Feuer -  Ron Leshem

Feuer (eBook)

Israel und der 7. Oktober | Was am 7. Oktober geschah - ein einzigartiges Buch über den Tag, der alles veränderte.

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02130-3 (ISBN)
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Am 7. Oktober 2023 überzog die Hamas Israel mit Terror, seither hält die Welt den Atem an - und überschlagen sich die Ereignisse. Ron Leshem zeichnet in seinem bewegenden Text jenen Tag und die Entwicklungen seither nach - und führt ein zutiefst gespaltenes Land vor Augen. Gerade der liberale, auf Verständigung bedachte Teil der Gesellschaft wurde getroffen. Was werden die Folgen sein? Leshem, international bekannter Autor («Euphoria», «Beaufort»), Journalist und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier, ist auch persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante, verschleppte seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürger war, als Geisel. Ein Blick in die Wirklichkeit Israels, der uns das Land auf sehr persönliche Weise nahebringt und zugleich ein großes Bild vermittelt. Das Buch zur Stunde, das den Konflikt begreifbar macht.

Ron Leshem, geboren 1976 in Tel Aviv, ist Roman- und Drehbuchautor und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier. Er arbeitet in Hollywood und Tel Aviv, hat unter anderem die international gefeierte Serie «Euphoria» mitentwickelt und das Drehbuch der Serie «No Man's Land» mitgeschrieben. Seine Romane «Der geheime Basar» und «Wenn es ein Paradies gibt» standen in Israel monatelang auf der Bestsellerliste. «Wenn es ein Paradies gibt» wurde mit Israels wichtigstem Literaturpreis, dem Sapir-Preis, geehrt und unter dem Titel «Beaufort» verfilmt; der Film erhielt auf der Berlinale den Silbernen Bären und war für den Oscar nominiert. Zuletzt erschien «Als wir schön waren» (2022).

Ron Leshem, geboren 1976 in Tel Aviv, ist Roman- und Drehbuchautor und ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier. Er arbeitet in Hollywood und Tel Aviv, hat u.a. die international gefeierte Serie «Euphoria» mitentwickelt und das Drehbuch der Serie «No Man's Land» mitgeschrieben. Seine Romane «Der geheime Basar» und «Wenn es ein Paradies gibt» standen in Israel monatelang auf der Bestsellerliste. «Wenn es ein Paradies gibt» wurde mit Israels wichtigstem Literaturpreis, dem Sapir-Preis, geehrt und unter dem Titel «Beaufort» verfilmt; der Film wurde mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet und war für den Oscar nominiert. Zuletzt erschien «Als wir schön waren» (2022).

1. Die Vernichtung der Besonnenheit


An diesem Mittwoch war meine Tante Orit Sabirski eine unter Tausenden jüdischer und muslimischer Frauen, die sich ganz in Weiß gekleidet am Strand von Neve Midbar am Toten Meer versammelt hatten. Die israelische Bewegung «Women Wage Peace» und ihre palästinensische Schwesterorganisation «Women of the Sun» hatten unzählige Friedensteppiche nebeneinander ausgebreitet – von Frauen aus fünf Kontinenten genähte Stoffquadrate. Im Zentrum der Fläche war ein Verhandlungstisch aufgebaut. Wir werden nicht weiter die Leichen unserer Kinder zählen, riefen sie dort in den Sonnenuntergang, die Berge von Edom im Königreich Jordanien und die Wüste Judäa im Blick, am niedrigsten Punkt der Erde. Und sie stimmten einen «Mothers’ call» an, eine Selbstverpflichtung, die Architektinnen eines neuen Versöhnungsentwurfs zu sein.

In der jüngeren Geschichte unseres Staates war es einer politischen Bewegung von Frauen schon einmal gelungen, einen Krieg zu beenden und eine Armee dazu zu bewegen, sich zurückzuziehen. Orit war auch dort, sie war überall, wo für Frieden und Menschenrechte gekämpft wurde, mal vergeblich, mal erfolgreich. Sie hatte lange Jahre als stellvertretende Personalleiterin eines renommierten Unternehmens gearbeitet und machte sich gleichzeitig einen Namen als Kunstkuratorin und Galeriegründerin. Später verlegte sie sich auf die spirituelle Begleitung von Palliativpatienten, und sie wurde Großmutter. Als ich Vater wurde, in der Spätphase der Coronapandemie, bat mich Orit, ich solle ihr versprechen, meinen mir angeborenen Pessimismus zu überwinden. Für die Kleine, beschwor sie mich: Hoffnung sei eine willentliche Handlung, sei wie ein Muskel – entscheide dich für den Optimismus. Ich erzählte ihr im Gegenzug, mein ganzes Leben schon gehe mir ein Satz des legendären Filmregisseurs Billy Wilder nach, der Deutschland gleich mit der Machtübernahme der Nazis verlassen hatte: Die Optimisten sterben gerade in den Gaskammern in Auschwitz, und die Pessimisten planschen in ihren Pools in Beverly Hills.

