Ada (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2337-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ada -  Christian Berkel
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Wirtschaftswunder, Mauerbau, die 68er-Bewegung - und eine vielschichtige junge Frau, die aus dem Schweigen der Elterngeneration heraustritt. In der noch jungen Bundesrepublik ist die dunkle Vergangenheit für Ada ein Buch, aus dem die Erwachsenen das entscheidende Kapitel herausgerissen haben. Mitten im Wirtschaftswunder sucht sie nach den Teilen, die sich zu einer Identität zusammensetzen lassen und stößt auf eine Leere aus Schweigen und Vergessen. Ada will kein Wunder, sie wünscht sich eine Familie, sie will endlich ihren Vater - aber dann kommt alles anders. Vor dem Hintergrund umwälzender historischer Ereignisse erzählt Christian Berkel von der Schuld und der Liebe, von der Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen - und beweist sich einmal mehr als mitreißender Erzähler.

Christian Berkel, 1957 in West-Berlin geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er war an zahlreichen europäischen Filmproduktionen sowie an Hollywood-Blockbustern beteiligt und wurde u.a. mit dem Bambi, der Goldenen Kamera und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Sein Debütroman Der Apfelbaum wurde von Kritikern und Lesern gleichermaßen gefeiert.

Christian Berkel, 1957 in West-Berlin geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er war an zahlreichen europäischen Filmproduktionen sowie an Hollywood-Blockbustern beteiligt und wurde u.a. mit dem Bambi, der Goldenen Kamera und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Viele Jahre stand er in der ZDF-Serie "Der Kriminalist" vor der Kamera. Er lebt mit seiner Frau Andrea Sawatzki und den beiden Söhnen in Berlin. Sein Debütroman "Der Apfelbaum" wurde ein Bestseller.

Falscher Abgang


Zum ersten Mal sah ich meinen Bruder auf der Bühne wieder. Er stand oben, ich saß unten. Shakespeare, Maß für Maß. Der Titel passte. Der Tag auch, aber das wusste ich noch nicht, als ich die Besetzung im Programmheft las. Es war der 9. November 1989.

Bei seinem Auftritt erschrak ich über seine gelb gefärbten Haare. Tat er es jetzt unserer Mutter gleich? War er Schauspieler geworden, um hinter unzähligen Masken zu verschwinden? So wie sie sich unter ihren Perücken in immer neuen Farben versteckt hatte? Fünf Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Fünf Jahre. Eine lange Zeit. Er war älter geworden. Ich vermutlich auch, aber das ist eine Wirklichkeit, die wir lieber in den Gesichtern der anderen erkennen. Jedenfalls stand er jetzt auf dem Kopf und strampelte mit seinen Beinen durch die Luft. Das Publikum klatschte und johlte, fest entschlossen, sich zu amüsieren.

Ich war gerade vierundvierzig geworden, und entgegen der Familientradition ging ich nicht oft ins Theater. Der ganze Kulturklimbim interessierte mich nur mäßig. Ich starrte geistesabwesend auf die Bühne.

Ganz vorne am Bühnenrand saß ein dicker, kleiner Schauspieler, sein schmales Gesicht und die Halbglatze erinnerten mich an meinen Vater. Er machte gerade tagespolitische Witze. Jetzt erhob er sich, ging ein paar Schritte Richtung Bühnengasse, blieb kurz stehen, machte eine unerwartete, bedeutungsvolle Pause, um sich wieder ans Publikum zu wenden. Später erfuhr ich, dass man so etwas unter Schauspielern einen falschen Abgang nannte, ein Trick, um dem darauffolgenden Satz zu größerer Wirkung zu verhelfen.

»Meine Damen und Herren … liebe Zuschauer … die Grenzen sind offen.« Niemand reagierte.

Er starrte uns ungläubig an, und trippelte an die Rampe.

»Das war kein Witz, liebe Zuschauer … meine Damen … meine Herren … die Mauer … die Mauer ist gefallen … es wurde gerade im Fernsehen verkündet.«

»Im Fernsehen, ist ja zum Piiiiiepen«, hätte meine Mutter jetzt gerufen, wenn sie neben mir säße, aber da saß sie nicht. Für einen Moment glaubte ich, sie zu vermissen. An dem Tag, an dem ich zum zweiten Mal heiratete, hatte es geknallt. Meine erste Hochzeit hatte in den Siebzigern stattgefunden, ein Irrtum, kurz und schmerzlos, nicht mehr als eine Wolke am fernen Horizont. Und dann war eine billige Uhr von Tchibo der Startschuss für ein nicht enden wollendes Zerwürfnis von zunehmend alttestamentarischer Wucht gewesen. Fünf Jahre war das her, und seit achtundzwanzig Jahren durchzog eine Mauer diese Stadt. Als ich sie mit neun Jahren zum ersten Mal schwankend betreten hatte, nach dreiwöchiger Schiffsfahrt auf der Juan de Garay aus Buenos Aires nicht mehr an festen Boden gewöhnt, war sie noch ungeteilt gewesen, aber schon zerrissen. Keine Heimat. War es auch das, worüber wir seit fünf Jahren schwiegen? Zögerlich tröpfelte Applaus in die Stille. Die Menschen schienen es zu begreifen. Die Mauer war gefallen.

