Das Gespenst des Kapitals (eBook)

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
224 Seiten
diaphanes AG (Verlag)
978-3-03734-845-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Gespenst des Kapitals -  Joseph Vogl
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Angesichts der Ereignisstürme im gegenwärtigen Finanz­geschäft widmet sich Joseph Vogl den Wahrnehmungs­weisen, Theorien und Problemlagen dessen, was man mit gutem Grund immer noch Kapitalismus nennen muss. Gerade Finanzmärkte gelten als das Marktgeschehen schlechthin: Unbelastet von den Beschwernissen der Produktion sind sie - für die herrschende ökonomische Doktrin - Schauplätze eines perfekten Wettbewerbs und idealer wirtschaftlicher Ausgleichprozesse: ein segensreiches Zusammenspiel von gewinnorientierten und also ebenso rationalen wie zuverlässigen Akteuren. Darum wollte man in Spekulationsblasen und Crashs bloße Anpassungskrisen oder jene Ausnahmesituationen erkennen, die im irrationalen Überschwang eines vielleicht gierigen, vielleicht inkompetenten oder schlicht rücksichtslosen Spekulationswesens gründen.

Hier setzen die Fragen des Essays an: Sind die irrationalen Exuberanzen wirklich Ausnahmefälle oder nicht eher reguläre Prozesse im Getriebe kapitalistischer Ökonomien? Reicht die Unterscheidung von rational und irrational überhaupt hin, die Effekte dieses Systems zu fassen? Begegnet ökonomische Rationalität hier nicht unmittelbar ihrer eigenen Unvernunft? Arbeitet das System tatsächlich effizient und rational?

Einer ebenso historischen wie theoretischen Sondierung folgend, hegt der Essay einen grundlegenden Zweifel darüber, ob die alte liberale Hoffnung auf die ausgleichende Ordnungsmacht des Marktes - Adam Smiths berühmte >unsichtbare Hand< - noch gerechtfertigt ist. So wenig der Kapitalismus als reiner Rationalisierungsprozess beschrieben werden kann, so wenig lassen sich Spekulation und Spekulanten als verworfene oder pathologische Ausnahmegestalten begreifen. Das liegt nicht zuletzt an den Dynamiken der modernen Finanzökonomie, die sich auf die Wirkungsweise einer stets offenen und ungewissen Zukunft verpflichtet. Für die Märkte der futures und Derivate ist Zukunft, d.h. Zeit zur unerschöpflichen Ressource geworden. Im Zentrum steht das Wissen um jene scheinbar irregulären Ereignisse, in denen die finanzökonomische Welt unlesbar und undurchschaubar geworden ist: Hier wirken Ungewissheit und Instabilität im Herzen des Systems; und hier vollzieht sich ein Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit - das Gespenst des Kapitals.



Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

7 - 8 Vorbemerkung (Joseph Vogl)9 - 29 Der schwarze Schwan (Joseph Vogl)31 - 52 Idylle des Markts I (Joseph Vogl)53 - 82 Zeit des Kapitals (Joseph Vogl)83 - 114 Idylle des Markts II (Joseph Vogl)115 - 140 Ökonomische und soziale Reproduktion (Joseph Vogl)141 - 178 Überraschungsraum (Joseph Vogl)179 - 203 Anmerkungen (Joseph Vogl)205 - 222 Literatur (Joseph Vogl)223 Bildnachweise (Joseph Vogl)

