Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit (eBook)
195 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74072-9 (ISBN)
<p>Marianne Kreuels war Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln und ist derzeit als freie Autorin und Lektorin tätig.</p>
2. Sterblichkeit, Präferenzen und Persönlichkeit
Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit beeinflusst Menschen in besonderer Weise, etwa indem es ihre Wünsche mitbestimmt. Das Ereignis des Todes und damit die menschliche Sterblichkeit begrenzen die Zeit, die zur Erfüllung dieser Wünsche zur Verfügung steht, weswegen viele Wünsche, Absichten und Ziele von Personen sich auf einen bestimmten, durch den eigenen Tod begrenzten Zeitraum richten.
Die Idee, die ich als Erstes untersuchen werde, geht davon aus, dass die Anzahl der Wünsche einer Person begrenzt ist: Die Unsterbliche hat früher oder später »[a]lles schon gesehen, alles schon erlebt«,[1] was sie gerne sehen und erleben würde, und verfiele deswegen früher oder später in einen depressiven Zustand existenzieller Langeweile.
Die Wünsche und die Persönlichkeit eines Menschen bleiben jedoch nicht während des ganzen Lebens konstant, vielmehr verändern sie sich im Lauf der Zeit mehr oder weniger radikal. Auch dieser kontinuierliche Prozess der Veränderung oder Entwicklung wird vom Tod der Person beendet; das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit schafft einen Rahmen, innerhalb dessen die Person ihre eigene Zukunft entwirft. In einem zweiten Schritt werde ich daher der Frage nachgehen, ob die (häufig positiv bewertete) Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im Lauf eines Lebens nur um den Preis des Todes zu haben ist.
2. 1 Die Langeweile der Unsterblichkeit
Das Motiv der langweiligen Unsterblichkeit ist in der Literatur weit verbreitet. Ein unendliches Leben voller Leere und Lethargie lebt zum Beispiel Fosca, der unsterbliche Protagonist in Simone de Beauvoirs Roman Alle Menschen sind sterblich. Er hat in seiner Jugend von einem Lebenselixier getrunken und verharrt nach Jahrhunderten, zu ewiger Jugend verdammt, in unerträglicher Langeweile.[2] Ähnlich ergeht es Wowbagger, einer durch mysteriöse Umstände unsterblich gewordenen Person aus Douglas Adams’ Science-Fiction-Roman Das Leben, das Universum und der ganze Rest, die zu Beginn noch Spaß an der Unsterblichkeit hat und viele langfristige Projekte beginnt, schlussendlich aber die Langeweile – insbesondere an den Sonntagnachmittagen – nicht mehr erträgt.[3] Auch in der philosophischen Thanatologie wird die Befürchtung, dass Unsterblichkeit und Langeweile eng miteinander verbunden sind, intensiv diskutiert.
Der Philosoph Bernard Williams veröffentlichte 1973 einen Aufsatz über den Zusammenhang von Sterblichkeit und menschlichen Wünschen, der sich für die Frage nach der Beschaffenheit der Unsterblichkeit als sehr bedeutsam erwies. Williams formuliert darin ganz explizit die Idee, dass Unsterblichkeit nicht wünschenswert sei, da sie – bei diachroner Identität[4] einer Person – zwangsläufig zur unerträglichen Langeweile führen würde. Ein Leben, das schon eine sehr lange Zeit andauert und in Zukunft unendlich lange bestehen würde, sei für eine Person nicht wünschenswert.[5]
Um das Szenario eines unsterblichen Lebens zu illustrieren, bezieht sich Williams auf die Oper Die Sache Makropulos von Leoš Janáček.[6] Die Protagonistin dieses Stückes, Elina Makropulos, ist auf eine Weise unsterblich, die es ihr ermöglicht, (biologisch) für immer 42 Jahre alt zu bleiben, indem sie regelmäßig ein Lebenselixier einnimmt. Da sie sich nach einigen hundert Jahren in einem Zustand der »Langeweile, Gleichgültigkeit und Kälte«[7] befindet, der dazu führt, dass sie ihren eigenen Tod herbeisehnt, weigert sie sich schließlich, das Lebenselixier ein weiteres Mal einzunehmen, und stirbt. Die Unsterblichkeit wird in diesem Stück als ein Zustand geschildert, der es der unsterblichen Person unmöglich macht, ein befriedigendes und erfülltes Leben zu führen, da sie mit den Jahren und fortschreitendem Alter den Kontakt zur und das Interesse an der sie umgebenden Welt verliert. Williams’ Argument wird seit seinem Erscheinen immer wieder diskutiert. Für die Frage nach dem Status der menschlichen Unsterblichkeit und damit auch für die Frage nach den Implikationen der Sterblichkeit ist es von unmittelbarer Relevanz.
Dafür, dass einer Person an ihrer eigenen Fortexistenz gelegen sein kann, gelten laut Williams im Wesentlichen zwei Bedingungen: die Identitäts- und die Attraktivitätsbedingung. Während die Identitätsbedingung sicherstellt, dass es sich bei der fortbestehenden Person überhaupt um diejenige handelt, deren Fortexistenz ursprünglich infrage stand, fordert die Attraktivitätsbedingung, dass ihr zukünftiges Leben ihr ausreichend attraktiv erscheint, um den Wunsch nach Weiterleben stützen zu können.