Nach der Vorstellung suchte ich klopfenden Herzens den Bühneneingang. Ich fühlte mich an den Personal- und Lieferanteneingang verschiedener Hotels erinnert, in denen ich quer über den Globus verteilt gearbeitet hatte, bevor ich bei meiner jetzigen Tätigkeit gelandet war. Ich passierte die Schranke, überquerte einen Parkplatz und konnte gerade noch zur Seite springen, um nicht von einem vorbeijagenden weißen Mercedes überfahren zu werden. Noch völlig außer mir gelangte ich über ein paar Stufen zu einer Tür, hinter der sich die verglaste Pförtnerloge befand. Zwischen ein paar verdrucksten Gestalten wartete ich geduldig auf meinen Bruder. Ich war die Ältere, ich musste den ersten Schritt machen, das war ich mir und unserer Geschichte schuldig.

»Der is’ schon längst raus. So lange wie Se hier stehen, müssten Se ihm eigentlich begegnet sein. ’n weißer Mercedes, ’n 124er. Fährt immer wie ’ne gesengte Sau.«

Wie mein Vater, dachte ich. Wahrscheinlich hatte ich ihn nicht erkannt, weil er einen Hut oder eine Schiebermütze trug. Auch wie mein Vater. Alles an ihm erinnerte an meinen, an unseren Vater. Konnte ich deswegen seine Gegenwart so schwer ertragen? Den einen ersehnt, vom anderen überrumpelt? Von beiden enttäuscht? Wieder eine verpasste Gelegenheit?

»Wissen Sie, wohin er wollte?«

»Bin ick Pförtner oder Kindermädchen?«

Wie liebte ich diese Berliner Freundlichkeit. Man wusste gleich, woran man war, und wurde auch noch unentgeltlich belehrt.

»Na, nu gucken Se nich’ so traurig. Der wird dahin sein, wo sie jetzt alle hin sind.«

»Wohin denn?«

»Mensch Kindchen, haben Se Tomaten auf den Augen?«

Er deutete auf den Bildschirm des kleinen Fernsehers, der über seinem Kopf hing. Ich starrte auf die flimmernden Bilder. Menschen auf der Berliner Mauer! Aus Trabis, die bläulichen Dunst verbreiteten, leuchteten Augen hervor. Energisches Hämmern, Schreie, johlende Rufe. Grenzübergang Invalidenstraße. Da musste ich hin.

»Kindchen hat mich schon lange keiner mehr genannt«, sagte ich und fragte mich, als ich die Treppen heruntersprang, ob jetzt auch meine Augen leuchteten.

Es war frisch. Kalt sogar. Sehr kalt. Ich saß zitternd in meinem Taxi.

»Was bibbern Se denn so, junge Frau?«

Vom Kindchen zur jungen Frau, ich war gespannt, was die Nacht noch für mich bereithielt. Mürrisch suchte der hagere Fahrer im Rückspiegel nach meinem Gesicht. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, dann sah ich im Auto neben uns ein aufgeregt gestikulierendes Pärchen. Hinter ihnen zwei Freundinnen. Alle schnatterten aufgekratzt durcheinander, als wären sie unterwegs zu einem Rockkonzert.

»Gottchen, nee, was für ein Theater. Ick glaube, mein Blechpanzer kriegt Masern.«

Ich sparte mir die Frage, ob er hier geboren war. Auch mein Vater war ein waschechter Berliner. Als wir aus Argentinien kamen, verstand ich dieses eigentümliche Nuscheln nicht. Mein Vater bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen. Ich verzichtete ihm zuliebe auf meine Muttersprache und lernte Deutsch in meinem neuen Vaterland.

»Ick kann das alles nich’ glauben! Soll ick Ihnen mal sagen, wie ick rüberjemacht habe, also ick meine rübergemacht, über die Grenze, soll das heißen? Sie sind ja wahrscheinlich aus Wessieland.«

»Sie meinen West-Berlin?«

»West-Berlin? Sie sind jut. Nee, wir sind hier Berlin, gibt kein West-Berlin, das sagen nur die Zonis.«

»Wer?«

»Na, die Zonis, die aus der Ostzone. Sie kommen wirklich aus Wessieland, also aus dem Westen, das merkt man sofort. Auch wie Sie angezogen sind. Ick, also ich werde mich mal hochdeutschen, damit Sie mich besser verstehen.«

Die Berliner wussten nicht nur alles, sie wussten es auch immer besser.

