Atmen (eBook)

Wie die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
368 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9410-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Atmen -  Jessica Braun
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Jeder Mensch, der auf die Welt kommt, holt in der ersten Minute Luft. Ab dann arbeitet die Lunge normalerweise von ganz alleine. Aber chronische Lungenkrankheiten, Asthma oder Schlafapnoe sind heute zu Volkskrankheiten geworden, und auch all jene, die nicht krank sind, japsen, keuchen, schnauben und schnaufen. Die Autorin Jessica Braun, die selbst leicht aus dem Atemtakt zu bringen ist, macht sich auf den Weg, das Luftholen neu zu lernen. Sie begleitet eine Gebärende beim Hecheln, besucht ein Schlaflabor, lässt eine Atemdiagnose durchführen, meditiert mit einem indischen Guru, taucht mit Apnoetauchern ab und schaut einer Domina dabei zu, wie diese ihrem Kunden die Luft abdrückt. Ihre Recherche führt sie zu Forschern und Schauspielern, Biathleten und Yogalehrern. Sie zeigt, wie der Atem Körper und Seele verbindet. Und dass jeder die Kunst des Atmens erlernen und sein Leben verändern kann.

Jessica Braun, geboren 1975, ist Journalistin und erfolgreiche Buchautorin und lebt in Berlin. Ihre Texte erscheinen in der Zeit, Süddeutschen Zeitung, Salon, Feinschmecker und Glamour. Sie hat unter anderem die Bücher Your Home is my Castle. Als Wohnungstauscher um die Welt und Träum schön. Reisetagebuch für die Nacht veröffentlicht.

TEIL I: ALLES IST ATEM

2. DIE SCHNAUFENDE MASCHINE: SO ATMET DER MENSCH

Die Frauenklinik Taxisstraße liegt gerahmt von Bäumen in einer ruhigen Seitenstraße im Münchner Stadtteil Gern. Vor über hundert Jahren als Mütterheim gegründet, hat sie sich zu einer Spezialklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe entwickelt, in der jährlich mehr als 3700 Kinder geboren werden. Dr. Nikolaus von Obernitz, Chefarzt der Abteilung für Geburtshilfe, empfängt mich in seinem Büro. Die Geburt, obwohl ein schönes Ereignis, ist für viele Frauen ein körperlicher, oft auch seelischer Kraftakt. Ich denke: Wenn einem jemand dieses Erlebnis leichter machen kann, dann von Obernitz. Mit seinem geduldigen Lächeln und den wie aus Marmor gemeißelten Locken ist er das Idealbild eines Geburtshelfers. Die Fotos seiner Kinder an der Wand wirken auf werdende Mütter sicher ebenfalls beruhigend.

Als ich von Obernitz zum Gespräch treffe, habe ich bereits drei Kaiserschnitte hinter mir – als Zuschauerin. Wir atmen unser ganzes Leben lang, aber kein Atemzug ist so entscheidend wie der erste. Wo, wenn nicht im Kreißsaal, kann ich etwas darüber lernen, wie die Atmung funktioniert? Und dabei geht es nicht nur um die Atmung der Neugeborenen. In den letzten Wochen der Schwangerschaft drückt die Gebärmutter zunehmend auf die untere Hohlvene, die dahinter verläuft. Es fließt weniger Blut zurück zum Herzen, was zu Sauerstoffmangel und Herzrasen führen kann. Für die Mutter fühlt sich das an wie eine Panikattacke. Dazu kommt der Stress, falls ein Kaiserschnitt nötig wird. Geburt ist immer eine Grenzerfahrung, sagt Nikolaus von Obernitz: »Während der Schwangerschaft verbindet Mutter und Kind eine symbiotische Beziehung. Sie atmen miteinander, sind eins. Durch die Geburt werden sie getrennt. Das ist in jeder Hinsicht schmerzhaft.« Während einer Spontangeburt – die auch mal vierzehn Stunden dauern kann – helfen Hormone und Wehen dabei, die Lunge auf den ersten Atemzug vorzubereiten. Ein Kaiserschnitt dauert nicht mal fünf Minuten. »Die Quote an Kindern, die nach der Geburt Atemunterstützung brauchen, ist dadurch etwas höher als bei denen, die durch Spontangeburt auf die Welt kommen«, sagt von Obernitz. Manche haben eine wet lung – ihre Lunge ist noch mit Resten des Fruchtwassers gefüllt. Das beeinträchtigt den Gasaustausch. Ihr Leben an der Luft beginnt mit Atemnot.

