Wie gesund wollen wir sein? (eBook)
224 Seiten
Mosaik (Verlag)
978-3-641-31586-3 (ISBN)
Das deutsche Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. An allen Ecken und Enden bröckelt es, Krankenhäuser und Personal sind überlastet, die Digitalisierung ist beim Faxen stehengeblieben. Wenn es so weiter geht, wird gesund werden und bleiben zum Glücksspiel.
Dr. med. Sven Jungmann ist mehrfach ausgezeichneter Arzt und Start-Up-Gründer. Er hat in deutschen Krankenhäusern und für die Fallschirmjäger gearbeitet. Durch seinen einzigartigen Blick auf die Medizin durch die Brille eines Tech-Gründers erkennt er Chancen ebenso wie Risiken und vor allem: Auswege.
Informativ wie kurzweilig zeigt er auf, wo akuter Handlungsbedarf besteht, um den Patienten Gesundheitssystem zu retten und was wir selbst tun können, um unsere Gesundheit an erste Stelle zu stellen.
Dr. med. Sven Jungmann, Jahrgang 1985, ist Arzt und Unternehmer, Vordenker des Gesundheitssystems, gefragter Sprecher auf Konferenzen und Berater für Medizin-Start-Ups. Derzeit ist er Mitgründer und CEO eines Start-Ups, das eine Methode zur Atemdiagnostik entwickelt. Die Digitalisierung der Medizin ist sein großes Thema.
KAPITEL 1
WARUM DATEN LEBEN RETTEN KÖNNEN, UND WIE WIR DIESE CHANCE GERADE VERSCHLAFEN
Schnitzeljagd im Krankenhaus-Computer: Alle Informationen sind da, aber schwer zu finden. Das digitale Chaos im Gesundheitswesen kostet Menschenleben.
Der Mann war mein erster Patient in der Notaufnahme an diesem Abend, und er sah ungesund aus. Seine Beine waren etwas geschwollen. Seine Haut war leicht bläulich marmoriert, ein Zeichen für eine Störung der Blutzirkulation. Er war übergewichtig und klagte über Schwindel und Atemnot. Der Mann war 64 Jahre alt, wirkte aber vom optischen Eindruck her zehn Jahre älter. Ein echter Berliner, er arbeitete im Handwerk und stand kurz vor der Pensionierung. Nennen wir ihn Heinz Lehmann. Herr Lehmann war in die Notaufnahme gekommen, weil ihm seine seit Tagen zunehmende Luftnot Probleme machte. Ich begann mit meinen Standardfragen:
»Haben Sie irgendwelche Vorerkrankungen?«
»Nö.«
»Nehmen Sie derzeit Medikamente?«
»Nö.«
Ich habe in der Notaufnahme gelernt, skeptisch zu sein gegenüber den Angaben, die Patienten machen. Denn so unglaublich es klingt, manchmal verschweigen Kranke die wichtigsten Details, geben falsch über sich selbst Auskunft, vergessen ganz entscheidende Dinge und bringen sich damit vielleicht sogar in Gefahr. Während ich Herrn Lehmann mit dem Stethoskop abhörte, fragte ich deshalb weiter.
»Nehmen Sie vielleicht Aspirin?«
Seine Haut, sein Gesicht, alles sah nach schlechter Durchblutung und Herzinsuffizienz aus. Vermutlich hatte er jahrzehntelang geraucht und vielleicht auch mehrmals pro Woche seine Eckkneipe besucht. Aspirin wird standardmäßig verschrieben bei Herzinfarkt und seinen Vorstufen, unter anderem bei instabiler Angina pectoris, nach arteriellen gefäßchirurgischen Eingriffen oder zur Vorbeugung von Hirninfarkten.
»Aspirin? Ja, ja, das nehme ich schon. Jeden Morgen eine.«
»Aber Sie haben doch eben zu mir gesagt, Sie nehmen keine Medikamente.«
»Ja, ich dachte, das zählt nicht mit.«
»Haben Sie denn Bluthochdruck?«
»Hatte ich, aber das ist vorbei, seit ich meine Blutdrucksenker nehme.«
»Aha.«
In solchen Momenten fühle ich Stress in mir aufsteigen. Mir gehen all die anderen Patienten durch den Kopf, die im Wartezimmer sitzen und sich die ganze Zeit fragen: »Wann schaut endlich jemand nach mir?« Nicht alle von ihnen leiden an etwas Lebensbedrohlichem, aber bei manchen kann der Zustand schnell kippen. Ich schiele auf die Warteliste im Computer, um zu fahnden, ob ich jemanden vorziehen sollte. Als Diensthabender fühle ich mich in solchen Momenten wie ein Fluglotse, der auf zehn Flugzeuge gleichzeitig achten muss, aber jedem einzelnen doch für einen Moment seine volle Aufmerksamkeit schenken soll. Und dann hat, um im Bild zu bleiben, auf einmal ein Pilot vergessen, mit welchem Hebel man im Landeanflug die Räder ausfährt.
