Ich hoff, die Menschheit schafft es

Peter Hacks - Leben und Werk
Buch | Hardcover
650 Seiten
2015
Araki Verlag
978-3-936149-19-7 (ISBN)
48,00 inkl. MwSt
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Joachanan Trilse-Finkelstein ist Träger des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2015.
Hacks‘ Denken und Schreiben.

»Mein Leben ist Denken und Schreiben.« So äußerte sich Peter Hacks einmal und meinte, dass sein Leben äußerlich ereignislos sei. Das scheint zu stimmen – vor allem, wenn man sein Leben mit dem vieler anderer deutschsprachiger Schriftsteller im 20. Jahrhunderts vergleicht. Verfolgung, Lager oder Tod, Schreibverbot, Exil, Tod in der Fremde. Über ereignisreiche Leben lässt sich zumindest auf den ersten Blick leichter schreiben. Strafverfolgungen, Schreibverbote, Zensur, tiefe Einschnitte in Dichterleben... Doch wie sieht das bei Peter Hacks aus?

Anfangs gab es auch bei ihm mehr räumliche Art der Bewegung: Er wuchs noch im NS-Reich (in Breslau, heute Wroclaw) auf, wo er passiven Widerstand leistete und sich listig dem Soldat-Sein in der Wehrmacht entzogen hatte. Um Kriegsende flüchtete die Familie in den westlichen Teil Deutschlands: In Wuppertal beendete er das Gymnasium mit Abitur, begab sich dann nach München zum Studium von Geschichte, Literatur, Philosophie und Theologie. Er beschloss seine Studien und promovierte beim Theaterwissenschaftler Arthur Kutscher über »Das Theaterstück des Biedermeier«.

Er hatte frühzeitig mit dem Schreiben begonnen. Es gibt viele nicht oder kaum veröffentlichte Gedichte, von denen nur wenige in den von ihm zusammengestellten späteren Ausgaben enthalten sind; auch eine größere Anzahl von Bühnenstücken, Hörspielen, Kinderfunkstücken, fast alle aus den späten Vierziger und frühen Fünfziger Jahren. Dieser außerordentlich gebildete Dichter mit höchstem Qualitätsanspruch hatte gewiss Grund, sie in seinen zahlreichen Ausgaben fortzulassen.

1955 siedelte er von West nach Ost über, nach Berlin, wo er 48 Jahre lang im Bezirk Prenzlauer Berg (erst Grellstraße, dann Schönhauser Allee) lebte oder abseits der Stadt auf seinem Landsitz bei Groß-Machnow. Als er am 28. August 2003 verstarb, wurde er auf eigenen Wunsch nicht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, der Ruhestätte für DDR-Prominente, in der Nähe von Hegel gleich am Brecht-Haus, sondern auf dem Garnisons-Friedhof beigesetzt, unweit von Theodor Fontane. Das ging nicht gegen Brecht, von dem er sich ästhetisch-poetisch abgesetzt hatte, um der Poet Peter Hacks sein zu können, sondern eher gegen den früheren Mitstreiter und späteren Lieblingsfeind Heiner Müller.

Sein Leben aus Denken und Schreiben ist seine Biografie, eine extrem geistige Biografie ohne große Cäsuren und Höhepunkte. Sicher hatte er seine Konflikte mit der Macht, damit auch Sorgen. »Die Sorgen und die Macht« hieß sein viel umstrittenes Stück von 1960/62, wozu ihn eine Ulbricht-Rede angeregt hatte.

Den großen Schauspieler, Regisseur und Intendanten Wolfgang Langhoff kostete das Stück den Posten und die ohnedies angeschlagene Gesundheit des Widerstandskämpfers und KZ-Häftlings. Er starb 1966 kummervoll.

Auch mit »Moritz Tassow«, der 1965 in der Volksbühne am Luxemburgplatz uraufgeführten Schelmen-Komödie, bekam Hacks großen Ärger. Dieses Zeitstück in glanzvoller Besetzung war eine Sternstunde des Theaters. Fritz Cremer war der Szenograf; er entwarf auch ein köstliches Plakat, das heute noch in meinem Korridor hängt und alle Besucher begrüßt. Neun Vorstellungen vor vollen Häusern fanden statt, dann Absetzung und ein Prozess. Am Ende wollte keiner schuld gewesen sein, es gab kein ausdrückliches Verbot, es lag keine Anordnung vor.

Was tat der Dichter? Er schrieb neue Stücke und Dramen (da machte er einen Unterschied: Dramen meist in Versen, Stücke in Prosa, ganz rein ist der Unterschied auch nicht immer), insgesamt 40 an der Zahl, Gedichte, Kindermärchen, Kinderromane, Kinderdramen feinster Art – er, der selbst keine Kinder hatte. Und glanzvolle Essays, die unter dem Titel »Die Maßgaben der Kunst« mehrfach erschienen sind, zuletzt in drei Bänden.

2003 erschien im Eulenspiegel-Verlag die 15bändige Ausgabe »Werke«, von ihm selbst noch betreut. Und das ist noch nicht alles – da gibt es die erwähnten Jugend-Schriften, von etlichen Texten mehrere Fassungen, so auch von seinem vielleicht schönsten Drama, der Komödie »Numa« nach einem altrömischen Stoff in der »Sozialistischen Republik Italien«; leider ist die schönere, die Frühfassung, nicht in »Werke« ediert.

Ein reiches Dichter-Leben, das Leben eines Klassikers und dies doppeldeutig im besten Sinne: Sein geistig-künstlerisches Vorbild war die Klassik, sein Dichter war und blieb Goethe, neben anderen großen Klassikern. Und da ist Klassik bereits ein Wert-Begriff im Sinne des Dauernden.

