Ida (eBook)

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2018 | 1. Auflage
512 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04711-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ida -  Katharina Adler
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Sie ist eine der bekanntesten Patientinnen des 20. Jahrhunderts: Dora, das jüdische Mädchen mit der ?petite hystérie? und einer äußerst verschlungenen Familiengeschichte. Dora, die kaum achtzehn war, als sie es wagte, ihre Kur bei Sigmund Freud vorzeitig zu beenden, und ihn, wie er es fasste, «um die Befriedigung [brachte], sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien». Für Katharina Adler war die widerständige Patientin lange nicht mehr als eine Familien-Anekdote: ihre Urgroßmutter, die - nicht unter ihrem wirklichen Namen und auch nicht für eine besondere Leistung - zu Nachruhm kam und dabei mal zum Opfer, mal zur Heldin stilisiert wurde. «Nach und nach wuchs in mir der Wunsch, dieses Bild von ihr zu ergänzen, ihm aber auch etwas entgegenzusetzen. Ich wollte eine Frau zeigen, die man nicht als lebenslängliche Hysterikerin abtun oder pauschal als Heldin instrumentalisieren kann. Eine Frau mit vielen Stärken und auch einigen Schwächen, die trotz aller Widrigkeiten bis zuletzt um ein selbstbestimmtes Leben ringt.» Von ihr, von «Ida», handelt dieser mitreißende Roman. Mit großem gestalterischem Weitblick und scharfem Auge für jedes Detail erzählt Katharina Adler die Geschichte einer Frau zwischen Welt- und Nervenkriegen, Exil und Erinnerung. Eine Geschichte, in die sich ein halbes Jahrhundert mit seinen Verwerfungen eingeschrieben hat. «Ida» ist ein Plädoyer für die Wahrheit der Empfindung und die Vielfalt ihrer Versionen. Der Roman eines weitreichenden Lebens, das - mit Freuds Praxistür im Rücken - erst seinen Anfang nahm.

Katharina Adler wurde 1980 in München geboren, wo sie nach Stationen in Leipzig und Berlin heute wieder lebt. Mit ihrem viel beachteten Debüt, «Ida», war sie unter anderem für den Alfred-Döblin-Preis, den Klaus-Michael Kühne-Preis und den ZDF-aspekte-Literaturpreis nominiert. 2019 wurde sie mit dem Bayerischen Kunstförderpreis, 2020 mit dem Premio Letterario Adei-Wizo ausgezeichnet. «Iglhaut» (2022) ist ihr zweiter Roman.

Katharina Adler wurde 1980 in München geboren, wo sie nach Stationen in Leipzig und Berlin heute wieder lebt. Mit ihrem viel beachteten Debüt, «Ida», war sie unter anderem für den Alfred-Döblin-Preis, den Klaus-Michael Kühne-Preis und den ZDF-aspekte-Literaturpreis nominiert. 2019 wurde sie mit dem Bayerischen Kunstförderpreis, 2020 mit dem Premio Letterario Adei-Wizo ausgezeichnet. «Iglhaut» (2022) ist ihr zweiter Roman.

I


New York City, 1941

Ankunft


Ida sah nichts außer Rücken, Hüten, Haaren und Himmel, als kurz vor Ellis Island Hunderte Passagiere an Deck der Serpa Pinto drängten. Statt sich um einen besseren Blick zu bemühen, zündete sie sich eine Ankunftszigarette an.

Am New York Harbor kamen die Ärzte an Bord. Name? Ida Adler. Alter? 58, Hautfarbe, medium, Haarfarbe, grey. Sie steckten Ida ein Thermometer in den Mund und prüften, ob ihre Augen klar waren. Dann trugen sie unter dem Punkt physischer und mentaler Gesundheitszustand good ein, worüber Ida lachen musste. Diese Ärzte, die von nichts eine Ahnung hatten.

Ein Beamter fragte sie nach ihrem Herkunftsort, Vienna, letzter Wohnort, Montauban, welche Sprachen sie spreche, German/English/French/Italian, ob sie Polygamistin sei, also wirklich nicht, Anarchistin, konnte man auch nicht behaupten. Sozialdemokratin, sagte sie stolz, aber der Beamte sah sie gleichgültig an. Er klassifizierte sie als Hebrew und schickte sie zu einem Kollegen von der Einreisebehörde. Der fragte, ob sie schon einmal in den Vereinigten Staaten gewesen sei, nein. Ihre Nationalität? Staatenlos, die Staatsbürgerschaft habe sie in Frankreich abgelegt, als es zu gefährlich geworden sei. Ihre Einreiseerlaubnis?

Ida gab sie ihm, er zeichnete das Visum ab und wandte sich mit einem geleierten Welcome to America dem Nächsten zu.