Vorwurfsvolle Gedanken wie »Scheiße, dieser Mann hier schadet gerade sich selbst und dadurch auch allen anderen auf der Rettungsstelle« muss ich unterdrücken, denn auch dieser Patient ist gestresst und ängstlich. Und als Arzt möchte ich helfen. Zum Nachdenken bleibt ohnehin keine Zeit. Immer wieder kommen Pflegekräfte rein, fragen etwas, beschweren sich, dass ein Bericht noch nicht fertig ist oder die Röntgenanmeldung für jemanden noch ausgefüllt werden muss. Aber zurück zu Herrn Lehmann:
»Also nehmen Sie noch ein Medikament«, fuhr ich fort.
»Ja, schon. Ich dachte, so was meinen Sie nicht.«
»Welchen Blutdrucksenker nehmen Sie denn?«
»Also… den Namen weiß ich nicht. Das ist diese runde Tablette mit dem Schlitz in der Mitte.«
Er schaute fragend seine Frau an, die die ganze Zeit neben ihm saß. Ich schöpfe neue Hoffnung, denn in dieser Generation wissen die Ehefrauen oft viel besser Bescheid als die männlichen Patienten selbst. In diesem Fall aber nicht. Als Antwort kam nur ein Achselzucken von Frau Lehmann.
»Und wie viel nehmen Sie davon? Wie sind die Tabletten dosiert?«
»Weiß ich nicht.«
Ich nahm das alles erst einmal nur neutral zur Kenntnis. Ganz sicher bin ich mir nie, ob ich die reine Wahrheit höre. Vielleicht hat er mich vorher doch nicht angelogen und nimmt die Tablette tatsächlich gar nicht ein, obwohl seine Hausärztin ihn sicherlich mehrfach dazu aufgefordert hat.
Bei der anschließenden Untersuchung fiel mir eine kleine Narbe an Herrn Lehmanns Handgelenk über der Radialis-Arterie auf. So etwas kann anfangs nach einem Eingriff zurückbleiben, bei dem ein Katheter eingeführt wird – etwa um Stents zu setzen. Er könnte einen Herzklappenfehler gehabt haben.
»Herr Lehmann, Sie haben hier ja eine Narbe, die sieht neu aus. Was war denn da los?«
»Ach ja, da wurde ich operiert.«
»Ach was. Wann denn?«
»Vor drei Monaten, das ist aber alles wieder gut jetzt.«
»Und worum ging es da?«
»Da war was mit dem Herzen, Herzinfarkt oder so, aber der ist ja jetzt verheilt.«
Innerhalb von fünf Minuten hatte ich erfahren, dass dieser Patient, der angeblich keine Vorerkrankungen hatte und keine Medikamente brauchte, in Wirklichkeit mindestens zwei Tabletten täglich einnahm, vermutlich erst kürzlich einen Infarkt erlitten und eine Herzkatheteruntersuchung hinter sich hatte. Ich fragte mich, welche Überraschungen er noch für mich bereithielt. Die Informationen, die hier nach und nach herauskamen, waren potenziell lebenswichtig. Welches Medikament jemand nimmt, beeinflusst viele Entscheidungen, etwa welche Medikamente ich ihm überhaupt noch geben darf. Oder liegen Allergien oder Unverträglichkeiten vor? Oder weitere Erkrankungen, die ein bestimmtes Medikament verbieten? Und schließlich kann ein falsches Medikament sogar die Ursache für die Beschwerden sein, mit denen jemand zu mir kommt. Oft verordnen Patienten sich sozusagen selbst etwas, was ihnen aber eigentlich schadet. Das kann Aspirin oder Ibuprofen sein oder auch ein allabendliches Bier, oder zwei bis drei.
Nun hatte ich also nach detektivischer Vorarbeit endlich einige Details auf Herrn Lehmanns Patientenbogen erfasst. Ich würde gern behaupten, dass ich mir dabei wie Sherlock Holmes oder Dr. House vorkam, aber in Wirklichkeit fühlte ich mich wie ein überqualifizierter Datensammler. Ich konnte mich nicht auf das konzentrieren, wonach man sich – zumindest zu Beginn der Karriere – noch sehnt, bevor die angespannte Stimmung der meisten Krankenhäuser einen erfasst: ein gutes Arzt-Patienten-Gespräch.