Darum also ist seine Biografie so schwer zu schreiben, weil es mehr ein inneres Leben zu beschreiben gilt, das Denken selbst, das Schaffen, denn das äußere Leben gibt wenig her, auch nicht für den Klatsch. Er bekannte sich zu einigen Frauen, aber er war äußerst diskret. Auch in seinen Freundschaften. Und treu – wie in seiner Philosophie und Politik. Er sah im Sozialismus und, da dieser Begriff zu sehr sozialdemokratisch verwässert ist, im Kommunismus nach Marx die Zukunft. Dort lag das Schöne. Da der Kommunismus, den es bislang nur in der Theorie und in wenigen Geschichtsbeispielen gab und gibt (Jesuitenrepublik Paraguay), doch wohl am stärksten in der alten UdSSR versucht, deshalb im grausamsten Vernichtungskrieg der Weltgeschichte am schwersten beschädigt wurde und um so entschiedener verteidigt werden musste, galt seine Sympathie auch dem Führer jener Verteidigung: Josef Stalin, trotz dessen Untaten. Das nahmen manche übel.

Die Biografie eines politischen Künstlers hoher ästhetischer Gesinnung und poetischer Meisterschaft kann sich auf Briefaustausch mit Kollegen und Freunden sowohl innerhalb Berlins als auch weltweit stützen. Den Hauptanteil bildet das zu beschreibende und zu untersuchende Werk, getrennt nach Genres. Der Dramenteil ist der umfangreichste. Einige Stücke blieben bis heute unaufgeführt, andere brachten es auf legendäre Zahlen, am häufigsten gelang das mit dem Goethe-Stück »Ein Gespräch im Hause Stein …«. Insgesamt wurden seine Stücke schon mehr als 1000 mal inszeniert, das hat seit der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis jetzt nur Brecht erreicht.

Einer der Grundsätze von Hacks war: »Lex mihi ars – Gesetz ist mir die Kunst.«

(Jochanan Trilse-Finkelstein in Ossietzky).

Jochanan Trilse Finkelstein ist ein von mir hoch geschätzter, mit einem großen Allgemeinwissen gesegneter und allseitig gebildeter Autor und Freund. Sein Buch über Peter Hacks ist ein grundlegender Versuch, dieser komplexen Künstlerpersönlichkeit gerecht zu werden. Keiner hat Hacks so gut verstanden und seine widersprüchlichen Aussagen zu deuten gewusst wie Jochanan Trilse-Finkelstein. Bewundernswert, wie gründlich er seinen Vortrag über meine Oper "Omphale" anlässlich des Symposiums zu meinem runden Geburtstag in Weimar vorbereitet hat. Genauestens studierte er Konzepte und Skizzen zu der Oper aus meinem Archiv, das meine Frau verwaltet, und holte sich von meinem Verlag die Partitur und Musikbeispiele. Eine heute selten gewordene verantwortliche Gründlichkeit für solche Vorträge. Kennengelernt habe ich Jochanan Trilse-Finkelstein als eifrigen Besucher der Veranstaltung des Festivals für internationale junge Opernsänger der Kammeroper Schloss Rheinsberg. Er ist ein aufmerksamer und kritischer Beobachter. Sein Lob und sein Tadel haben immer einen fundamentalen Hintergrund. Er hat Aufführungen oder einzelne Sängerleistungen wunderbar einfühlsam und treffend beschrieben.Aber auch seine Kritik trifft immer den Kern des Problems, Dankbar bin ich ihm, dass er bei Aufführungen immer die unlösbare Einheit des originalen Librettos im Zusammenhang mit der Partitur beachtet und bei Verstößen in einigen Fällen sehr kräftig geschimpft hat. Diese Einheit ist das künstlerische Ziel der Kammeroper, das Jochanan Trilse-Finkelstein vehement vertreten hat. Die Begegnung mit Jochanan Trilse-Finkelstein ist für mich und meine künstlerische Arbeit sehr anregend und befruchtend. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. (Siegfried Matthus über Jochanan Trilse-Finkelstein.)

Inhaltsverzeichnis

Zur Entstehungsgeschichte 9
Leben als Denken und Schreiben - Vorrede 11

TEIL I – DAS LEBEN
- Geleitwort:
Peter Hacks „Auskünfte zur Person“ 21

- I - Der Anfang
Breslau und die Familie - Der Zweite Weltkrieg - Studium25
Einritt ins Kulturleben – Literatur, Theater, Vorbilder, Kollegen 29
Quellen – Texte, Briefe, Zweitliteratur, Monografie „Das Werk“ 31
Übersiedlung – erste Erfolge – Heinar Kipphardt, Heiner Müller 33

1. Zwischenstück
Verlage, Verbände, Institutionen36
Hermann Kant contra PH - Vice versa38
Der Dichter und sein Biograf 39

- II - Erste Schlagzeilen
Deutsches Theater (DT) und Wolfgang Langhoff - Bühnenkriege 41
Jungdramatiker Mattias Braun42

2. Zwischenstück: Biographische Methodik
Begegnungen und Briefe: Gang durch den Kollegenpark43

- III - Chronologie adé. Es sind die Begegnungen
Irina Liebmann, Helmut Baierl: Das Projekt „Autorentheater" 53
Dialoge mit Sebastian Haffner - Ronald Schernikau54
Immer wieder Heiner Müller - PH und Prof. Walter Grab 56
Dieter Noll - James Krüss - Peter Härtling - Volker Braun - Stefan Heym
Geistig aktiver Ärger mit dem Philosophen Hans Heinz Holz 60
Ernst Bloch und chinesisches Denken - Über Sokrates und Haeckel 62
KPD - Holz - Nachahmung in der Kunst66