Wächst du als israelisches Kind auf, lehrt man dich, die Schlussfolgerung aus der Schoah sei, dass «wir keinen anderen Ort zum Leben haben. Es gibt keine andere Wahl, Juden werden nur hier sicher sein, in unserem eigenen Staat.» Ich jedoch hatte aus der Ermordung der sechs Millionen in Europa eine andere Schlussfolgerung für mich abgeleitet: Jeder Mensch muss sich immer fragen – hätte ich Deutschland und Europa rechtzeitig verlassen? Oder wäre ich geblieben, arglos und die Realität verdrängend? Ziehst du deine Kinder an einem unsicheren Ort groß, oder ist es an der Zeit, aufzubrechen, Ozeane zu überqueren und nach einem weniger gefährlichen Nest zu suchen, wo du deine Kleinen behütest? Als ich mich zusammen mit meinem Lebensgefährten entschied, Israel zu verlassen, zehn Jahre und drei Monate vor jenem Schabbat im letzten Oktober, und wir uns unser neues Zuhause in Boston errichteten, da wusste ich, wie sehr ich meine Großmutter enttäuschte und mit ihr die gesamte Gemeinschaft in Be’eri.

Orit wohnte, wie die ganze weitläufige Familie meiner Mutter, im Kibbuz Be’eri, dem Ort auf der Welt, dem ich meine magischsten Kindheitserinnerungen verdanke. In meiner Jugend war Be’eri ein Symbol für alles, was ich träumte zu sein – meine Altersgenossen dort waren Naturkinder, ihr Lächeln tiefer und befreiter als das von uns Städtern. Ihre Verbindung untereinander, als Freunde und Cousins, erschien mir intim, tief und sinnlich. Sie hatten ein Feuer der Erfüllung in sich, es loderte im Bestellen des Landes und in der gelebten sozialen Gerechtigkeit. Es handelte sich um eine politisch linksgerichtete Gemeinschaft, liberal, man war gegen die Besatzungspolitik und liebte zugleich Israel zutiefst. Benjamin Netanjahu, der Führer der Rechten, erhielt bei den letzten Wahlen im vergangenen Jahr nur drei Prozent aller Stimmen dort. Und auch das war noch zu viel für den Kibbuz. Be’eri war keine Siedlung, war nicht auf besetztem Land errichtet, obgleich in den Tagen danach viele auf der Welt den Kibbuz so bezeichnen würden, darauf beharrten, jeder Jude in Israel sei ein Kolonialist.

Am Freitagmittag war Orit wieder zu Hause. Feiertage standen an, und ihr Sohn Itai war aus Tel Aviv gekommen, um mit ihr, seinem Vater und seiner Großmutter das Wochenende zu verbringen, so wie es Dutzende von in der Stadt lebenden Kindern und Enkeln an jenem Freitag taten. In den Vierteln ringsum lebten viele meiner Verwandten und Freunde verstreut, und in dem kleinen Haus, von wo aus man auf den Friedhof des Kibbuz sowie auf ein Anemonen- und Mohnblumenfeld schaute, wohnte schon seit vierundsiebzig Jahren das Oberhaupt der Gemeinschaft, die siebenundneunzigjährige Aviva, zusammen mit ihrer liebevollen thailändischen Pflegerin Gracy, die längst zu einem Teil der Familie geworden war.

Am Samstagmorgen um halb sieben heulten die Sirenen, und Israels Ortschaften und Städte wurden von einem orchestrierten Überraschungsangriff getroffen, aus der Luft, vom Meer und an Land. Innerhalb von Sekunden war der Himmel bedeckt von Garben aus Tausenden Raketen und Geschossen, die von Gaza auf alle Landesteile Israels abgefeuert wurden. Drohnen warfen Sprengsätze und Handgranaten auf die Kameras des Grenzzauns ab und zerstörten sie. Dutzende von Paraglidern schwebten nach Israel ein, landeten auf Feldern und zwischen den Häusern. Palästinensische Kommandoboote stoben vom Meer heran. Schweres mechanisches Gerät riss an dreißig Punkten den Grenzzaun nieder, über eine Länge von sechzig Kilometern, und Hunderte von Fahrzeugen des Nukhba-Kommandos, der Hamas-Brigaden und des Islamischen Dschihad preschten auf die Ortschaften zu, die schwer bewaffneten Kämpfer auf den Ladeflächen ganz in Schwarz gekleidet, um den Kopf grüne Spruchbänder gebunden und «Allahu Akbar» brüllend. An Straßenkreuzungen legten kleine Einheiten Hinterhalte, um das Eintreffen von Rettungskräften oder die Flucht von Einwohnern zu verhindern.