 

Am Ausgang wurde gedrückt und geschoben. Ida hielt ihren Koffer umklammert und beeilte sich, die Gangway hinunterzukommen, um sich eine weitere Zigarette anzustecken, die erste auf festem Boden nach dreizehn Tagen Überfahrt. Vor ihren Augen schwankte es, als habe sie immer noch Meer unter den Füßen. Mit jedem Zug hoffte sie, dass der Schwindel sich bessern würde.

In der Nähe hatten sich ein paar Fotografen versammelt, um die Ankommenden zu beobachten, wohl in der Hoffnung, dass sich ein Prominenter unter den Flüchtlingen auf dem Dampfer befunden hatte. Von ihr nahm keiner Notiz.

Sie schnippte ihre Zigarette zu Boden. Der Schwindel war nicht vergangen, aber es half ja nichts. Kurt hatte ihr gekabelt, dass er sie nicht werde abholen können, er habe jeden Abend Dienst in der Oper, aber er wolle zusehen, dass einer komme, der sie zum Zug nach Chicago bringen werde.

Ida suchte in der Menge nach einem bekannten Gesicht – sie rechnete mit einem der Genossen –, als ihr ein schlanker Mann ins Auge fiel. Er war in Kurts Alter, hielt einen Nelkenstrauß in Händen und ein Papier, auf dem ihr Name stand.

Keiner der Genossen würde Blumen bringen, überlegte sie. Das wäre Geldverschwendung.

«Es sieht aus, als warteten Sie auf Ihre Liebste», sagte sie dann auf Deutsch. «Aber da haben Sie leider den falschen Namen auf Ihrem Papier.»

«Frau Adler!» Der Mann hob seinen Hut. «Hocherfreut, gnädige Frau. Magner, mein Name, Martin Magner. Kurt schickt mich.»

Er reichte ihr den Blumenstrauß und bückte sich, um ihr den Koffer abzunehmen. Sie überließ ihn ihm nur zögerlich.

«Und wer sind Sie genau, wenn ich fragen darf?»

Magner setzte den Koffer auf dem Boden ab, um das Blatt mit Idas Namen einzustecken. «Ein ehemaliger Kollege aus der Zeit in Reichenberg, und mittlerweile darf ich mich hoffentlich auch Freund nennen.»

«Ein Freund, aha», wiederholte Ida.

«Ihr Sohn ist ein großherziger Mann. Er hat dafür gesorgt, dass ich hierherkommen konnte.» Magner sah sie direkt an. «Kurt hat mich gerettet.»

Ida nahm den Koffer wieder selbst in die Hand. «Na, da hatten Sie Glück, lieber Herr Magner. Bei seiner Mutter hat er sich mehr Zeit gelassen.» Sie atmete tief ein und spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. «Um ein Haar hätt’s nicht gereicht.»

Magner lächelte ihre Worte fort. «Aber jetzt sind Sie hier, und ich sorge dafür, dass Sie gut auf den Weg nach Chicago kommen.»

Er bot ihr den Arm. Kurz stutzte sie, verstand nicht recht, was er ihr mit der Geste bedeuten wollte. Verstand dann doch. Sie war wirklich zu lange von jeglichem zivilen Umgang abgeschnitten gewesen.

Sie hakte sich unter und ließ sich von Magner aus dem Hafengelände führen. Noch eine Lockerungszigarette, während sie gingen. Magner sah auf die Uhr.

«Wir haben drei Stunden. Wollen Sie vielleicht etwas zu sich nehmen?»

«Was schlagen Sie vor?»

«Hier in der Nähe gibt es einen chinesischen Imbiss.»

«Chinesisch!» Ida lachte ungläubig. «Solange es keine Linsen sind. Die habe ich in Marokko zur Genüge gehabt.»

 

«Sie müssen meine Neugier entschuldigen», sagte Ida nach einem langen Blick in ihren Suppenteller. «Am Reichenberger Theater haben Sie sich kennengelernt, sagen Sie? Weshalb habe ich nie von Ihnen gehört? Obwohl», sie griff nach dem Suppenlöffel, «wundern darf es mich nicht. Bei meinem Sohn kann ich schon froh sein, wenn er mir die Ehefrau vor der Hochzeit vorstellt.»

Resolut bugsierte sie eine bleiche Teigtasche in ihren Mund.

«In meinem Fall dürfen Sie Kurt keinen Vorwurf machen. Wir kannten uns zu der Zeit nur flüchtig.»

Ida hob den Blick. «Und was haben Sie da am Theater gemacht? Wie ein Musiker sehen Sie mir nämlich nicht aus.»

«Sie haben recht. Als Regisseur war ich dort.»

Ida nickte zufrieden. Nicht schlecht, dieses chinesische Maultascherl, wirklich, und die Brühe war auch schön kräftig.

«Haben Sie hier nun auch ein Haus gefunden, an dem Sie arbeiten können?»

«Nicht ganz. Zum Radio hat es mich verschlagen.»

«Ist Ihr Englisch denn dafür gut genug?»

«Ganz und gar nicht.» Magner schmunzelte.