3. Zwischenstück: Die großen Bühnenerfolge
„Der Frieden“ (DT), „Moritz Tassow“(VB) u. a. Wirken von Werken73
im Druck – Literaten und Literaturwissenschaftler um und über PH 79

4. Zwischenstück: Mythische Themen
Freundschaft und Austausch mit dem Theologen Walter Beltz – 82
Berater in Sachen Antike: Griechisch-Biblisches Erbe
Über Mythologie und Historie - Übertragungsfragen 85
Neue Stücke nach alten Stoffen („Jona“, „Maries Baby“, „Die Fische“) 86

- III- 1. Forts.: Chronologie adé. Es sind die Begegnungen
Die Belickes und andere Beziehungen - Im Universallexikon - 89
Helmut Baierl - Mit Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz über Ulbricht - 91
Auch der noch: Wolf Biermann - sein Gegner Peter Hacks94

- IV - Akademien, Institutionen, Verlage
Neue, linke Dichter-Akademien und Verlage99
PH und der Aufbau Verlag Berlin-Weimar – Die Trennung 102 Eulenspiegelverlag – Das neue Berlin Verlag – Aurora Verlag 107
Ausgabe der „Werke“ in 15 Bänden - Schriftstellerverband der DDR109
Dr. Peter Hacks, der Lehrer - Akademie der Künste114
Schauspieler um den Dramatiker Hacks 117
Literaten und Literatur um Hacks

- III - 2. Forts.: Chronologie ade. Es sind die Begegnungen
Dialog mit Christoph Hein 120
Argentinische Korrespondenz – Alfredo Bauer mit PH im Dialog126
Hemmschwelle „Romantik“ – „Gespräch im Hause Stein …“129
Saul Ascher132

- V - Stückebegleitende Korrespondenz
Freundesbriefwechsel mit André Müller - 137
Kommunismus, das ist die Zeit, wo Shakespeare verstanden wird.“ -
„Die Stein“ - Shakespeare - neue Stücke und Bücher
Über Offenbach anhand „Schöne Helena“ und „Orpheus“146
Nachdenken über „Genoveva“ / „Genovefa“153
Über Gedichte - Brechts und die eigenen158

5. Zwischenstück: Sozialismus unter Druck
Bürgerrechtler und Konterrevolutionäre – „Die Krawtschiks“/ 160
Führungsnachfolge in UdSSR und DDR161
Philosophie in der DDR162

- VI - Letzte Jahre
Mit Gregorek in Juntersdorf 167
Mit A. Müller: Marxistische Klassiker und Sozialismus-Programm
Shakespeare und kein Ende – und Kommunismus 169
„Werke“ in 15 Bänden – Planungsarbeiten 170
„Jetztzeit“ und das Ende des Sozialismusversuchs – Diskurs 179
und Gedichtzyklus – Krankheit und Sterbeahnungen
„Jetztzeit“ im neuen Jahrtausend – Europakritik – Kapitalismuskrise 182
Dichter und Kulturkritiker – Politik als Kultur im hohen Sinn186
Reformkommunismus, Stalin – Trotzki - letzte Editionsvorhaben187
Fortschreiten des Krebsleidens189
Krankheit, Sterben – Tod196


TEIL II – DAS WERK

Kapitel 1: Der Theoretiker seiner Kunst –
Philosophie, Poetik, Literatur – Ästhetik 203
A. Die ästhetischen Arbeiten bis 1958 207
B. Das Poetische212
C. Das essayistische Werk zwischen 1970 und 1976 222
D. Die Ästhetik des Spätwerkes
D.1 Berlinische Dramaturgie231
D.1.1 Am 1. März über Becketts „Warten auf Godot“ 233
D.1.2 Weitere Sitzungen der BD im Überblick 236
D.2 Die Massgaben der Kunst 252
Auch ästhetische Zeugung – Ein Drama – ein Kind? 262 Saul Ascher gegen Jahn – Ascher ein Gegner Lessings?266
„Ödipus – Königsmörder. Über Voltaires Dramen“ 273
Der Dramatiker Ludwigs XV.276
D.3 Über Hacks und die Welt – eben die Maßgaben282

Kapitel 2: Der Lyriker 285
Die frühen Sammlungen: Poesiealbum, Lieder – Briefe – Gedichte
„Die Gedichte“ Werke Band I): Der junge Hacks,
Lieder zu Stücken - Gesellschaftsverse290
Liebesgedichte316

Kapitel 3: Der Kinderbuchautor und Erzähler
Hacksens Verortung als Kinderbuchautor321
Kinder-Gedichte und -Dramen – Romane für Kinder 331
„Prinz Telemach und sein Lehrer Mentor“ 337
„Der Schuhu und die fliegende Prinzessin“ 340

Kapitel 4: Der Dramatiker
Das erste Genre 345
Über die Ordnung der Werke bzw. Dramen und Stücke349
1. Die frühen Stücke 351
Antiheldische Historien 352
„Die Schlacht bei Lobositz“und kleinere Arbeiten 360
2. Die Zeitstücke
„Die Sorgen und die Macht“ 368
„Moritz Tassow“ 382 3. Im Umfeld der Tradition. Die Bearbeitungen 394
„Die Kindermörderin“, 395
Das Aristophanische: „Der Frieden“ 396
Das Musikalische – „Die schöne Helena“, 404
Shakespeare 413
4. Theaterstücke von morgen
Auf dem Weg zum Klassiker des Neuen 419
Die produktiven Historien:
Historie und Poesie in „Margarete in Aix“422
„Prexaspes“ und die Machtfrage 431
5. Die olympischen Komödien
„Amphitryon“– Oder wie sich Individuen entfalten 440
„Omphale“ – Von Ungeheuern befreit – Eine geheure Erde 449
„Numa“ und die Staatsklugheit 472
„Senecas Tod“ – Oder die Lebenskunst zu sterben 477
6. Die biblischen Dramen
„Adam und Eva“ und „Jona“482
„Jona“ 490
7. Die Goethe-Stücke – von Goethe zu Hacks
„„Das Jahrmarktfest zu Plundersweilern“495
„Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden
Herrn von Goethe“ 502
„Pandora“506
8. Die wunderbare Komödie
„Rosie träumt“, oder:
Größe und Grenzen der Idee und anderer Jungfrauen527
„Fredegunde“, „Die Fische“, „Musen“, „Die Binsen“533
– und die Frage nach dem Vollkommenen„Musen“, genannt „vier Auftritte“
9. Späte Stücke – über – Genie oder/und um Geld? 544
„Der Geldgott“ – „Der Maler des Königs“545
„Die Höflichkeit der Genies“549
„Genovefa“ – oder wer – wen – ändert die Zeit?551
10. Die Russendramen – Zwischen Einheit und Auflösung556
„Bojarenschlacht“ – „Tatarenschlacht“ – „Der falsche Zar“ 558
11. Hacks Lebensthemen vereinigt –„Der Bischof von China“ 572

