Frühe Vögel (eBook)

Roman

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
298 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0402-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frühe Vögel - Matthias Senkel
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Die Überwindung der Schwerkraft durchs Erzählen. Schon als Kind will Theodor Leudoldt hoch hinaus, am liebsten ganz bis zu den Sternen. Ein ambitioniertes Projekt in Zeiten des späten Kaiserreichs, doch Visionen kennen keine Grenzen. Und seine Frau und seine Tochter Ursula stehen ihm nicht nach. Ihre Fliehkraftversuche mit Tieren im Keller der Leudoldt'schen Villa lassen auf nichts anderes schließen: Ihr Ziel ist das All. Doch erst nach Kriegsende rückt die Erfüllung des Familientraums durch die Mitarbeit am US-Raumfahrtprogramm in der Raketenstadt Twickenham ein gehöriges Stück näher. Auch wenn Frauen für das Astronautentraining nicht zugelassen sind, das Schicksal der frühen Vögel erfüllt sich dennoch - im Space Race mit den Sowjets. Nahezu schwerelos und freihändig die Weltgeschichte bereisend erzählt 'Frühe Vögel' von einer denkwürdigen Erfinder-Dynastie und erfindet sich im Erzählen selbst immer wieder neu. 'Ein Roman? Nein, ein fliegender Teppich oder besser: ein Raumschiff inklusive Zeitmaschine, das den Leser in Welten und Epochen entführt, die man so noch nicht erlebt hat.' Thomas von Steinaecker.

Matthias Senkel, geb. 1977 in Greiz, lebt und arbeitet in Leipzig, Preisträger des 17.OpenMike sowie Gewinner desPreises der taz-Publikumsjury. Er schreibt Lyrik und Prosaund veröffentlichte seine Texte bislang in Zeitschriften und Anthologien.

Prolog: Worin ein Teil der Zukunft bereits Vergangenheit ist 8
Eins: Worin es mit Theodor aufwärtsgehen soll (Arc ? Tour)* 12
Zwei: Worin es mit Gökhan aufwärtsgehen soll 54
Drei: Worin es mit Theodor weiter aufwärtsgehen soll (El ? Yo) 72
Fünf: Worin es mit Ursula weitergeht 106
Sechs: Worin es mit Ursula anderweitig weitergeht 128
Sieben: Worin dreidimensionale Angaben letzten Endes keinen Sinn mehr ergeben wollen 148
Acht: Worin es noch einmal mit Ursula weitergeht 174
Plus ½: Exit Personnage 190
Inhalt 296

Zwei: Worin es mit Gökhan aufwärtsgehen soll


»Man erzählt – doch Gott allein ist allwissend –, dass in uralter Zeit, als man die Uhren noch aus Neuschnee schmiedete, als man sich noch mit gezähmten Ratten rasierte und das Fladenbrot aus Tulpen buk, sprich, dass in jenen längst entschwundenen Tagen der Herrschaft unseres prächtigen Sultans Süleyman, genauer gesagt: am 21. Safar des Jahres 972, Gökhan geboren wurde.

Gökhan war der zweite Sohn von Gülbahar und Mehmet Çelebi. Der erste Eindruck, den Gökhan auf seine Eltern machte, war niederschmetternd – schien er doch gänzlich aus der Art geschlagen zu sein. Der Säugling war schmächtig und fahlhäutig, atmete unregelmäßig und hatte eine Hasenscharte von der Oberlippe bis zum linken Nasenloch. Gülbahar weinte nach der Niederkunft, und ihr Mann, der gerade noch rechtzeitig von einer Inspektion der Passwächterdörfer zurückgekehrt war, schwieg eine ganze Woche lang. Dann nickte er mit gesenktem Blick – was Gülbahar jedoch zu viel der Demut schien: So einfach wollte sie sich dem Schicksal nicht ergeben. Immerhin war es ihr Sohn! Sie brachte Einwände ästhetischer und hygienischer Art vor. Mehmet schwieg dazu. Sie erklärte Mehmet, wie schwer es sei, seinen Sohn zu stillen. Mehmet rührte sich nicht.

