Zu schön, um falsch zu sein (eBook)

Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
576 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402867-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zu schön, um falsch zu sein -  Olaf L. Müller
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Sind Wahrheit und Schönheit verbunden? Hilft es Naturwissenschaftlern, wenn sie ästhetisch denken? Lehrt uns Schönheit etwas über die Natur? Wenn einem wissenschaftlichen Gedanken Schönheit zukommt, steigt seine Glaubwürdigkeit: Zu diesem Satz haben sich führende Physiker seit Kepler und Newton bekannt, ohne rot zu werden. Umgekehrt ist manch ein wissenschaftlicher Gedanke zu hässlich, um wahr zu sein, und muss daher sterben. Doch warum orientieren sich Physiker so erfolgreich an ihrem Sinn für Ästhetik? Olaf L. Müller schaut den Genies bei ihrer schönheitsbeflissenen Arbeit über die Schulter. Wie er anhand zahlloser Beispiele aus Kunst, Musik und Dichtung vorführt, bestehen enge ästhetische Verwandtschaften zwischen künstlerischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften: Unser Schönheitssinn konstituiert einen Teil dessen, was wir in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis anstreben.

Olaf L. Müller, geboren 1966, studierte in Göttingen Philosophie und Mathematik (mit den Nebenfächern Informatik und Volks­wirtschaftslehre). Nach Forschungsaufenthalten in Los Angeles (UCLA), Harvard und Krakau lehrte er in Göttingen und München (LMU). Seit 2003 ist er Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen: »Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben« (2015).

Olaf L. Müller, geboren 1966, studierte in Göttingen Philosophie und Mathematik (mit den Nebenfächern Informatik und Volks­wirtschaftslehre). Nach Forschungsaufenthalten in Los Angeles (UCLA), Harvard und Krakau lehrte er in Göttingen und München (LMU). Seit 2003 ist er Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen: »Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben« (2015).

Wer geduldig ist, kann sich von diesem Buch wunderbar inspirieren lassen.

Vorwort


In diesem Buch möchte ich Sie mit einem Erlebnis beglücken und mit einem Rätsel konfrontieren. Für das Erlebnis lade ich Sie ein, einige naturwissenschaftliche Errungenschaften zu betrachten – aber nicht in erster Linie mit dem Realitätssinn, sondern mit dem Schönheitssinn. Ich verspreche, dass Sie dabei etwas erleben werden, was Ihnen aus dem Umgang mit Kunst wohlvertraut ist: Einige großartige Experimente aus der Geschichte der Physik erfreuen unseren Sinn für Ästhetik nicht anders als einige großartige Kunstwerke aus Musik-, Film-, Literatur- und Kunstgeschichte.

Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass die Schönheit eines Experiments und beispielsweise eines Musikstücks exakt demselben Muster folgt. Auch in den verschiedenen Kunstgattungen und -epochen verläuft Schönheit nicht auf exakt denselben Bahnen; selbst innerhalb des Œuvres eines Künstlers tut sie es nicht. Und doch arbeitet unser Schönheitssinn in allen diesen Bereichen nach vergleichbaren Richtlinien, auch in der Naturwissenschaft. Das Wort »Schönheit« ist überall gut am Platze; man kann es sogar mit Fug und Recht auf naturwissenschaftliche Theorien anwenden.

Damit komme ich zu dem Rätsel, das ich versprochen habe. Wie ein Blick in die Geschichte der Physik ohne jeden Zweifel zeigt, spielt der Sinn für Ästhetik eine herausragende Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt. Gerade die Genies der neuzeitlichen und modernen Physik setzen ihre Karten immer wieder auf das Schöne.

Ästhetischen Experimenten schenken sie größere Aufmerksamkeit als deren hässlichen Gebrüdern, darum feilen sie jahrelang an der Schönheit ihrer Versuchsaufbauten – und verschönern ihre Versuchsergebnisse. Beispielsweise Newton, der wohl wichtigste Physiker der Neuzeit: Mit einem herrlichen Experiment war es ihm gelungen, aus dem weißen Sonnenlicht die regenbogenbunten Bestandteile herauszuholen, die laut seiner Theorie darin enthalten sind; wenn die Theorie stimmt (so Newton), dann muss sich das regenbogenbunte Licht des Sonnenspektrums wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen. Was vorwärts funktioniert, muss auch rückwärts gehen.

