel mir nichts Besseres ein.

Der Winter war so kalt, dass man in der Wohnung den eigenen Atem sehen konnte, wenn man die Heizung nicht einschaltete. Zitternd schälte ich mich aus den diversen Lagen bequemer Hauskleidung, streifte mir einen Pullover über, zog eine Jeans an, schlüpfte in eine dicke Windjacke, wickelte mir einen Schal um den Hals und verließ das Haus.

Die Dezemberluft war klirrend kalt, und obwohl überhaupt kein Wind ging, rasten die Wolken nur so dahin. Eine Weile stand ich bloß da und sah zum Himmel hinauf. Das Helldunkel der übereinanderliegenden, im Dunkel der Nacht nicht länger weißen oder grauen Wolken, sah aus wie der Schatten eines lebendigen Wesens. Je länger ich seinen lautlosen Bewegungen zusah, desto stärker klopfte mein Herz. Der Mond leuchtete weiß. Es war eine stille Geburtstagsnacht. Ich vergrub meine Hände in den Taschen und schlenderte los. Schon nach wenigen Schritten durch die wie ausgestorbene Stadt wurde es mir leichter ums Herz. An diesem Abend trat alles so deutlich hervor, als wollte es mir etwas sagen. Die unscheinbaren Häuser, die ich nur zu gut kannte, die Strommasten – alles strahlte regelrecht vor Stolz.

Der Blumentopf in einem Hauseingang, in dem sich nur ein wenig welkes Unkraut hielt, das Sammelsurium aus leeren Dosen, Flaschen und Plastiktüten im Korb eines rostigen Fahrrads. All das hatte eine Bedeutung, die sich nur mir erschloss, bildete ich mir ein.

Aufmerksam spazierte ich weiter. Je mehr ich wahrnahm, desto heftiger läutete mein Herz. Sie feiern, dachte ich, die Lichter der Nacht feiern meinen Geburtstag.

Seitdem spaziere ich jedes Jahr an meinem Geburtstag durch die Nacht.

April, stelle ich mit einem Blick auf den Kalender fest, während ich den Erinnerungen an meinen ersten Nachtspaziergang nachhänge, noch über ein halbes Jahr bis zum nächsten Geburtstag.

Ich blättere vor bis zum Dezember, betrachte den Schnee und den Tannenbaum, die dort abgebildet sind, blättere zurück zum April und wieder vor bis zum Dezember. Natürlich geht der Kalender nicht über Dezember hinaus. Abgesehen von einigen Abgabeterminen, die ich mit einem feinen Bleistift notiert habe, steht nichts darin. Wahrscheinlich würde es mir nicht einmal auffallen, wenn das erste und das zweite Halbjahr vertauscht wären, denke ich vage.

Ich machte mir eine Kleinigkeit zu essen, spülte ab und ging wieder an die Arbeit. Als ich mein Tagespensum erledigt hatte, schaltete ich die Schreibtischlampe aus und streckte mich. Dann widmete ich mich der Wäsche, die ich mittags bloß hereingeholt hatte. Während ich Wäsche und Handtücher faltete, klingelte das Telefon. Auch ohne einen Blick aufs Display zu werfen, wusste ich, dass es Hijiri war. Sonst rief niemand an. Das Einzige, das mich wunderte, war, dass sie sich so spät noch meldete. Es war halb elf.

»Störe ich?«, fragte sie gut gelaunt.

»Nein. Ich lege bloß Wäsche zusammen«, antwortete ich. Nach den Geräuschen im Hintergrund zu urteilen, war sie noch unterwegs.

»Du bist für heute also fertig mit der Arbeit. Oder machst du noch was?«

»Heute nicht mehr.«

»Dann komm«, sagte sie. »Die Kollegen sind weg«, fügte sie hinzu und nannte mir die Adresse einer Bar. Widerstrebend notierte ich sie. Um diese Zeit verließ ich höchstens an meinem Geburtstag das Haus. Wenn Hijiri nicht alleine gewesen wäre, hätte ich ohne schlechtes Gewissen absagen können, aber so?

»Nur, wenn’s keine Umstände macht«, sagte sie. »Kleiner Scherz! Komm. Raff dich auf. Hin und wieder auszugehen, schadet nicht. Wobei, zu zweit waren wir noch nie unterwegs.« Sie lachte. »Nicht, dass es etwas zu besprechen gäbe, einfach so. Das ist doch auch mal ganz schön, oder?«

»Okay«, erwiderte ich kurz entschlossen, wiederholte die Adresse und legte auf. Seufzend sah ich mich in meinem Zimmer um und wechselte in Jeans und Sweatshirt. Dafür ist es zu kalt, dachte ich, aber etwas Leichtes zum Drüberziehen, einen sogenannten Übergangsmantel, besaß ich nicht. Schade, dachte ich auf der Suche nach einem dickeren Sweatshirt, aber wenn ich mir bis jetzt noch keinen gekauft hatte, würde ich mir wohl auch in Zukunft keinen kaufen, obwohl ich jedes Jahr um diese Zeit dachte, wie schön es wäre, einen zu haben. Übergangsmantel. Einen Moment lang war ich versucht, die genaue Definition des Begriffs nachzuschlagen – typisch! –, verwarf den Gedanken aber wieder, zog mir die Schuhe an und trat aus der Tür.

Die Bar, zu der Hijiri mich bestellt hatte, war ein ganz in goldbraunes Licht getauchtes, im wahrsten Sinne des Wortes schickes Lokal. Es wirkte fast leer, so spärlich besucht war es. Aus den Deckenlautsprechern drang leise Musik.