RAUS ZUM LUFTSCHNAPPEN

Spontangeburt – ein absurder Name für einen Vorgang, der auch mal vierzehn Stunden dauern kann. Ayas Mutter kämpft sich seit Stunden durch die Wehen. Das Entbindungszimmer, in dem sie liegt, ist ein heller, freundlicher Raum. Hinge nicht die große OP-Lampe über der Liege, könnte man ihn für ein geräumiges Krankenzimmer halten. Draußen scheint die Sonne, aber die Heizung bullert. Neugeborene sind nicht gut darin, ihre Körpertemperatur zu halten. Deshalb ist es in vielen Räumen der Klinik so warm wie im Ruhebereich einer Sauna. Die werdende Mutter liegt auf dem Rücken, hat die Füße aufgestellt, die Hände in die Kniekehlen geklemmt. So kann sie sich hochziehen, wenn die nächste Kontraktion kommt. Diese lassen ihr gerade nicht viel Zeit zum Durchatmen. Ihre Lippen sind blass vor Anstrengung, die Wangen rot, ihre Stirn feucht. Sie seufzt gequält. Kristina Langer, die Hebamme, legt ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel: »Pressen, pressen« ermutigt sie. »Sehr gut. Jetzt atmen.« Ayas Mutter sinkt zurück auf die Liege, öffnet die Augen. Versucht, tief ein- und auszuatmen. Doch der Schmerz hält dagegen. Sie kann nur nach Luft schnappen. Ihr Mann atmet besorgt mit ihr. Seine Hand ruht auf ihrer Schulter, die Lippen dicht an ihrem Ohr. »Noch nicht«, bremst die Hebamme den nächsten Schub. »Atmen Sie in den Schmerz hinein.« In nordafrikanischen Ländern heißt es, die Gebärende stehe mit einem Fuß im Leben und mit dem anderen im Jenseits. Ayas Mutter sieht aus, als würde sie jetzt lieber sterben, als sich durch noch eine Wehe zu atmen. Aber sie holt gehorsam Luft. »Der Atem hilft der Mutter, nicht nur sich zu entspannen«, hat mir die Hebamme vor Betreten des Entbindungszimmers erklärt. »Wenn sie gleichmäßig und tief atmet, versorgt sie ihr Kind auch besser mit Sauerstoff.«

Die Schmerzen während der Geburt sind extrem. In einer schwedischen Studie gaben über vierzig Prozent der Frauen an, die Geburt sei das schlimmste Erlebnis gewesen, das sie je hatten. Kein Wunder, wenn einem dabei der Atem stockt. Oder man Angst oder sogar Panik bekommt. Der Körper befindet sich schließlich im Ausnahmezustand. Zu flach darf die Atmung der Mutter jedoch nicht werden. Beim Kind kommt sonst nicht mehr genug an. Im Geburtsvorbereitungskurs – oft als »Hechelkurs« verspottet – üben werdende Mütter deshalb Atemtechniken. Diese sollen ihnen helfen, sich trotz der heftigen Kontraktionen zu entspannen. »Schmerz lässt sich durch bewusste Atmung lindern«, ist die Hebamme überzeugt.

Im Entbindungszimmer ist es jetzt so weit: Die kleine Aya ist kurz davor, auf die Welt zu kommen. Eine Fachärztin für Geburtshilfe betritt den Raum. Sie befühlt den Bauch, streicht sacht darüber. »Sie können Ihre Tochter schon berühren«, sagt die Hebamme. Ayas Mutter beugt sich vor, tastet verzückt über den Scheitel in ihrem Schoß. Dann zwingt die nächste Wehe sie wieder zurück auf die Liege. Für ihre Tochter ist Atmung etwas völlig Neues. Vierzig Wochen lang wuchs sie im Bauch ihrer Mutter heran. Schon in der dritten – sie sah da eigentlich noch aus wie ein Zellball – stülpte sich aus ihrem Vorderdarm das heraus, was sie heute zum ersten Mal benutzen wird: ihre Lunge. Noch ist diese mit Flüssigkeit gefüllt. Eine Schutzvorrichtung, damit das fein verästelte Organ nicht kollabiert. Aya hat trotzdem schon das Atmen geübt. Ihre Trainingsmethode: Schluckauf. Dabei zieht sich das Zwerchfell zusammen, Fruchtwasser flutet die Lunge, diese vergrößert sich. Ihre Mutter konnte das als Minibeben spüren. In ihrem Bauch bekommt das Ungeborene Sauerstoff durch die Nabelschnur. In der Plazenta befindet sich eine Membran, die Gase und Nährstoffe durchlässt, ohne dass sich das Blut von Mutter und Kind vermischt. Mit den Wehen wird nun aber zunehmend Flüssigkeit aus der Lunge gepresst. Aya muss sich von ihrer feuchten, warmen Umgebung verabschieden.

