Der Streit um das Ding an sich (eBook)

Systematische Analysen zur Rezeption des kantischen Idealismus 1781–1794
eBook Download: EPUB
2022
382 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-073218-4 (ISBN)

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Der Streit um das Ding an sich - Marialena Karampatsou
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Indem die Erstleser Kants die Debatte um die Rolle des Dings an sich im kantischen Idealismus anstießen, gaben sie den Ton für die Rezeption von Kants Philosophie an, wie sie die Fachdiskurse bis heute prägt. Die Studie bietet die erste umfassende Auseinandersetzung mit der frühen, vorfichteschen Kritik an Kants Idealismus.
Die bedeutendsten Einwände der ersten Leser der Kritik der reinen Vernunft (Feder, Garve, Jacobi, Pistorius, Eberhard, Schulze und Maimon) werden mit zentralen philosophischen Debatten - z.B. um Realismus und Skeptizismus - verknüpft und vor dem Hintergrund neuerer Kantforschung auf ihr kritisches Potenzial hin untersucht.
Die Studie trägt damit zu heutigen Debatten in der Kantforschung bei: Sie zeigt die Relevanz der Kritik der Erstleser für die Kantinterpretation unserer Zeit auf, um bestehende Tendenzen innerhalb der aktuellen Forschung teilweise kritisch zu hinterfragen. Ferner ist die Studie interessant für die Forschung zur nachkantischen Philosophie: Ein wichtiges Ergebnis besteht darin, verbreitete Klassifikationen bestimmter Kantleser und der damit einhergehenden traditionellen Interpretation ihrer Rolle in der Geschichte der klassischen deutschen Philosophie infrage zu stellen.


Marialena Karampatsou, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin.

Teil 1: Die Unentbehrichkeit von Dingen an sich: Der Bedarf nach existierenden, uns affizierenden Dingen an sich


Kapitel 1 Wozu braucht man die Dinge an sich? Kants erste Leser über den Bedarf nach existierenden, uns affizierenden Dingen an sich


Ein wichtiger Grund, warum das Problem der Dinge an sich innerhalb des kantischen Idealismus sich nicht leicht bewältigen lässt, besteht darin, dass die Dinge an sich unverzichtbare Funktionen zu erfüllen scheinen, die von keinen anderen Entitäten übernommen werden können. Wie angekündigt, ist die Auseinandersetzung mit dem ersten Horn des Dilemmas, das gerade diesen Aspekt des Problems betrifft, die Aufgabe des ersten Teils dieses Buchs. Wie wir mit diesem ersten Horn umgehen, hat weitreichende Folgen für die Interpretation sowohl Kants als auch der Kantkritiker sowie für die zu verfolgenden Strategien zur Verteidigung Kants. In diesem Kapitel widme ich mich der Frage nach der philosophischen Motivation einer Festlegung auf existierende und uns affizierende Dinge an sich aus der Perspektive der Kantkritiker: Was denken Kants Erstleser über die (Un‐)Entbehrlichkeit einer solchen Festlegung? Glauben sie, dass wir diese Festlegung brauchen, und warum tun sie das?

In Abschnitt I werden die zentralen Überlegungen, welche die Unentbehrlichkeit von Dingen an sich untermauern sollen, anhand der Schriften der Erstleser (Feder, Garve, Pistorius, Jacobi, Eberhard, Schulze) dargelegt. Es wird festgestellt, dass die These über die Unentbehrlichkeit von Dingen an sich und eines damit verwandten, näher zu beschreibenden Realismus einen Topos der frühen Kantkritik bildet. Abschnitt II thematisiert eine mögliche Reaktion auf die frühe Kantkritik, die ich im Rahmen dieser Arbeit nicht verfolge: Es ginge um eine Verteidigung Kants, die diese in der frühen Kantkritik verbreitete These angreifen würde. Diese mögliche Reaktion hängt mit unserem Umgang mit einem Akteur der frühen Kantrezeption, Maimon, zusammen, der oft als Vertreter genau solch einer Reaktion gelesen wurde. Abschnitt III nimmt aus diesem Grund Maimons Kantlektüre in den Blick, und es wird ausführlich für die These argumentiert, dass Maimon, genau wie seine Zeitgenossen, die Unentbehrlichkeit von Dingen an sich nicht abstreiten möchte.