Hijiri saß weiter hinten an der Bar. Sie hob die Hand.

»Da bist du ja«, freute sie sich und rückte mir einen Hocker zurecht. Sie trug ein rotes Kleid und eine flauschige graue Strickjacke. Die Jacke war auf der Brust mit Pailletten besetzt, die bei jeder Bewegung matt glänzten.

»Nicht dein erstes heute, was?«, stellte ich nach einem Blick auf das leere Glas in ihrer Hand fest.

»In der Tat«, sagte sie gleichgültig. »Sonst trinke ich auch mal was, aber nicht so viel. Was nimmst du?«

»Etwas Nichtalkoholisches …«

Hijiri bestellte für mich einen alkoholfreien Mango-Cocktail und für sich dasselbe noch mal.

»Geht ihr regelmäßig etwas trinken, ich meine, du und die Kollegen?« Zu nervös, ihr ins Gesicht zu sehen, ließ ich meinen Blick durch die Bar schweifen. »Schön hier.«

»In dieser Bar bin ich zum zweiten Mal, glaube ich. Bei uns im Verlag sind Nomikai eher selten, gefeiert wird höchstens zu bestimmten Anlässen, wenn jemand aufhört oder neu anfängt oder zum Jahreswechsel. Natürlich geht man nach Feierabend schon mal zusammen auf ein Bier. Korrekturlesen ist, wie wir wissen, ein einsamer Job, zu dem vor allem einsame Seelen finden.« Hijiri lächelte. Ihr breites Lächeln wirkte weicher als sonst.

»Eine Etage weiter oben, bei den Lektoren, sieht’s anders aus. Die gehen anscheinend regelmäßig aus. Die wichtigen Autoren wollen schließlich bei der Stange gehalten werden. Das nennt sich dann Umtrunk. Von einigen scheint das weidlich ausgenutzt zu werden …«

»Verstehe.«

»Das hört man wenigstens …«

»Mit wichtig meinst du Autoren, deren Bücher sich gut verkaufen?«

»Tja«, sagte Hijiri, »das nehme ich an. Ich arbeite ja nicht direkt mit ihnen zusammen. Andererseits gelten viele als wichtig, die sich überhaupt nicht verkaufen. Es gibt ja auch so etwas wie Preise.«

»Gibt es«, erwiderte ich.

»Wichtig, aber keine Seller. Seller, aber nicht wichtig. So eine seltsame Regel gibt’s doch. Gilt für Frauen in gewisser Weise übrigens auch. Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen und keine Kinder kriegen, sind toll, aber wichtig sind die, die Kinder kriegen, auch wenn sie kein eigenes Geld verdienen.«

Nickend tupfte ich mir mit dem feuchten Erfrischungstuch den Mund.

»Wie auch immer …, wichtig oder nicht kann uns egal sein – fast egal wenigstens, immerhin sorgen die für unseren Lohn. Aber vor dem Korrekturleser ist jedes Manuskript gleich«, sagte Hijiri. »Das würde ich denen am liebsten in die Fahnen schreiben«, fügte sie hinzu und lachte.

»Ich auch«, stimmte ich ein.

Dann besprachen wir ein paar konkrete Projekte, ich bestellte mir noch einen Mango- und Hijiri sich einen Erdbeer-Cocktail.

»Schminkst du dich eigentlich nie?«, fragte sie nach einer kleinen Pause.

»So gut wie nie«, erwiderte ich, plötzlich nach mir gefragt, mit einer Lebhaftigkeit, die mir selber peinlich war. Verlegen trank ich einen Schluck Wasser.

»Früher auch nicht?«

»Na ja …, manchmal schon …, aber eher selten.«

»Aha.« Hijiri nippte an ihrem Cocktail und sah mich an. »Weil du auf dem Natürlichkeitstrip bist?«

»Natürlichkeitstrip?«, fragte ich zurück.

»Genau.« Sie grinste verschmitzt. »Du weißt schon, dieses Ich liebe es natürlich

»So was gibt’s?«

»Wie Sand am Meer«, sagte Hijiri, leerte ihr Glas und bestellte dasselbe noch einmal. »Ich bin, wie ich bin. Natürlichkeit ist wahre Schönheit. Ich liebe die Natur, deshalb liebt sie mich auch. Ich nehme die Dinge, wie sie kommen, daran wachse ich. Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung und so weiter und so fort.«

Ich brummte.

»Von mir aus soll jeder machen, was er will«, sagte Hijiri, stützte das Kinn auf und wischte mit dem Daumen die Tropfen vom Glas. Ihre geraden, langen Wimpern warfen Schatten auf die Partie unter ihren Augen. »Aber dem gesunden Menschenverstand entspricht das nicht. Oder was meinst du?«

»Wie? Was meine ich?«, fragte ich zurück.

»Ist das nicht krank? Dieses Ökotum , diese Esoterik , zu glauben, dass der liebe Gott, das Schicksal, die Natur, übersinnliche Kräfte, das Universum oder...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2023
Übersetzer Katja Busson
Sprache deutsch
Original-Titel Subete mayonaka no koibitotachi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Alkohol • Alkoholismus • Asien • Autorin • Booker Prize • Brüste und Eier • Chopin • Einsamkeit • Feminismus • Freundschaft • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Großstadt • Haruki Murakami • Japan • Korrektorin • Lichter • Liebe • Mütter • Nacht • Rausch • Sake • Sexualisierte Gewalt • Starke Frauen • Töchter • Tokio • Toxische Weiblichkeit • Vergewaltigung
ISBN-10 3-8321-8284-5 / 3832182845
ISBN-13 978-3-8321-8284-7 / 9783832182847
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