Kapitel 5:
Peter Hacks, die deutsche Literatur und die der DDR
– Nachrede 580

Anhang
Biographische Daten 592
Literaturverzeichnis593
Aufführungszahlen604
Register606
Inhalt646

Leben als Denken und Schreiben - Vorrede Zum Einen ist es misslich, Biografien lebender oder erst kürzlich verstorbener Autoren zu schreiben. Man stößt da sehr schnell auf Grenzen des Sagbaren, auf Grenzen, die der Takt zieht. Das betrifft mehr oder weniger alle Autoren dieser Generation und jüngere. Zum Anderen ist der Lebenslauf der wesentlich nach 1945 wirkenden Autoren von der äußeren Biografie her nicht mehr so bewegt und bewegend wie das Leben der Schriftsteller unter den Bedingungen des Imperialismus und NS-Faschismus. Wie formulierte es Brecht: ,,Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.“ Auch in früheren Epochen, sofern wir da überhaupt Wesentliches vom Leben jener Poeten wissen, galt Ähnliches, man denke nur an Villon, Johann Christian Günther, Heinrich Heine, Ludwig Börne und viele andere. Doch da gibt es bereits Unterschiede. Zwar sind so manche Quellen verlorengegangen, andererseits deren Lebenswege abgeschlossen. Urteile anderer sind möglich. Eine intensive Quellen-Forschung hat inzwischen auch Materialien herangebracht und erschlossen, so dass sich geschichtliche Persönlichkeiten doch einigermaßen erkennen und auch bewerten lassen. Der dritte Grund: Peter Hacks wollte damals nicht seine Biografie, sein Leben durchleuchten lassen. Das äußerte sich praktisch darin, dass er keine Briefe und sonstige Lebenszeugnisse herausgab. Texte gab er dennoch: So erhielt ich von ihm die lange als Nichtstück gehandelte Komödie „Numa“ oder auch das Libretto „Annabell und der Mond – eine Oper von P.H.“ mit der Musik von Wilhelm Killmayer, die ich selbst niemals sehen konnte. Persönliche Materialien indes nicht. Also hatten wir uns auf die Werkmonografie geeinigt. Die äußeren Lebensstationen von Peter Hacks sind nämlich schnell berichtet: 1928 wurde er als Sohn des fortschrittlichen, sozialistischen Traditionen verpflichteten Rechtsanwalts Dr. Karl Walter Hacks und seiner Ehefrau Elly Hacks in Breslau (heute Wrocław) geboren. Sein Großvater war Rektor einer Oberschule in Katowice, die u. a. Arnold Zweig absolviert und „eine Art Rebellenschule“ genannt hatte. Hacks besuchte die Herzog-Heinrich-Oberschule, verließ kurz vor dem Abitur im Februar 1945 die zur Festung erklärte Stadt und lebte zunächst in Dachau. 1946 legte er das Abitur in Wuppertal ab, studierte ab 1946 an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft, außerdem Philosophie und Soziologie. 1951 promovierte er mit einer Arbeit über das Theaterstück des Biedermeier zum Dr. phil.; Lehrer waren u. a. Prof. Hans Heinrich Borcherdt, Alfred v. Martin und Alois Wenzel. Auch hörte er Vorlesungen bei dem Hegelianer Kurt Schilling und dem Religionssoziologen Alois Dempff. Am meisten interessierte ihn dabei die Soziologie. Ein weiteres zentrales Bildungserlebnis war – und ist – ihm die klassische deutsche Philosophie und in ganz herausragendem Maße Hegel, den er im Geiste Marx’ strikt materialisiert bzw. vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Im Zusammenhang mit Hegel konnte es nicht ausbleiben, dass der ungarische Philosoph und sowjetische Remigrant Georg Lukács von entscheidender Bedeutung für ihn wurde. Hacks verdankt ihm wichtige ästhetische Einsichten und ist in ebenso wichtigen Punkten über diesen hinausgegangen. Auch Paul Ernst (1866-1933) spielte da eine gewisse Rolle, als Neoromantiker und Nietzscheaner von gewisser, nicht gerade progressiver Geisteshaltung mit Wirkung. Gegen ihn und die Richtung der Neoromantik stand der Republikaner Marholz, wiederum die Neoklassik unterstützend. In diese Einflüsse war Georg Lukács geraten, der indes eine feste Position in der Klassik gefunden hatte, zwar den Realismus in Literatur und Kunst unterschätzend, doch massiv Neoromantik und damit den Irrationalismus bekämpfend, quasi die wichtigste Position gegen diese bildend und verteidigend. Das mag bereits als wichtige Quelle für die – im ideologischen Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik, Rationalismus und Irrationalismus („Zerstörung der Vernunft“), Revolution und Konterrevolution, letztlich Ost und West oder Sozialismus und Kapitalismus – von Hacks bezogene Klassik-Position bedeutend sein. Wie der Leser bereits gemerkt hat, befindet sich der Biograf, der ursprünglich einer sein wollte und keiner sein konnte noch durfte, bereits nach wenigen Zeilen äußerer Biografie in der inneren. Jetzt darf er nicht nur, jetzt muss er zum Leben berichten. 