Die Fragen, die mich in diesem Kapitel beschäftigen, sind exegetischer, nicht rein philosophischer Natur. Es geht nicht darum, ob die Annahme einer subjektunabhängigen Welt an sich plausibel ist, sondern darum, wie Kants Leser selbst die Sache gesehen haben. Ich betone jedoch, dass es in diesem Kapitel um die philosophische Motivation für die Einführung des Dings an sich geht, um die Fragestellung dieses Kapitels von der des nächsten abzugrenzen. Dort wird eine stärker exegetische Perspektive eingenommen – es wird darum gehen, wie die ersten Leser Kant lesen und ob sie ihm eine explizite Festlegung auf Dinge an sich zuschreiben. Hier geht es hingegen nur darum, welche Thesen den ersten Lesern Kants zufolge dieser vertreten sollte, wenn er es mit der Behauptung, eine gemäßigte Spielart des Idealismus begründet zu haben, ernst meint. Dies verhält sich neutral zur Frage, ob die Kantleser denken, dass Kant diese Thesen tatsächlich vertritt.

I Philosophische Motivation für die Festlegung auf die Dinge an sich: Realismus und Unentbehrlichkeit der Dinge an sich als ein Topos der frühen Kantkritik


Die These, dass wir die Existenz von Dingen an sich und eine Affektion durch diese brauchen, war im Rahmen der frühen Kantkritik sehr gängig. Unter (i) gehe ich auf diese These, die Überlegungen der Erstleser, die sie stützen sollen, und ihren realistischen Hintergrund ein. Anschließend füge ich manche qualifizierende Bemerkungen zur Spielart des Realismus, die in der frühen Kantkritik verbreitet war, hinzu ((ii)). Unter (iii) diskutiere ich manche Aspekte des Umgangs der Erstleser mit „Ding an sich“ und „Erscheinung“ und stelle fest, dass die Erstleser mit einer Interpretation des kantischen Idealismus operieren, die man aus heutiger Sicht als eine phänomenalistische Zwei-Welten-Interpretation einstufen würde.

In diesem Abschnitt diskutiere ich alle im Rahmen dieser Arbeit zu behandelnden Erstleser Kants bis auf Maimon. Wenn in diesem Abschnitt von „den ersten Lesern“ oder „allen Lesern“ die Rede ist, sind damit Feder, Garve, Pistorius, Jacobi, Eberhard und Schulze gemeint.

i Unentbehrlichkeit der Dinge an sich als eine weit verbreitete Annahme

Für die ersten Leser der Kritik galt es als evident, dass Kants Idealismus – und jede philosophische Position, die realistische Grundintuitionen nicht völlig über Bord werfen möchte – eine Festlegung auf Dinge an sich braucht. Das ist eine These, die von der überwältigenden Mehrheit der ersten Leser und Kritiker Kants klarerweise vertreten wird, so dass sie einen unbestrittenen Topos der frühen Kantkritik darstellt. Unter „Festlegung auf Dinge an sich“ ist in diesem sowie im nächsten Teil dieses Buchs immer die Festlegung auf Dinge an sich, die existieren und uns affizieren, gemeint.1 Wie in der Einleitung schon angesprochen, beginnt der Hauptteil der Kritik, der erste Abschnitt der Transzendentalen Ästhetik, mit der Rede von einem Gegenstand, der Subjekte affiziert und sie mit Sinnesmaterial – das an sich „formlos“ wäre –, den Empfindungen, versorgt. Mit Kants Worten:

Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire. […] Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden, ist Empfindung. (A19 f./B33 f.)