Schöne Idee! Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht gelingen; Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Schmutzeffekte übersehen, die das gewonnene »Weiß« störten. Statt sich damit abzufinden und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen (wie es nur zu oft geschieht), spuckte er in die Hände und versuchte es immer wieder. Innerhalb von über dreißig Jahren hat er ein halbes Dutzend Weißsynthesen veröffentlicht, eine schöner als die andere – aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente vertieft, wird schnell vom ruhelosen Perfektionismus dieses großen Experimentierkünstlers gefesselt. Wie Sie sehen werden, geht die Geschichte gut aus; noch zu Newtons Lebzeiten sollte sein Schüler Desaguliers das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen, und man hört förmlich Newtons Jubel über diesen Triumph.

Wie bei der experimentellen Arbeit, so auch bei der theoretischen: Die Physiker investieren ungeheure Mühen in die Formulierung schöner Theorien und geben sich nicht mit ihren hässlichen Schwestern zufrieden. Ja, manch eine Theorie (an die wir bis heute glauben) hat sich anfangs überhaupt nur aufgrund ihrer Schönheit durchgesetzt – und zwar selbst dann, wenn die von ihr verdrängte Theorie seinerzeit besser zu den Daten passte.

Offenbar halten Physiker schöne Errungenschaften ihrer wissenschaftlichen Arbeit für glaubwürdiger als unschöne. Sie verfahren nach dem Motto: Zu schön, um falsch zu sein. Und sie sind damit verblüffend erfolgreich, nicht anders als ihre Kolleginnen und Kollegen aus Chemie oder Biologie.

Wieso zum Teufel gilt das Motto in der Naturwissenschaft, insbesondere in der Physik? So lautet das Rätsel, das ich aufwerfen möchte. Weshalb können wir mit einer schönheitsbeflissenen Methode so viele wissenschaftliche Erfolge feiern? Warum dürfen wir unseren, menschlichen, Sinn für Ästhetik ins Spiel bringen, wenn wir herausfinden wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Als einst unser Universum mit einem großen Knall entstanden ist und sich seine Strukturen herausbildeten – warum entstanden dabei ausgerechnet diejenigen Strukturen, die Milliarden Jahre später von unbedeutenden Wesen in einer winzigen Ecke des Universums als hochästhetisch empfunden werden sollten? Wie man es auch dreht und wendet: Es grenzt an ein Wunder, dass Physiker ihren Schönheitssinn erfolgreich einsetzen können, wenn sie auf Wahrheitssuche sind.

Dass ich die richtige Antwort auf das Wunder wüsste, kann ich nicht behaupten; keiner weiß sie, soweit ich sehe. Es ist sogar umstritten, ob hier ein Wunder vorliegt. Selbstverständlich werde ich Ihnen die besten Antworten vorstellen, die mir begegnet oder eingefallen sind. Aber ich werde den Streit darüber nicht bis an den Punkt führen, wo sich das Gewicht der Argumente zwingend in eine Richtung neigt. Ist das schlimm? Ich meine nicht. Zuweilen tun wir gut daran, ein Rätsel in seiner ganzen Tiefe auszumessen – statt übereilt danach zu trachten, es zum Verschwinden zu bringen.

Kein Zweifel, es handelt sich um ein tiefes Rätsel. Die Naturwissenschaft ist eines der wichtigsten und mächtigsten Unterfangen, das uns Menschen offensteht, unser gesamtes Leben durchformt und hoffentlich verbessert. Und unser Schönheitssinn ist eine der wichtigsten und mächtigsten Quellen der Freude, ja des guten, gelingenden Lebens. Wenn nun Naturwissenschaft und Schönheitssinn auf innigere Weise zusammenhängen, als man kühlerweise denken könnte, so ist diese Tatsache von eminenter Bedeutung. Und das gilt auch dann, wenn wir uns noch keinen Reim darauf machen können. Um es zu wiederholen, ich kann das Rätsel nur aufwerfen, nicht lösen.