1955 siedelte Peter Hacks auf Einladung Brechts in die DDR über und lebte seitdem in Berlin: zunächst Grellstraße 55, später in der Schönhauser Allee 129 oder auf seinem Landsitz in Groß-Machnow (Fenne) am südlichen Rand Berlins. Bei seiner Übersiedlung hatte er im Gepäck etliche Gedichte – erst postum in einer Sammlung „Der junge Hacks“ (Gedichte, frühe Stücke, auch Prosa), die nicht in der fünfzehnbändigen Sammlung „Werke“ aufgenommen worden sind. Doch das Theater und damit die Dramatik standen im Vordergrund des Interesses und des Tätigseins. Einblick in praktisches Theater, bevor Brecht und Langhoff wirkten, erhielt er von der Schauspielerin und Theaterleiterin Ruth Dresel vom Volkstheater München, mit der er auch in der Frühzeit bis anfangs der Berliner Zeit korrespondierte. Der Goethe-Bezug unseres späteren Klassikers erlaubt, von „Peter Hacksens theatralischer Sendung“ zu sprechen. Nach Lehrjahren begannen etwa 1962 mit der vielgespielten, hochgefeierten, ereignishaften, Aufführung des „Frieden“, inszeniert von Benno Besson mit dem kaum vergleichbaren Fred Düren im Deutschen Theater Berlin, der ihn mit dem Ärger um „Die Sorgen und die Macht“ aussöhnen konnte, seine Meisterjahre: Meisterjahre fortan; als Lehrjahre sind indes welche sowohl des Lehrens als des Lernens zu bezeichnen. Seit Beginn der Siebziger Jahre gab es (1972 – 1990 war PH Mitglied der Akademie der Künste) circa 30 Gespräche in Form von Diskursen, zu denen Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, inbegriffen Kritiker und sogar Politiker, die zu lernen hatten, falls sie noch belehrbar waren, eingeladen worden waren, von denen die meisten kamen. Man arbeitete nach PH an der „Arbeit der Poesie“, am Umgang mit Mythen, an einer praktizierbaren Dramaturgie und einer Poetik der Darstellenden Künste. PH nannte sie „Berlinische Dramaturgie“, repräsentiert in 5 Bänden (Bd 5 als Kommentar), Berlin 2010/11. Näheres dazu im Kap II dieses Buches. Hatte PH auch „Wanderjahre“, um beim Goethe-Bezug zu bleiben? Rein örtlich kaum – er reiste nicht gern, die Welt käme ja zu ihm. Das Hin und Her zwischen Berlin (Oktober – April) und Fenne (Großmachnow) kann man kaum Reisen bzw. Wandern nennen. Doch wanderte der Poet ständig in die Welt, das heißt Weltkultur – und -literatur (zumindest Europas) – wir befragen das Werk, wie er mir einmal betont sagte, sozusagen auch im Sinne seiner „Weltinnenpolitik“. An dem Punkt der Übersiedlung sollte indes – bevor wir uns in biografische Einzelheiten, gar Erlebnisse vertiefen, noch etwas verweilt werden. Hier zumindest gewann das äußere Leben des Dichters etwas von jener Spannung, die der Biografie solcher Schriftsteller wie J. R. Becher, B. Brecht, den Brüdern Heinrich und Thomas Mann, Ludwig Renn alias Vieth von Golßenau, A. Seghers, Arnold Zweig u. a. eigen ist. Handelt es sich doch um nicht mehr und nicht weniger als um eine wesentliche weltanschaulich-politische, gar Lebens-Entscheidung, um die Entscheidung für den Sozialismus. Zwar war dieser Sozialismus in der DDR erst in seinen Grundzügen erkennbar – doch immerhin hatte es mit Enteignung der Schlüsselindustrie, Bodenreform, Zerschlagung des imperialistischen Staatsapparates und der Bildungsreform weitgreifende demokratische Reformen gegeben, und seit 1952 wurden im Gebiet zwischen Werra und Neiße Grundlagen des Sozialismus errichtet. Es gab ein klares Ziel, eine klare Richtung; auch wenn vieles unendlich viel schwerer war und länger dauern sollte, ein frühes, schweres Beginnen und ebenso viel schwierigeres Machen, als im Zuge der Entwicklung gemeinhin angenommen wurde; bei Kenntnis von Geschichte und langsamen wie ungleichzeitigen Entwicklungsprozessen hätte angenommen werden können, in damaliger Siegesgewissheit. Es musste scheitern: Der Gegner war noch zu mächtig, die Theorien der sozialistisch-kommunistischen revolutionären Angreifer zu unausgereift: Zwar gab es eine außerordentlich gute Analyse des Kapitalismus (Marx bis Lenin, bestenfalls zeitversetzt irrig), eine Theorie der Revolution (Lenin), doch eine sehr unausgereifte Theorie darüber, wie Sozialismus geht. Die bürgerlich-kapitalistischen Theoretiker und Utopisten hatten Jahrhunderte gebraucht, um ihre Gesellschaft zu erfahren und theoretisch zu untermauern oder zu antizipieren. Der Sozialismus hatte noch keine spezielle Theorie, besonders nicht für die Ökonomik, doch auch kaum etwas für Sozialstrukturen und Kultur bzw. die Künste und für Ethik nur in Ansätzen. Eher kam das Gegenteil: Künstler hatten schon Möglichkeiten ausgedacht, doch noch meist zu schön, um wahr zu sein bzw. praxisfähig. Doch wie so oft hatte die Frage gestanden: Was tun? Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, der so viel Zerstörung hinterlassen hatte. Die Sieger standen vor unendlich schweren Aufgaben, die Alliierten wie die überlebenden Antifaschisten: KZ-Überlebende, Widerständler aus dem Untergrund, Remigranten. Immerhin: Fabriken und Häuser kann man relativ schnell aufbauen, doch wie eine zerstörte Kultur, eine Kultur überhaupt, wie das Bewusstsein der meisten Menschen, die Psychen, die so unglaublich zerstört waren. Das dauert lange. Aber eines meinten die meisten Remigranten, genau zu wissen: Nur der Sozialismus, ja der Kommunismus konnte es sein, die alte Ordnung hatte verspielt, versagt. Und das hatte auch der junge Hacks gewusst. Wo er ursprünglich gelebt hatte, in München und damit der Bundesrepublik, hatte sich der Kapitalismus wieder eingerichtet: 1950 Restauration der Macht von Ruhrindustrie und Ruhrkapital durch die westlichen Alliierten, 1951/52 Errichtung der Montanunion; 1952 wurde die seit Jahren verdeckt betriebene Remilitarisierung perfekt (Generalvertrag, 1953 ratifiziert), 1955 Inkrafttreten der Pariser Verträge, Gründung der Westeuropäischen Union und des gemeinsamen Marktes mit der BRD, zugleich Aufnahme der BRD in die NATO, im gleichen Jahr Festigung des Bildungsprivilegs im Sinne der Bourgeoisie. Die Bundesrepublik war voll in den kapitalistischen Westen integriert, um den Preis der Einheit der Nation, die alten Kräfte hatten noch einmal gesiegt. Die DDR, bis zum letzten Moment die Inkraftsetzung der Pariser Verträge bekämpfend, ging von da an