›Mit dieser Spalte in der Lippe wird er die Namen des Allmächtigen nicht richtig aussprechen können‹, sagte sie schließlich.

Verunsichert blickte Mehmet zu seiner Frau und dann zu seinem Schwiegervater Hodscha Atanur. Atanur versprach, er werde den Leibarzt des Sultans, den er seinerzeit aus einem Hinterhalt der magyarischen Giauren gerettet habe, darum ersuchen, sich die Lippe des Jungen anzuschauen.

Der Arzt bestätigte Gülbahars Befürchtung und schlug vor, die Scharte mit Darmsaiten vom Hammel zu nähen. Mehmet zögerte, weshalb Atanur ihn beiseitenahm und von den Meisterleistungen des Arztes berichtete: Dieser habe ihm nach der Schlacht bei Buda ein neues Auge eingesetzt – das zwar eine falsche Farbe habe, aber viel schärfer als das verlorene blicke –, und einem Leibwächter des Großwesirs habe er sogar den abgeschossenen Kopf wieder angenäht.

Mehmet fixierte erst das braune und dann das blaue Auge seines Schwiegervaters. Schließlich nickte er ein weiteres Mal mit gesenktem Blick und setzte sich mit Atanur ins Nebenzimmer. Gökhan tat während der Operation kaum einen Mucks; und von der Hasenscharte blieb ihm lediglich eine Narbe zwischen Lippe und linkem Nasenloch. Zwei Jahre später, als Gökhan das erste Mal klar und deutlich die Worte seines Vaters nachsprach, wiederholte dieser seinerseits noch ein weiteres Mal die Lobpreisung des Allmächtigen – dankbar, in einer Zeit leben zu dürfen, die so ruhmreich und fortschrittlich war.

 

Der kleine Gökhan hatte sechs Schwestern und einen Bruder. Nach einer Scharlachwelle hatte er noch vier Geschwister und nach der Seeschlacht von Lepanto nur noch drei. Seine Schwestern hießen Emine, Melek und Ayla. Gökhan blieb auf alle Zeiten der Jüngste, da Gülbahar sich nach seiner Geburt darauf verlegte, Pfefferpulver auf ihre Bettkante zu streuen und ihrem Gatten den lendenstärkenden Granatapfelsaft vorzuenthalten. Dieser akzeptierte die Diät, hoffte bloß, sein allabendlicher Niesreiz werde alsbald wieder verschwinden. Überhaupt setzte Gökhans Vater die Pflicht weit über das Wohlergehen: Wenn nicht morgen … irgendwann würde er dafür belohnt werden.

Irgendwann war bereits im nächstfolgenden Herbst. In einem staubigen Passwächterdorf traf Mehmet einen Händler, der unter Tränen beklagte, seine Karawane sei im Schutzbereich des Dorfes von Wegelagerern ausgeraubt worden. Die Dorfbewohner hätten sich zudem geweigert, die Banditen zu verfolgen, steckten also womöglich mit ihnen unter einer Decke.

Mehmet befragte alle Bewohner – aber diese zeigten sich verstockt oder berichteten wirr von entlaufenen Geißböcken, störrischen Eseln, verlorenen Jagdmessern und einer vom Schmelzwasser verwaschenen Grenzlinie des Schutzbereiches. Weder in ihren Hütten und Schobern noch in ihren Röcken fand sich eine Spur von den gestohlenen Waren. Viel schlimmer als der Verlust des Händlers erschien Mehmet allerdings der durch diesen Fall offenbarte Haarriss im Verwaltungsgefüge: Selbst wenn die Passwächter keine gemeinsame Sache mit den Wegelagerern machten, blieb doch der Fiskus betrogen, da sich der Steuernachlass für das Passwächterdorf nicht in Sicherheit aufwog. Mehmet brütete auf dem Rückweg nach Istanbul über diesem Problem. Für seine Lösung, die Passwächter generell auf Schadensersatz für Verluste durch Überfälle in ihrem Schutzbereich zu verpflichten, wurde Mehmet reich belohnt: Er durfte die Hand des Schatzmeisters küssen, aus dieser einen kleinen Beutel Goldstücke entgegennehmen und sich zu alledem noch eine von dessen rothaarigen Sklavinnen aussuchen. Dankbar, unter einem derart hellsichtigen und gütigen Pascha dienen zu dürfen, beugte sich Mehmet mehrfach mit der Stirn bis zum Boden. Die entzückende Siran, die er mit nach Hause nahm, wäre aus seiner Sicht durchaus des Großwesirs oder gar des großherrlichen Padischahs würdig gewesen, ja, sogar kochen konnte sie. Kurzum: Von jenem Tag an musste Gökhans Vater abends nicht mehr niesen – was auch Gülbahar einen ruhigeren Schlaf verschaffte.