Die Bewohner von Be’eri erwachten in einem irrealen Szenario: Kolonnen von Motorrädern kamen in Staubwolken angerast und umstellten den Kibbuz, gefolgt von Toyota-Pick-ups, beladen mit schweren Maschinengewehren, Antipanzerraketen und Granatwerfern, mit Hunderten von Sprengsätzen, Aerosolbomben und Funkausrüstungen. Mehr als einhundert Bewaffnete drangen aus drei verschiedenen Richtungen in den Kibbuz ein, sie verfügten über Landkarten und Luftaufnahmen, waren offenbar bestens vertraut mit den einzelnen Wohnvierteln, die sie voneinander trennten, um dann riesige Mengen von Munitionskisten, Sprengsätzen und Kamikazedrohnen abzuladen. Zuletzt verteilten sie sich auf die Hausdächer und warteten dort, ihre Maschinenpistolen und Gewehre im Anschlag. Andere hatten innerhalb von Minuten die Wachposten ermordet, sie wussten genau, wo der Sicherheitsoffizier des Kibbuz wohnte und wo die Waffen unter Verschluss gehalten wurden. Fünf Jahre lang hatten die Angreifer für diesen Moment trainiert, und obwohl die israelischen Nachrichtendienste von den Operationsplänen der Hamas bis ins kleinste Detail wussten, hatte niemand meine Familie gewarnt, hielt es niemand für nötig, die Ortsvorsteher zu informieren oder die Absicherung der Ortschaften zu verstärken. Denn Israels Regierung beharrte darauf, dass die Hamas es nicht wagen würde. Die Warnungen seien aus der Luft gegriffen.

Im Wohnviertel HaZaytim – das heißt «die Oliven» – verschanzten sich die Menschen in ihren Häusern, versperrten und verbarrikadierten Türen, die niemand in diesen landwirtschaftlichen Siedlungen sonst je abschloss. Orit und ihr Sohn Itai lagen eng beieinander unter einer Decke im Dunkeln und hielten uns in den nächsten Stunden, die eine Ewigkeit währten, über das Telefon mit Sprachnachrichten auf dem Laufenden. Sie riefen die Polizei an, um Hilfe zu erflehen, doch vergebens. Die Polizei antwortete nicht. An jenem Schabbat gab es keinen Staat – der Staat war wie ein Turm aus Sand in einer Staubwolke eingestürzt. Es gab keine Polizei, keine Armee, keine Generäle und keine politische Führung mehr. Nur Menschen, allein auf sich gestellt, einen ganzen Tag lang. Nicht eine der öffentlichen Institutionen funktionierte. Siebenundzwanzig landwirtschaftliche Siedlungen wurden preisgegeben, zwei ganze Städte und mehrere Tausend Feiernde auf zwei Musikfestivals. Ein Staat ließ seine Bürger im Stich und verriet sie. Israel trat in diesen Krieg in einer Phase, in der es zutiefst zerrissen von innerem Hass war, erschöpft von einem schwelenden Bürgerkrieg, der monatelang gewalttätig zu werden gedroht hatte, einem Bürgerkrieg zwischen rückwärtsgewandten, messianischen Populisten und ihren Gegnern, zwischen Religiösen und Säkularen, Endzeitideologen und Demokraten.

Von unserem Haus in Boston aus versuchten wir tief in der Nacht, Kontakt zu den Mitgliedern meiner Familie zu halten, von denen einer nach dem anderen nicht mehr zu erreichen war. Wir beteten, dass es nur an leeren Akkus lag, an einem zusammengebrochenen Stromnetz oder zerstörten Mobilfunkmasten. Gracy schickte uns ein Selfie von sich und der greisen Aviva, eng umschlungen im Bett mit einem warmherzigen Lächeln. Bald darauf schrieb sie: «Hilfe!» – «Viele Leute kommen ins Haus.» – «Was soll ich machen?» Avivas Enkel aus den umliegenden Straßen wären gewiss gekommen, um sie zu retten, hätten sie eine Chance gehabt oder wären sie bewaffnet gewesen. Doch Avivas kleines Haus, das nur aus einem Schlafraum und einem winzigen Wohnzimmer bestand, wurde von einem der Kommandeure der Hamas-Einheiten als Befehlszentrale in Beschlag genommen. Auf dem Rasen davor türmten sich schon bald...

Erscheint lt. Verlag 30.4.2024
Übersetzer Ulrike Harnisch, Markus Lemke
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 7.10.23 • 7. Oktober 2023 • 9/11 • Antisemitismus • Erfahrungsbericht Krieg • Gaza • Gazastreifen • Geiseln • Geschichte Naher Osten • HAMAS • Intifada • Israel • israelische Armee • Jom-Kippur-Krieg • Juden • Jüdische Siedlungen • Jüdisches Leben • Krieg • Krieg im Gazastreifen • Krieg Israel Palästina verstehen • Moslems • Nahostkonflikt • Netanjahu • Palästina • Palästinakrieg • Politisches Sachbuch • Sachbuch Israel • Sechstagekrieg 1967 • Terror • Terroranschlag auf Israel 2023 • Ursachen Nahostkonflikt • Westjordanland
ISBN-10 3-644-02130-9 / 3644021309
ISBN-13 978-3-644-02130-3 / 9783644021303
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