ihren eigenen Weg: Sie beendete den 1. Fünfjahrplan mit Erfolg, errungen durch die Kraft der arbeitenden Klassen, und erhielt im Staatsvertrag von 1955 mit der UdSSR ihre staatliche Souveränität. Freilich unter stillschweigender Anerkennung der Führungsmacht-Rolle der UdSSR – etwa im Unterschied zur Volksrepublik Jugoslawien. Der Nationalrat der Nationalen Front – eine angepasste Form der in den Dreißiger Jahren in Paris beschlossenen Volksfront – hatte ein neues Programm beschlossen: „Alle Kraft für die Stärkung der DDR“, für die Lösung der ökonomischen, politischen und kulturellen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus, mit Hilfe aller Schichten der Bevölkerung. So waren die Weichen gestellt; es gab eine Alternative. Und PH wählte, entschied sich und blieb lebenslang – trotz aller Behinderungen – bei dieser Entscheidung. Aus dem linksbürgerlichen Demokraten ward ein Marxist. Es ist dies ein neuer exemplarischer Fall für den Werdegang zahlreicher Künstler des Zwanzigsten Jahrhunderts, die sich für Revolution und Kommunismus entschieden hatten. Mögen sie nun Becher oder Brecht, Seghers oder Renn, Aragon oder Eluard oder Gorki und Majakowski heißen! Ein Menschenalter später also Hacks, der den wesentlichsten Schritt seines äußeren Lebens getan hatte. Ähnliche Wege waren Günther Deicke, Günter Cwojdrak, Johannes Tralow, Jens Gerlach, Adolf Endler, Gerhard Piens sowie auch der einige Jahre jüngere Verfasser dieser Abhandlung gegangen – nur ein wenig später, mit den Unterschieden des Herkunftsortes, nämlich Wien und damit Österreich - mit den gleichen Zielen: Auch Wien war eben Westen, war Kapitalismus, nur ein wenig anders, äußerlich liebenswürdiger; doch hinter dem Charme war die Mühseligkeit der Existenz, gar die des Studierens noch mühseliger. Er suchte in Deutschland Philosophen, daher der Umweg über Frankfurt mit Semester-Station nach Leipzig, Städte, in der damals die großen deutschen Philosophen und Literaten lebten und lehrten, übrigens fast alle jüdische Remigranten, die – Adorno/Horkheimer ausgenommen – den östlichen, also sozialistisch orientierten Teil Deutschlands bei dem Versuch, einen neuen Wohnsitz, gar eine Heimstatt zu finden, bevorzugt hatten: Hier hießen sie vor allem Ernst Bloch, Hans Mayer und Victor Klemperer. Peter Hacks hatte bereits absolviert und wollte an Orten, wo er arbeiten konnte, arbeiten auf seine Weise, als Dichter, als linker Dichter. Da war Ostberlin der richtige Ort, damals Hauptstadt der DDR. 1960-63 arbeitete er als Theaterdichter am Deutschen Theater in Berlin, seitdem war er freischaffend. Er kam mit Brecht zusammen, arbeitete auch einmal für das Berliner Ensemble (Übersetzung von „Held der westlichen Welt“, zusammen mit Anna E. Wiede), mehr aber mit dem Regisseur Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater (fortan DT); er wurde kein Brecht-Schüler, so wichtig die Arbeit als Durchgangsstadium für ihn war. Er ward Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Präsidiumsmitglied des PEN-Zentrums DDR, Inhaber zahlreicher Preise und leistete kulturpolitische Arbeit in der genannten Akademie; berühmt ward seit den Siebziger Jahren die theatertheoretische Arbeit, sehr viel später erschienen unter dem Namen „Berlinische Dramaturgie“ (siehe Zweiter Teil, Das Werk). Er war seit 1951 verheiratet mit der Schriftstellerin Anna E. Wiede (18. Dezember 1928 – 2009), hatte einen umfangreichen Bekanntenkreis und schrieb Briefe in außergewöhnlicher Zahl, klassischen Vorbildern gemäß. Bedenkt man die Armseligkeit des heutigen SMS-Verkehrs, Daten und Fakten ohne Mitteilung! Diese Briefe waren damals noch nicht zugänglich, liegen uns nun in reicher Fülle vor. Dadurch und damit wird aus unserm einführenden behutsamen eher monografischen Abriss eine Biografie. Nun erst können wir eine große geistige Biografie erzählen.- Und er verfasste ein umfangreiches Werk. Einen erheblichen Teil davon konnten wir in unserer seit 1980 in vier Auflagen vorliegenden Monografie beschreiben und untersuchen. Darnach konnte noch ein opulentes Spätwerk in allen Gattungen entstehen, besonders in der dramatischen, sowie in der philosophisch-theoretischen, besonders ästhetischen – ein Werk eines Ausmaßes, um dass sich einst Literaten und Philosophen oder gar Soziologen und Staatsrechtler reißen und jede Gruppe ihn als einen der Ihren in Anspruch nehmen werden. Es war nicht vorrangig der damals bereits bedeutende Umfang dieses Werkes und auch nicht allein die – wie wir nun wissen – scheinbare Bescheidenheit der äußeren Biografie, außerdem der Wille des Dichters, die zum Entschluss veranlasst hatte, auf eine ausführliche Biografie zu verzichten und ausschließlich eine Werkdarstellung zu versuchen. Es war vor allem ein ästhetischer Grund, der wiederum seine Wurzeln im Psychologischen und Typologischen hatte. Viele Dichter des 20. Jahrhunderts verarbeiteten im Werk ihre Biografie, Hacks gar nicht. Zumindest schien es so. Sicher: Peter Hacks war nicht der große Bekenner, wie es J. W. Goethe, einer der ganz großen Vorbilder unseres Dichters, wie an anderem Ort zu verhandeln sein wird, oder J. R. Becher waren, wie es Volker Braun noch heute ist; auch nicht der aufklärende Richter oder richtende Aufklärer wie Gotthold Ephraim Lessing oder Bertolt Brecht, obgleich die ihm bei aller kritischen Distanz näher sind, dabei in ihrem Werk selbst nicht erscheinen, zumindest nicht