Dass sie nun raus soll, kommt für sie sicher überraschend. Wahrscheinlich ist der Vorgang auch schmerzhaft. Das weiß niemand so genau. Wir waren zwar alle schon mal an diesem Punkt, aber keiner erinnert sich daran. »Jetzt. Pressen Sie! Pressen!« Ayas Mutter zittert vor Anstrengung. Von ihrer Tochter sind erst Stirn, dann die geschlossenen Augen, die Nase zu sehen. Noch ein Schub und sie dreht sich. Die Hebamme befreit, begleitet von einem Schwall Wasser und Blut, ihre Schultern aus dem Körper, der neun Monate lang ihr Zuhause war. Langer greift ihr unter die Achseln, hebt sie hoch. Das Mädchen liegt bäuchlings auf ihrem Unterarm. Es hat die Augen fest geschlossen. Seine Haare kleben nass und schwarz am Kopf, seine Hautfarbe ist von einem wächsernen Blau. Den Po bedeckt eine Schicht gelblicher Käseschmiere. Von seinem Bauch hängt die Nabelschnur, ein dickes, in sich gedrehtes blauweißes Kabel. »Sie haben es geschafft!«, verkündet Langer. Die Kleine noch nicht ganz. Innerhalb von sechzig Sekunden soll sie ihren ersten Atemzug tun. Nur der erste von mehreren hundert Millionen. Aber so lange dieser auf sich warten lässt, halten alle anderen im Raum ebenfalls den Atem an.

DER ERSTE ATEMZUG

Ayas neue Umgebung ist kalt und fremd. Sie liegt auf dem Unterarm der Ärztin. Ihre Mutter schluchzt vor Freude – oder Erleichterung. Die Kleine hat die Augen zugekniffen. Beim Durchtritt durch den engen Geburtskanal fährt durch den Körper des Babys ein Hormonstoß, der stärker ist als bei einem Herzinfarkt. Dieser sorgt dafür, dass die Lunge das restliche Fruchtwasser abbaut. Aya knautscht ihr Gesicht zusammen. Keucht. Ihr erster Atemzug. Dann krächzt sie wie eine schlecht gelaunte Katze.

Von nun an rauscht mit jedem Heben des Brustkorbs Luft in die Luftröhre. Folgt man diesem Luftstrom für etwa zwölf Zentimeter nach unten, gelangt man an die erste Verzweigung des Bronchialsystems, die Hauptbronchien. Diese teilen sich in immer kleinere Äste, insgesamt über zwanzig Mal. In Kunststoff gegossen würde dieser untere Bereich von Ayas Atemtrakt aussehen wie ein Baum ohne Blätter. Daher auch die Bezeichnung Bronchialbaum. Seine Äste enden in mikroskopisch feinen Kanälen: den Bronchioli respiratorii – ein Name wie eine italienische Nudelsorte. An diesen respiratorischen Bronchiolen bündeln sich winzige Lungenbläschen, die Alveolen.

Die Lungenbläschen sind das eigentliche »atmende Gewebe« in der Lunge. Ohne sie ist kein Gasaustausch möglich. Weil sie sich erst ab der 20. Schwangerschaftswoche entwickeln, könnte einem Kind, das vorher auf die Welt kommt, auch keine Beatmungsmaschine helfen. Damit sie beweglich bleiben, sind ihre Wände mit einem Film namens Surfactant ausgekleidet. Dieser macht es einfacher, die Lunge zu dehnen und verhindert, dass die kleinen Knubbel mit der Ausatmung in sich zusammenfallen. »Der Film entwickelt sich erst um die 24. Woche«, hat mir Nikolaus von Obernitz erklärt. Droht eine Frühgeburt, spritzen die Ärzte der Mutter deshalb oft Kortison, um die Reifung der Lungen des Kindes voranzutreiben.

Noch ist Ayas Lunge im Wachstum, zählt geschätzt erst zwischen 50 bis 100 Millionen Lungenbläschen. Wenn das Organ um das fünfzehnte Lebensjahr herum voll ausgebildet ist,...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alltag • Atemübungen • Atmen • Darm mit Charme • Gesundheit • Körper • Ratgeber • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • Yoga
ISBN-10 3-0369-9410-6 / 3036994106
ISBN-13 978-3-0369-9410-9 / 9783036994109
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