Ida nahm ihr Gegenüber noch einmal ins Visier. Die hellen, klugen Augen, das sympathische Gesicht. Aber ungewöhnlich große Ohren hatte er, dieser Martin Magner.

«Wegen Ihres Aussehens wird man Sie wohl kaum genommen haben.»

Jetzt lachte Magner frei heraus. «Nein, nein, ich führe schon immer noch Regie. Bei einer Radioserie.»

Ida sah ihn fragend an.

«Das können Sie sich vorstellen wie ein kurzes Theaterstück mit täglicher Fortsetzung», erläuterte er, «nur eben nicht auf der Bühne, sondern im Hörfunk.»

«Aber wofür braucht es denn einen Regisseur, wenn nichts zu sehen ist?»

«Da gibt es genug zu tun», erwiderte Magner. «Wenn Sie wieder einmal hierherkommen, können Sie mich gern im Studio besuchen.»

Ida faltete die Hände vor ihrem Bauch. Wohlig warm fühlte der sich an. Und wie lange war es her, dass sie so ohne irgendeine Sorge hatte plaudern können?

«Am Ende stehe ich früher in Ihrem Studio, als Ihnen lieb sein kann», erwiderte sie.

Magner hob die Hand, um nach der Rechnung zu bitten. «Das würde mich freuen. Nur jetzt, fürchte ich, müssen wir zum Zug.»

 

Kurt hatte im Schlafwagen reserviert. Als sie das richtige Abteil gefunden hatten, stemmte Magner ihren Koffer in die Ablage über der Pritsche. Ida war ans Waschbecken getreten. Sie steckte den Pfropfen in den Abfluss und ließ Wasser ein, doch es floss ab. Sie raffte ihre Ärmel, drückte den Pfropfen noch tiefer ins Becken. Es half nichts, das Wasser verrann weiter.

«Ich fürchte, die Blumen werde ich nicht mitnehmen können.»

«Doch, doch, ich bestehe darauf», sagte Magner. Er zog sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, befeuchtete es, umwickelte damit die Blumenstiele und legte den Strauß ins leere Becken. «Ich sollte langsam … Kann ich noch etwas für Sie tun?»

Ida gab ihm die Hand. «Hat mich gefreut, auf Wiederschauen», sagte sie. Aber dann ließ sie seine Hand nicht los. Die war so weich, so freundlich.

Sie spürte seine Hand noch in ihrer, als der Zug schon abgefahren war, sah die Blumenköpfe über dem Beckenrand wippen, war jetzt doch froh, den Strauß dabeizuhaben. Blumen konnten sie beruhigen, wie sonderbar. Es waren wohl wirklich neue Zeiten angebrochen. Eine ganze Weile starrte sie so vor sich hin. Aus dem Fenster wollte sie nicht sehen, hinaus nach Amerika, das auch wieder nur eine Landschaft war wie das Meer. Vor über zwei Jahren hatte sie Wien verlassen, seit vier Monaten war sie unterwegs. Sie war so erschöpft.

Wenn die letzten Stunden vor einer Ankunft plötzlich quälender scheinen als die Wochen und Tage zuvor. Wenn ein Abteil zum Käfig wird, aber man nicht einmal die Kraft hat aufzustehen. Wenn man sich zu erinnern versucht an dieses New York, aber da nichts ist außer dem feinen Lächeln eines Martin Magner und dem Geschmack von chinesischem Essen. Wenn dieses fremde Essen eigentlich eine gute Stärkung war, aber der Körper nicht nur schwankt, sondern bis hinter die Augen vibriert, und keine Zigarette etwas dagegen ausrichten kann und noch eine nicht und eine weitere auch nicht. Wenn man einschläft und wieder hochschreckt und es immer noch Stunden sind. Wenn man sich die Zeit vertreiben will und an den eigenen Sohn denken, aber da nur sein Kindergesicht erscheint, nicht das des erwachsenen Mannes, und Hände, die einen Takt suchen, keinen finden, wie wild wirbeln. Wenn der Sohneswirbel die Luft im Abteil so verdickt, dass kaum noch etwas in Mund und Nase passt.

 

«Mama!», rief Kurt. «Mama, ist Frühstück vor der Ankunft erwünscht?»

Das war der Schaffner. Ma’am, hatte er gesagt, nicht Mama.

Kurze Zeit später stand eine wahre Käfigmahlzeit vor ihr. Ein Toast mit ranziger Butter und wässriger Kaffee.

«Mama!», rief Kurt. Idas Fuß suchte nach dem Bahnsteig. Über ihre Schulter sah sie sein Gesicht. Ein Schub Freude ging wie ein heller Lichtstrahl...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Casablanca • Chicago • Dora • Emigration • Familiengeschichte • Frauenleben • Holocaust • Judentum • Musik • New York • Oper • Österreich • Politik • Psychoanalyse • Serpa Pinto • Sigmund Freud • Wien
ISBN-10 3-644-04711-1 / 3644047111
ISBN-13 978-3-644-04711-2 / 9783644047112
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