unmittelbar, gar vordergründig. Heinrich Heine, mit dem Hacks sonst viele Züge geheimer Verwandtschaft aufweist, zu dem er sich als Vorbild bekennt, hat ein Werk hinterlassen, das in vieler Hinsicht künstlerische Biografie ist, und Hermann Kant oder Heinrich Böll erzählen – bei aller Objektivation – gleichfalls immer von Kant und Böll. Schwieriger ward es bei Jean Paul oder gar Arno Schmidt, die auch stets von Jean Paul und Arno Schmidt erzählen. Doch besser durchmischt mit Welt und mitunter vermasket. Näher steht unserm Autor in diesem Zusammenhang Anna Seghers, deren Leben hinter ihrem Werk ebenfalls weitgehend zurücktritt, doch immer wieder ihr weltkenntnisreiches Sein hervortreten lässt. Der verwandteste Dichtertyp, von dem her sich Hacks’ Eigenart am ehesten erkunden lässt, ist – und damit sind wir beim unbestreitbaren Vorbild – Shakespeare. Bei Shakespeare ist es im Prinzip unwichtig, dass wir so wenig über sein äußeres Leben wissen – sein Werk lebt und berührt uns wie wenige. Nie erscheint Shakespeare im Werk – und doch ist er immer präsent, allgegenwärtig. Nicht im Sinne einer Konfession, aber mit seiner Persönlichkeit, seinem umfassenden Weltverständnis, seiner einzigartigen Menschenkenntnis und Politik-Erfahrung. Shakespeares Figuren und Fabeln, so weltanschaulich bedeutsam und dramaturgisch gemeistert auch immer, sind von einer inneren Beteiligung hervorgebracht und getragen, die ihresgleichen sucht. Shakespeare beurteilte verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten verschieden, und doch ist es immer Shakespeare, der urteilt, der spricht. Ob positive oder negative Figur, ob König oder Narr, Hexe oder Liebhaberin, Mann oder Frau – alle Figuren haben etwas von ihm – und wenn er sie zehnfach verurteilt. Shakespeare nahm in vorher kaum dagewesener Weise seine Stoffe aus der Literatur, er betrachtete die Natur wie ein echter Großstädter, er nahm – obwohl kein Politiker – regen Anteil am politischen Geschehen seiner Zeit und bildete bedeutende politische Vorgänge ab, sowohl in der elisabethanischen Zeit wie in der jakobitischen, wenn auch verschleierter, parabolischer („Ein Wintermärchen“, „Sturm“ u.a.); doch war sein Theater kein unbedingt politisches Theater. Er kritisierte Widersprüche seiner Zeit, billigte aber die Verhältnisse absolutistischer, doch bereits bürgergekräftigter Ordnung, die sich damals nach den Jahrhunderte währenden Kämpfen der Feudalen und deren Untergang konsolidiert hatten, und suchte nach – utopischen – Lösungen, zumindest in der Komödie. Die Liebe ist eines seiner bewegenden Hauptthemen, Liebe, die zu Schönheit und Poesie führt und zu menschlichem Selbstverwirklichen. Und er war ein Bühnenstratege innerhalb des elisabethanischen Theaters, welches so viele gute Theatermacher hervorgebracht hatte, doch er als primus inter pares, ein Beherrscher sämtlicher zu seiner Zeit bekannter dramaturgisch-szenischer Mittel, wie es dann doch keinen Zweiten mehr gab. Vieles dieser Charakteristik liest sich wie auf Hacks zugeschnitten. Diese ästhetische Eigenart Shakespeares (und was dabei übers Ästhetische hinausführt) ist auch die seine. Weitere Vorbilder führen uns in die französische Klassik von Rotrou und Corneille, später Racine bis Voltaire. Auch die objektivieren – auf andere Art. Ihre Ordnungsbegriffe und Regeln sind strenger und beruhen noch mehr als Shakespeare auf der Grundlage des Absolutismus, weniger volks- und mehr der großen Führungsautorität verbunden – von Elisabeth von England über Louis XIV. und Napoleon Bonaparte bis Josef Stalin und Walter Ulbricht, Gestalten, die Hacks als Führungspersonen galten, Basis von künstlerischer Klassik, zumindest nach Auffassung unseres Dichters. Immerhin: Die ganz großen Kunstwerke vor allem der Dramatik kommen von daher, sind in und während absolutistischer Herrschaftsformen verschiedener Länder entstanden. Dabei nahm unser Dichter nicht mal von der spanischen Dichtung (vor allem Dramatik) und ihrem Absolutismus Kenntnis – und erst sehr spät von der russischen Geschichte überhaupt („Bojarenschlacht“, „Tatarenschlacht“, „Der falsche Zar“). Das führte mich damals zusätzlich zu dem Schluss, dass keine Hacks-Biografie geschrieben werden konnte. Zumal er selbst sie nicht gewollt hatte. Doch wie oben angedeutet, die Kenntnis eines umfangreichen Brief-Corpus, und auch „Die Gespräche“ öffneten nun Grenzen und setzten andere Maßstäbe. Natürlich sollen hier keine von vornherein völlig anderen, dann also falschen Wertmaßstäbe aufgestellt werden; es wird nicht alles ganz anders gemacht, ein anderer Dichter geformt, indes dank der Briefe sowie des Spätwerks und anderer Zeugnisse ein erweiterter, reicherer, in seiner gewollten Klassizität tieferer Dichter und Philosoph vorgestellt. So bedeutend dessen Rang war und ist – seit Brecht zeitweilig der meistgespielte Dramatiker deutscher Sprache – es erscheint Anderes, Neues, Weiteres, mitunter Tieferes. Keinem wäre das unlieber als ihm selbst, der einmal sagte: „Shakespeare ist, was wir alle wollen, doch nicht können.“ Sich dabei in dessen geistig-künstlerischem Umfeld stets am wohlsten gefühlt hatte, Goethe ausgenommen. Später haben noch die klassischen Franzosen des 17. Jahrhunderts eine Art Vorbild-Rolle gespielt, und so ward PH eine Art historisch-ästhetischer Erbe-Verwalter, zumindest im europäischen Raum. Und dennoch ein Neuerer. Das zu beschreiben treten wir nun an.