Erstes Kapitel
Der schwarze Schwan

Kosmopolis

Es war in New York, an einem Tag im April des Jahres 2000. Die Zwillingstürme des World Trade Centers standen noch. Mehr als einhundert Monate lang war die amerikanische Wirtschaft unaufhaltsam gewachsen, der Dow Jones Industrial hatte gerade ein Allzeit-Rekord-Hoch erreicht und die Marke von 11.000 Punkten überschritten, der elektronische Handel an der Nasdaq wurde von einer regelrechten Rallye getrieben. Von den obersten Etagen des Trump World Towers in der Nähe des UNO-Hauptquartiers aus gibt der anbrechende Tag einen Blick über den East River, über die Brücken und Schornsteine von Queens bis in eine Ferne jenseits der Suburbs, Dunstschwaden und Möwenschwärme tief unten. Nach einer schlaflosen Nacht entscheidet sich ein 28-jähriger Milliardär und Fondsmanager, dieses Apartment über der East Side von Manhattan zu verlassen, um einen Friseur an der schäbigen West Side – dem Ort seiner Kindheit – aufzusuchen. Er nimmt einen der privaten Fahrstühle nach unten, besteigt seine überlange weiße, gepanzerte Limousine, die mit Kork gegen Lärm, mit Überwachungskameras und mit zahllosen Bildschirmen für Weltnachrichten und Kursnotierungen ausgestattet ist. Chauffeur, Sicherheits- und Technologiechef warten bereits. Das Fahrzeug biegt in die 47. Straße auf den Weg nach Westen ein, passiert Häuserblock um Häuserblock und gerät bis in die späte Nacht in eine Reihe von Abenteuern und Verwicklungen, die den Titel einer Irrfahrt rechtfertigen. Der Fondsmanager begegnet seiner Frau sowie der einen oder anderen Geliebten. Die Ermordung des Direktors des Internationalen Währungsfonds wird gemeldet, ebenso die eines russischen Oligarchen und Medienunternehmers, der ein Freund des jungen Milliardärs gewesen ist. Im stockenden Verkehr kreuzt man die Park Avenue und die Madison Avenue, man durchquert das alte jüdische Viertel, erreicht den Theaterdistrikt in der Nähe des Broadways und wird dort durch den Aufruhr einer Anti-Globalisierungsdemonstration aufgehalten. Am Eingang einer Investmentbank explodiert eine Bombe; man beobachtet die Selbstverbrennung eines jungen Mannes, wenig später wird der Spekulant selbst Opfer eines Tortenattentats. Plötzlich und ohne besonderen Grund ermordet er seinen Sicherheitschef, gelangt dann zum Friseurladen seiner Kindheit in der Nähe der Docks. Wiederum grundlos und überstürzt verlässt er den Friseur, wird in nächtliche Filmaufnahmen mit dreihundert nackten Statisten verwickelt, trifft zufällig und ein letztes Mal seine Frau. In einer verlassenen Hausruine wird er von einem ehemaligen Mitarbeiter erwartet, den er schließlich als seinen Mörder erkennen muss.

Mit dieser kuriosen Geschichte führt Don DeLillos Roman Cosmopolis von 2003 in die Schauplätze moderner Finanzmärkte, rührt an die Frage ihrer Erzählbarkeit und bietet dafür eine Reihe narrativer und argumentativer Figuren auf, die das Rätsel der Finanzökonomie, ihres Personals und ihrer Operationen umstellen. DeLillo, der sich bereits in seinem Roman Players (1977) der Frage nach der erzählerischen Fassung von Finanzgeschäft und Börsenspekulation widmete, hat mit der Tagesfahrt eines New Yorker Spekulanten zum Friseur in Cosmopolis eine Darstellungspraxis gewählt, die eine Synopse von Wahrnehmungsweisen und Problemlagen dessen ergibt, was man immer noch Kapitalismus nennen muss. Das betrifft das Profil seiner Hauptfigur, die sich zu einer Allegorie modernen Finanzkapitals verdichtet und dabei ebenso historische Referenzen wie aktuelle wirtschaftstheoretische Einfälle aufruft. Zugleich verfolgt DeLillos Roman eine Erzählweise, die mit ihrer hypertrophen Ereignismasse grundsätzliche Fragen danach stellt, wie sich Begebenheiten mit Begebenheiten im Zeichen heutiger Weltwirtschaft verknüpfen. Das bietet auch eine Gelegenheit dazu, nach der Wirksamkeit jenes Geschickes zu fragen, das diese kapitalistische Ökonomie selber ist.

Kapitalistischer Geist

So versammelt der Fondsmanager und Spekulant bei DeLillo zunächst einige kanonische und lange bewährte Merkmale, die seit wenigstens zwei Jahrhunderten die Karrieren von Finanz- und Börsenspekulanten begleiten und deren Kennung garantieren. Ausgestattet mit der Legende rücksichtsloser Effizienz, einem Raubtierinstinkt und mit dem Ruf von Exemplaren, die »jung und clever und von Wölfen aufgezogen« die Gefährlichkeit des Finanzkapitalismus verkörpern, fügt er sich in eine Serie, die von den »Condottieri«, den »Piraten« und »Werwölfen« des Geldgeschäfts bei Balzac über ein vagabundierendes Rittertum des Kredits bei Marx bis zu den mad dogs, rogue traders und »Wolfsrudeln« der gegenwärtigen Devisenmärkte reicht.1 Zudem präsentiert sich DeLillos Protagonist mit dem energischen Namen Eric Packer als Charaktermaske – oder besser noch: als Traum oder Vision – des aktuellsten Finanzkapitals. Er agiert nicht nur schlaflos und überwach, exzessiv und manisch, er ist nicht nur überall und nirgends zuhause, ein Odysseus der Globalisierung und Weltbürger einer monetären Kosmopolis. Ausgezeichnet wird er vielmehr durch das Begehren, die Schwerfälligkeit der materiellen Welt, das Reich der Körper- und Besitzzustände selbst hinter sich zu lassen. Er träumt vom Verlöschen der Gebrauchswerte, vom Schwinden der referenziellen Dimension, er träumt von der Auflösung der Welt in Datenströme und der Alleinherrschaft des binären Codes; und er setzt auf die Spiritualität des Cyberkapitals, das sich ins ewige Licht, in das Leuchten und Flimmern der Charts auf den Bildschirmen überträgt. Das ist der Traum einer radikalen und endgültigen Transsubstanziation. Wie schon in Emile Zolas Börsenroman Das Geld von Poeten erhabener Geldsummen die Rede war, so hat man es hier mit einer jüngsten Abwandlung zu tun: mit dem poète maudit einer neuen Generation von Symbolexperten, die Besessenheit mit Extravaganz kombinieren und sich den »Selbstgesprächen« des Geldes (87), einem freien, artifiziellen und selbstbezüglichen Spiel der Zeichen und der Information verschreiben, abgedichtet gegen die Restwelt wie die mit Kork gerüstete und also an Marcel Prousts isoliertes Schreibzimmer erinnernde Büro-Limousine. Zuletzt vollzieht sich hier ein Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit. Die Wörter und Begriffe der Umgangssprache, so heißt es einmal, sind noch allzu sehr mit historischen Bedeutungsresten beladen, allzu »schwerfällig« und »antifuturistisch«. Demgegenüber werden im Takt der Nanosekunden, den die Oszillatoren der Börsen- und Devisenmaschine diktieren, die Spuren der Geschichte ausgelöscht, annulliert im Sog der Futures und ihrer Derivate – die Gegenwart »wird aus der Welt gesaugt, um Platz zu schaffen für die Zukunft der unkontrollierten Märkte und ihre riesigen Investitionspotenziale. Die Zukunft wird dringlich« (90). Wie sich der Markt weder für Vergangenheit noch für die Gegenwart, sondern nur für künftige Gewinnaussichten interessiert, so ist der Traum dieses Kapitals Vergessen; er handelt von der Macht der Zukunft und erfüllt sich in einem Ende der Geschichte.