Stattdessen musste ich mühsam einzelne Daten aus einem Kranken herauskitzeln, obwohl es irgendwo in dieser Stadt einen vollständigen Arztbericht gibt, in dem das alles schon steht. Diese eigentlich altbekannten Informationen hatten es nun endlich auf meinen Patientenbogen geschafft. Hurra! Aber nun ging es weiter: Um mehr über den Hintergrund dieses Patienten zu erfahren, musste ich genau herausfinden, was genau da erst vor wenigen Monaten gemacht wurde und warum.
»In welchem Krankenhaus hat Ihre Operation denn stattgefunden?«
»Weiß ich nicht mehr«, sagte Herr Lehmann.
Langsam stieg der Druck. Ich sah an der Liste auf dem Bildschirm, wie das Wartezimmer sich füllte. Trotzdem, es musste doch möglich sein, den Ort herauszufinden. Ich war außerdem allein mit der Verantwortung für diesen Patienten sowie für die Kolleginnen und Kollegen, denen ich ihn zur Weiterversorgung übergeben musste – möglichst vollständig vorbereitet. Ich musste das Problem lösen. Genau jetzt. Und zwar schnell.
Wir googeln Fassaden
»Wie sah es denn da aus, als Sie in dieses Krankenhaus kamen?«
Der Mann überlegte.
»Also das Gebäude hatte so rote Mauern aus Klinkern, und nebendran war eine Kirche, das weiß ich noch genau!«
Ich öffnete Google Maps. Tippte »Hospital near Church« ein und schaltete auf Street View um. Dann zeigte ich Herrn Lehmann einige der Bilder.
»Sieht diese Mauer entsprechend rot aus?«
Herr Lehmann überlegte mit mir. Eine der Mauern sah dann wirklich so aus, wie er es in Erinnerung hatte. Sie gehörte zu einem Krankenhaus im Südwesten der Stadt, und neben dem Haupteingang stand tatsächlich eine Kirche. Ich ließ Herrn Lehmann im Behandlungszimmer warten, unter den wachsamen Augen einer Pflegekraft, und setzte mich ans Telefon. Weil ich auch als Arzt keinen anderen Kontakt habe, rief ich die Hauptnummer des Krankenhauses an. Der Pförtner stellte mich zur Notaufnahme durch, dort ging ein Pfleger namens Harry dran. Ich erklärte ihm mein Anliegen. Harry sagte mir, dass die diensthabende Ärztin gerade steril sei und in der Notaufnahme Blut abnehme. Er gab mir eine Durchwahl und bat mich, später noch einmal anzurufen. Zuerst piepte mich allerdings eine Krankenschwester aus der Notaufnahme an. (Ja, es gibt tatsächlich in vielen Häusern bis heute noch Pieper. Diese Dinger aus den Neunzigern, die man am Gürtel trägt.)
»Ich habe da einen Patienten mit akuter Luftnot seit heute Nachmittag«, sagte sie, als ich bei ihr angerauscht kam, »schaust du dir den bitte gleich mal an?«
Akute Luftnot ohne weitere Infos kann bedeuten: Da hat ein sonst völlig Gesunder eine Panikattacke. Oder es kann bedeuten: da stirbt jemand in den nächsten 15 Minuten. Ich ging deshalb sofort hin. Zum Glück war es nichts Gefährliches. Wir konnten den Patienten vorerst stabilisieren, meine Kollegin versorgte ihn weiter, und ich widmete mich wieder Herrn Lehmann. Ich rief noch mal in dem anderen Krankenhaus an und erreichte dieses Mal die...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Ärzte & Medizin • Arzt-Patienten-Kommunikation • Behandlung • Behandlungsfehler • Burnout • Datenmedizin • Datenschutz • Diagnose • Digitalisierung • Doc Caro • eBooks • Eckardt von Hirschhausen • Fallgeschichten • Früherkennung • Gesundheitssystem • Gesundheitswesen • Heilung • KI • Kommunikation • Krankenhaus • Krankenpflege • krankes Gesundheitssystem • Krankheit • Medizin • Neuerscheinung • Notfallversorgung • Patient • Patientenakten • Patientenverfügung • Reform • Selbstheilung • Zivilisationskrankheiten |
ISBN-10 | 3-641-31586-7 / 3641315867 |
ISBN-13 | 978-3-641-31586-3 / 9783641315863 |
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