In jedem Falle muss hier auf den „Geistergeburtstag“ eingegangen werden – dies Buch verdankt ihm seinen Titel: Die darin erzählte Geschichte geht in 11 Stanzen in wechselnden Reimpaaren von einer fiktiven Begegnung zwischen Hegel und Goethe aus: Der Eine feierte Geburtstag am 27., der Andere am 28. August, und um Mitternacht werden die beiden über ein Gespräch der Erzählerin mit dem Schriftsteller Raupach in Verbindung gebracht: „Am Rand jetzt zwischen Tag und Tag Begehen wir auf einen Schlag Die göttergleich Erhöhten, Hegeln zugleich mit Goethen. […] Daher, solang nicht breit genug Geteilt wird unser Denken, Muss sich auf balladesken Spuk Die Weltvernunft beschränken. Und bis er sich nicht frisch erweist Im Volksgemüt, behält der Geist Etwas Gespensterhaftes. Ich hoff, die Menschheit schafft es [Hervorhebung vom Verfasser] Drauf ich: Ich seh die Sache doch Nicht so durchaus verpfuscht noch, Die Zeitung zwar schweigt immer noch, Und meine Liebste duscht noch, Doch grade von dem Goethe wie Sogar vom Hegel heget sie Als geistige Erscheinung Die allerhöchste Meinung. So zählten wir schon zwei bereits; Will mich auch gern verbinden, Der großen Wahrheit meinerseits Noch Anhänger zu finden ...“ (ebd., 180f) Das ist nahezu ein Programmgedicht, zumindest philosophisch-ästhetisch – doch mit politischer Rückwärts- und Vorwärts-Richtung. Die zwei Geistessäulen verbunden mit Liebe und Wein, Hoffnung, Macht und „Weltvernunft“ – das ist auch fast schon wieder der „Weltgeist“. Vorausgesetzt, dass er von einigen Massen mitgetragen wird – denn noch sind die Vorausdenker allein. Im Übrigen – der wichtigste Vers „Ich hoff, die Menschheit schafft es“ gab diesem Buch den Titel – es ist der kürzeste Satz eines großen Dichterprogramms!

Erscheinungsdatum
Verlagsort Leipzig
Sprache deutsch
Gewicht 926 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Kunst / Musik / Theater Theater / Ballett
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Ästhetik • Belletristik und verwandte Gebiete • Berliner Dramaturgie • Biografien, Literatur, Literaturwissenschaft • Christop Hein • DDR • Dramatik • Eulenspiegel • Goethe • Gregorek • Hacks, Peter • Heiner Müller • Klassik • Kommunismus • Kunst • Lyrik • Nationalpreis • schernikau • Shakespeare • Sozialismus • sozialistische Klassik • Stalin • Theater • Trilse-Finkelstein • Walter Ulbricht
ISBN-10 3-936149-19-4 / 3936149194
ISBN-13 978-3-936149-19-7 / 9783936149197
Zustand Neuware
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