Angesichts der Mysterien des modernsten Finanzkapitals kombiniert DeLillos Roman offenbar die Elemente eines älteren mit denen des neuen kapitalistischen Geistes. Denn einerseits wird dabei der Prozess jener schöpferischen Zerstörung verhandelt, mit der Joseph Schumpeter einmal die Veränderungssucht, die kontinuierliche Revolutionierung von Welt- und Wirtschaftsstrukturen im Zeichen kapitalistischen Unternehmertums umschrieben hatte: »Zerstört die Vergangenheit, erschafft die Zukunft« (103). Die Kräfte des Kapitals waren niemals bewahrend oder ›konservativ‹. Andererseits aber haben sie sich von der Sphäre der Produktion selbst gelöst. Mit der Allianz von »Technologie und Kapital« (31) ist die Kultur des Marktes ebenso total wie schwerelos geworden, die Kapitalbewegung entgrenzt sich, befreit sich von den materiellen Erscheinungsformen des Reichtums und hat sich in einer »Zeit jenseits von Geographie und greifbarem Geld« (45) installiert. Sie diktiert ihre eigenen Dynamiken und Mobilitätsstandards, lässt alle lokalen, sozialen oder politischen Einbettungen hinter sich. Und sie kann dabei noch Aufruhr und Anarchie als vitalen Ausdruck ihres eigenen Systems absorbieren, sie kann den Protest als eine Fantasie freier Märkte und Kapitalismuskritik als deren konsequente Selbstoptimierung verbuchen: »Der Protest war eine Form systemischer Hygiene […]. Er attestierte der Kultur des Marktes ein weiteres, ein zehntausendstes Mal innovative Brillanz und die Fähigkeit, sich selbst zu ihren eigenen flexiblen Zwecken umzugestalten und dabei alles ringsum aufzunehmen« (110). Dieses System, so legt es DeLillos thesenhafter Roman nahe, reformiert sich im Widerstand, inkludiert seine Opposition, integriert die spontane Aktion und perfektioniert sich – ganz im Sinne eines New Managements – als eigentliches Kreativitätsreservat. Nicht von ungefähr wird das gesamte Geschehen einmal überragt von einer Schlagzeile, die – von Demonstranten in das Display, auf den Börsenticker an der Fassade einer Investmentbank geschrieben – den berühmten Anfang aus dem Kommunistischen Manifest entwendet, abwandelt und damit den kapitalistischen Geist mit dessen einstigem und ›gespenstischem‹ Widerpart verwechselbar macht: »ein gespenst geht um in der welt – das gespenst des kapitalismus« (107).

Entsicherung

Dieser literarische Zusammenschnitt von kanonischen...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2018
Reihe/Serie minima oeconomica
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Diskursgeschichte • Diskursgeschichte; Finanzkrise; Finanzmärkte; Homo oeconomicus; Kapitalismus; Kapitalismuskritik • Finanzkrise • Finanzmärkte • Finanzsystem • Homo oeconomicus • Kapitalismus • Kapitalismuskritik
ISBN-10 3-03734-845-3 / 3037348453
ISBN-13 978-3-03734-845-1 / 9783037348451
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