»Vielen Dank, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.«

»Na, spielt doch keine Mandoline. Also, wie gesagt«, fuhr er in nöligem Singsang fort, »unter die Sitzbank habe ich mich geklemmt. Ich hab’ gedacht, ick ersticke, ja? Aber das war es mir wert. Lieber tot als rot. Die haben mich mit der Mauer kalt erwischt. Ick war in der Nacht vorher noch bei meiner Freundin zu Besuch in Pankow gewesen, schön jefeiert mit allem, was dazugehört, ja, und was soll ich sagen, am nächsten Morgen, ja, da haben die das in einem Affenzahn hochgezogen, so schnell konntste gar nich’ kieken. Zack, peng, Feierabend. Antifaschistischer Schutzwall, oder wie sie das Ding getauft haben. Ich war viel zu spät aufgewacht, Morgenstund hat Gold im Mund und Blei im Hintern, ick hatte die Zukunft verpennt. Ick weiß noch, wie ick ’n paar Stunden später da jestanden habe, wie bestellt und nich’ abjeholt, sage ick Ihnen. Ick … nee, also wirklich, ick kam mir vor wie Max Pumpe, der durch die Rippen kiekt, wie ’n Affe durchs Gitter, also guckt, meine ich, ja? Half alles nix. Ich hab’ vom ersten Tag an nur darüber nachgedacht, wie ich da wieder rauskomme. Aber so einfach war das nich’. Und dann habe ich das einzig Richtige gemacht. Ick hab meine Klappe jehalten – nich ma meine engsten Genossen hatten auch nur den leisesten Schimmer –, bin unter die Rückbank von der Droschke von meinen Chef jeklettert, der wusste natürlich nüscht, hat an de Grenze wahrscheinlich schön unschuldig aus der Wäsche jeguckt, und bei der ersten Tankstelle im Westen war ick W wie weg. Mann, war ick froh. Jut, im Osten durfte ick als Arbeiter studieren, hier haben sie das nich anerkannt, egal, habe ich mir gesagt, fährste eben Taxe. Und was soll ich Ihnen sagen, zwei Häuser hab’ ich mir zusammengekurvt, meine beiden Töchter studieren, die eine Tiermedizin, die andere Jura, was soll mir noch passieren, frage ich Sie? Ja. Und jetzt? Jetzt werden wir uns aber umgucken, wenn die alle rüberkommen, das sage ich Ihnen. Um-gu-cken werden wir uns. Gehen Sie mal rüber, laufen Sie da mal ’n bissken durch die Straßen. Um den Hals werden die Ihnen fallen. Aber warten Sie mal ’n paar Wochen, dann sieht das nämlich janz anders aus. Die werden herkommen und das Händchen aufhalten. Jelernt is jelernt. Die wissen, wie man andern die Milch aus ’m Kaffee zieht. Das wissen die aber janz...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1968 • 20. Jahrhundert • 2. Juni • 50er • 60er • 60er Jahre • 68er • Alte Liebe • Apfelbaum • Argentinien • Benno Ohnesorg • Berlin • Berlin 1968 • Bestseller • Bestseller Familienromane • Beziehung • Bücher 2020 • Buenos Aires • Depression • Der Apfelbaum • Der Kriminalist • Deutsche • Deutsche Geschichte • Deutsche Literatur • Die verlorene Tochter • Drama • Einsamkeit • Emanzipation • Entnazifizierung • Familiendrama • Familienroman • Familiensaga • Frauen • Gegenwartsliteratur • Generation • Generationen • Generationenkonflikt • Generationenroman • Geschenk • Geschichte • Gesellschaftsroman • Heimat • Heranwachsen • Herbstnovitäten 2020 • Herkunft • Hippies • Historische Familiengeschichte • Holocaust • Identität • Jahre • Liebe • Liebesroman • Liebe und Beziehungen • Literatur • Mauerbau • Nazis • Neue Bestseller • neue Romane • Neuerscheinung • Paris • Paris 1968 • Quentin Tarantino • Roman • Romane 2020 • Schahbesuch • Sechziger • Sechziger Jahre • Studentenbewegung • Studentenrevolte • Suche • Weltliteratur • Wiederaufbau • Wirtschaftswunder • Woodstock
ISBN-10 3-8437-2337-0 / 3843723370
ISBN-13 978-3-8437-2337-4 / 9783843723374
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