 

Obwohl von der Hasenscharte nur eine wulstige Narbe und die beständig zum Kuss gespitzte Lippe geblieben waren, hänselten die Nachbarkinder Gökhan bei jeder Gelegenheit; aus dem Haus schräg gegenüber drang sogar einmal eine Mädchenstimme, er sei der hässlichste Junge auf der Welt.

Das stimme bei weitem nicht, klärte ihn daraufhin Großvater Atanur auf – und der musste es wissen! Wirklich hässliche Menschen leben in Wien, das habe er mit seinen eigenen, damals noch beidseitig braunen Augen gesehen. Der Titel des hässlichsten Mannes auf Erden gebühre neidlos dem König von Wien, der so ein Ausbund an Hässlichkeit sei, dass man ihn kaum noch zu den Menschen zählen könne.

›Der verkriecht sich vor Scham im Schatten eines Regenwurmes, wenn du an ihm vorübergehst‹, sagte Atanur.

Gökhan wusste diese Kunde aus fernen Landen zu schätzen, aber sie war ihm nicht Trost genug. Er beschloss, sich einen buschigen Oberlippenbart stehenzulassen. Bald merkte er jedoch, dass die Kraft seines Beschlusses nicht ausreichte – kein Haar spross über seiner Lippe, und selbst der Großvater wusste da kein Mittel.

Nachdem Gökhan das elfte Lebensjahr erreicht hatte, wurde er allerdings so kräftig, dass kein Nachbarkind mehr wagte, ihm irgendetwas hinterherzurufen. In dieser Zeit zog Gökhan allerdings den Unmut seiner Mutter und der Sklavin Siran auf sich: Die beiden mutmaßten, er spiele heimlich mit Kanonenkugeln Murmeln und nasche auf dem Basar Greifeneier, da er Tag um Tag stattlicher wurde. Obwohl Siran an den Säumen seiner Hosen und Leibröcke beständig Stoff nachgab, vergingen keine drei Tage ohne geplatzte Nähte oder abgesprengte Knöpfe.

›Bismillah‹, seufzte seine Mutter dann und gab ihm einen Klaps. Siran sagte nichts, sondern gab ihm ein paar Schöpfkellen Bulgur und Joghurt in die Schüssel, bevor sie das Nähzeug und neue Knöpfe holte. Wenn Gökhan aufgegessen hatte, durfte er sich zu Füßen von Großvater Atanur setzen. Der zwinkerte mit seinem blauen Auge und begann zu erzählen:

 

›Honig lässt den Burschen sprießen

an der Moschee trifft er zwei Riesen

das Minarett schenkt ihm der große

Gökhancık steckt es in seine Hose

doch, ach, bald bildet er sich ein

das muss wohl ’ne Trompete sein‹

...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2012
Zusatzinfo Mit einem Comic und anderen Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Astronaut • Dynastie • Erfinder • Familie • Frauen • Kaiserreich • Kriegsende • Raumfahrt • Raumfahrtprogramm • Roman
ISBN-10 3-8412-0402-3 / 3841204023
ISBN-13 978-3-8412-0402-8 / 9783841204028
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