Es spricht viel dafür, die Affektionsrelation, die zwischen dem (menschlichen) Subjekt und dem Gegenstand stattfindet, als eine kausale Relation aufzufassen.2 Der Gegenstand wirkt auf das Subjekt kausal ein, und auf diese Weise wird der Gegenstand dem Subjekt gegeben. Der Gegenstand ist die Ursache, oder zumindest der Grund für die Empfindungen des Subjekts, und auf diese Weise auch die Ursache/der Grund für weitere Vorstellungen, die empirischen Anschauungen, dieses Subjekts.

Für die ersten Leser ist es nun klar, dass der Gegenstand, der in diese Affektionsrelation zu Subjekten tritt, kein anderer als das Ding an sich, d. h. ein vorstellungstranszendenter, subjektunabhängiger Gegenstand, sein kann. Eine erste intuitive Überlegung, die diese Annahme stützt, hat mit dem zu tun, was wir überhaupt verstehen, wenn wir von einem Gegenstand, der uns gegeben wird und uns mit Sinneseindrücken (Empfindungen) versorgt, sprechen. Solche Gegenstände werden Gegenständen, die ich mir bloß einbilde (zum Beispiel in Halluzinationen oder Träumen), gegenübergestellt. Und der entscheidende Unterschied scheint darin zu bestehen, dass die erste Kategorie von Gegenständen, im Gegensatz zur letzteren, wirkliche, in der Außenwelt existierende, subjektunabhängige Gegenstände betrifft. Pistorius formuliert diesen Punkt in einer seiner Rezensionen zur kantischen Philosophie:

Wenn durchaus in unsern Empfindungen nichts Reelles zum Grunde liegen [sic], sie gar nichts Objectives enthalten, und unsere Verstandesbegriffe, Grundsätze und Operationen sich blos auf Erscheinungen beziehen und damit beschäftigen, folglich alles nur subjectiv seyn sollte, so läßt sich schwerlich ein zuverläßiger Unterscheidungscharakter ächter Empfindungen von Phantasmen angeben. (Pistorius 1786: 120)3

Aus der Perspektive dieser Problematik scheint eine philosophische Position, wonach es keine Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen (d. h. subjektabhängige und – je nach Interpretation – eventuell sogar vorstellungsimmanente Gegenstände) gibt, sehr unbefriedigend zu sein.

Eine weitere intuitive Überlegung hat mit dem repräsentationalen Gehalt meiner mentalen Zustände und mit einem Phänomen zu tun, das sowohl von Eberhard – in einem Aufsatz im Philosophischen Magazin – als auch von Schulze – im Aenesidemus – thematisiert wird. Wahrnehmungssubjekte befinden sich oft zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem mentalen Zustand mit einem ganz bestimmten repräsentationalen Gehalt, auf den die Subjekte keinen Einfluss zu haben scheinen. Wenn ich zum Beispiel meine Augen aufmache und plötzlich mich in einem mentalen Zustand befinde, der ein Haus – und nicht zum Beispiel einen Baum – repräsentiert, dann verhalte ich mich, phänomenologisch betrachtet, zu diesem Zustand passiv. Ich kann es mir nicht aussuchen, was für einen repräsentationalen Gehalt mein mentaler Zustand bei der Wahrnehmung haben wird. Schulze, der das Haus vs. Baum-Beispiel anführt, schreibt, dass eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen...

Erscheint lt. Verlag 19.12.2022
Reihe/Serie ISSN
Quellen und Studien zur Philosophie
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie
Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Technik
Schlagworte Critique of Pure Reason • Immanuel • Kant • Kant, Immanuel • Kant reviews • Kantrezeption • Kritik der reinen Vernunft • Transcendental idealism • Transzendentaler Idealismus
ISBN-10 3-11-073218-1 / 3110732181
ISBN-13 978-3-11-073218-4 / 9783110732184
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