Da ich ohnehin gerade dabei bin, Schwächen einzugestehen, kann ich auf diesem Weg getrost noch ein Stückchen weitergehen. Und zwar habe ich das vorliegende Buch aus Versehen geschrieben. Eigentlich war ich mit einem anderen Buchprojekt zur Geschichte und Wissenschaftstheorie der Optik unterwegs, da fiel mir auf, wie ästhetisch es in dieser physikalischen Disziplin zugeht – und wieviel Freude mir das bereitet. Also wollte ich ein kurzes Kapitel zu diesem Thema einschieben. Ich besorgte mir einen ständig wachsenden Berg an Literatur, war von vielem fasziniert, von allem verwirrt und mit nichts zufrieden; so ist mir das Thema explodiert, sieben fette Jahre lang.

Es mag viele verschiedene Zugänge zur Schönheit in der Physik geben; man könnte z.B. systematisch argumentierend vorgehen oder historisch sortierend. Weder das eine noch das andere finden Sie im Herzstück dieses Buchs, denn ich gehe in erster Linie vor wie ein Kundschafter in unvertrautem Gelände – explorativ, verbindend und sammelnd.

Mein Hauptziel besteht darin, anhand konkreter Fälle aus der Physikgeschichte einige derjenigen vielfältigen Gesichtspunkte aufzuspüren und vorzuführen, die für die ästhetische Beurteilung physikalischer Experimente, Argumente oder Theorien einschlägig sind, z.B. Symmetrie oder Überraschungskraft. Diese Gesichtspunkte lassen sich in ihrer ästhetischen Wirkung nur dann nachvollziehen, wenn man ihre Gegenstände (die fraglichen physikalischen Errungenschaften) klar vor Augen hat; daher lege ich großes Gewicht auf die Erklärung der betrachteten Experimente und Theorien.

Aber das alleine genügt nicht, wie ich meine. Bevor wir in der Physik von ästhetischen Errungenschaften sprechen können, müssen wir uns vergewissern, dass sie sich an Errungenschaften in den Künsten anschließen lassen; die einschlägigen Gesichtspunkte müssen in beiden Bereichen zueinander passen, müssen irgendwie miteinander verwandt sein.

Systematisch argumentierend lässt sich diese Verbindung nicht erzwingen. Warum nicht? Unter anderem deshalb nicht, weil keine allgemeine Definition des Schönen oder des Ästhetischen in Sicht ist, die für alle Bereiche gut funktioniert und sich zum Subsumieren eignet. Das Feld der Phänomene ist bei weitem zu vielfältig für so eine Herangehensweise.

Stattdessen könnte man versuchen, eine historische Ordnung in die Phänomene zu bringen, also transdisziplinär der Entwicklung des Schönheitssinns durch den Lauf der Jahrhunderte nachzuspüren. Ich habe mich gegen diese Herangehensweise entschieden, weil sie dem Gedankengang ein zu starres zeitliches Korsett aufgezwungen hätte. In der Tat: Wenn wir schon Grenzen sprengen und munter von einer (z.B. naturwissenschaftlichen) Disziplin in die andere (z.B. künstlerische) Disziplin springen – warum sollen wir nicht auch mutig von einer Epoche in die andere springen, etwa von der frühen Neuzeit in die Moderne – und von dort zurück ins Barock? Warum nicht Transdisziplinarität mit Transtemporalität verbinden?

Oder wäre das etwa zu undiszipliniert? Wieso denn! Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass man nur dann über einen kulturellen Gegenstand sprechen darf, wenn man seine Vorgeschichte einbezieht. Meiner Ansicht nach bietet der historische Denkstil lediglich einen der vielen zulässigen Zugänge zu einem Gegenstand; je nach Lage der Dinge kann er die Betrachtung fördern oder hemmen – bei meinem Thema wäre er hemmend, weil er bestimmte erhellende Vergleiche von vornherein ausschließt. Demgegenüber werde ich ohne historische Skrupel bei einem newtonischen Experiment u.a. auf Charakteristika aufmerksam machen, die sich in einem bestimmten Gemälde Mondrians wiederfinden; bei...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Cage • Einstein • Experiment • Farben • Glaubwürdigkeit • Goethe • Kepler • Kopernikus • Newton • Quarks • Schock • Schönheit • Standard-Modell • Stille • Symmetrie • Synthese
ISBN-10 3-10-402867-2 / 3104028672
ISBN-13 978-3-10-402867-5 / 9783104028675
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