Die Identität einer Person wird nach Williams bestimmt durch ihr Wunschprofil, das ihre Erwartungen an die Zukunft umfasst. Sofern sich alle ihre Wünsche verändern, hat die Person aufgehört zu existieren. Über die Zeit hinweg muss die personale Identität in Gestalt des Wunschprofils bestehen bleiben. Dies ist die Identitätsbedingung. Darüber hinaus muss der Person, die den Wunsch hat weiterzuleben, ihr Leben ausreichend attraktiv erscheinen – sonst würde sie den Wunsch weiterzuleben verlieren. Daher dürfen Williams zufolge nicht alle ihre Wünsche erfüllt sein (sie muss unerfüllte Wünsche haben), denn ein Leben, in dem alle Wünsche erfüllt sind, sei für die Person nicht mehr attraktiv. Unerfüllte Wünsche sind nach Williams also die Bedingung für den Wert des eigenen Weiterlebens. Dies ist die Attraktivitätsbedingung. Die Identitäts- und die Attraktivitätsbedingung bilden zusammen die Basis von Williams’ Argument für die Langeweile der Unsterblichkeit.[8]
Die Identitätsbedingung soll hierbei sicherstellen, dass auch tatsächlich ich diejenige Person bin, die in Zukunft existieren wird, wenn ich mich um mein zukünftiges Leben sorge. Der Wunsch nach Unsterblichkeit, den Personen äußern können, wird in der Regel unter der Prämisse formuliert, dass es das Leben des Wünschenden ist, das sich unendlich (oder zumindest um eine sehr lange Zeitspanne) verlängert: Das zukünftige Leben einer Person, die nicht ich ist, betrifft mich in einer vollkommen anderen Weise als mein eigenes Weiterleben. Die zweite Bedingung gewährleistet, dass mir das Weiterleben irgendwie attraktiv erscheint, da ich ansonsten sinnvollerweise kein Interesse daran haben könnte, mein Leben fortzusetzen. Da Personen sich für ihr zukünftiges Leben ganz unterschiedliche Dinge wünschen können, ist diese Bedingung abstrakt formuliert, ohne einen konkreten Lebensinhalt als Bedingung für dessen Wert festzuschreiben. Stattdessen besagt sie, dass der Wunsch, weiterzuleben, von bestimmten anderen Wünschen abhängig ist. Sollten diese nicht mehr vorhanden sein (weil sie etwa vollständig erfüllt sind), so fiele auch der Wunsch nach dem persönlichen Weiterleben weg.
Um diese Annahme zu verstehen, gilt es, die Klasse von Wünschen eingehender zu betrachten, die Williams als Bedingung für den Wert des persönlichen Weiterlebens ansieht. Williams unterscheidet insbesondere zwischen zwei Arten von Wünschen, nämlich zwischen konditionalen und kategorischen Wünschen. Abhängig (konditional) und unabhängig (kategorisch) sind diese Wünsche jeweils von der eigenen Existenz. Konditionale Wünsche sind also abhängig davon, dass die Person, deren Wünsche es sind, fortbesteht. So kann ich mir zum Beispiel wünschen, heute früh Feierabend zu machen, morgen ausgiebig zu frühstücken oder mit neunzig Jahren fürsorglich gepflegt zu werden. Diese Wünsche gelten nur für den Fall, dass ich meinen Feierabend, den morgigen Tag oder mein einundneunzigstes Lebensjahr auch tatsächlich erlebe. Anders gesagt: Konditionale, das heißt in diesem Fall existenzbedingte Wünsche werden durch den Tod der Person, deren Wünsche es sind, nicht frustriert.
Kategorisch sind demgegenüber diejenigen Wünsche, die das Überleben selbst bedingungslos zum Inhalt haben und deren Erfüllung daher die eigene Existenz erfordert, wie zum Beispiel der Wunsch, eine komplizierte Operation zu überstehen, der Wunsch, dass die eigenen Kinder in Gegenwart ihrer Eltern aufwachsen, der Wunsch, das Trompetespielen zu erlernen, oder der Wunsch, einen Gedichtband zu veröffentlichen. Diese kategorischen Wünsche sind es, die unsere Projekte und Pläne beinhalten und die somit dafür von Bedeutung sind, dass überhaupt ein Interesse am Überleben besteht. Diejenigen unerfüllten kategorischen Wünsche, mit denen Williams sich beschäftigt, werden durch den eigenen Tod frustriert, er bezieht sich also nur auf (im nichtmoralischen Sinn) egozentrische kategorische Wünsche.
Nicht alle bedingungslosen Wünsche setzen die eigene Identität in Williams’ Sinn voraus. Ein Wunsch, der an keine Bedingungen geknüpft ist, könnte etwa darin bestehen, dass eine Behandlungsmöglichkeit für eine bestimmte Krankheit entwickelt wird. Dieser Wunsch ist zwar bedingungslos (im Gegensatz zu Williams’ Klasse der konditionalen, also bedingten Wünsche), erfordert jedoch nicht die Existenz der eigenen Person. Dies ist erst der Fall, wenn ich mir wünsche, dass ich diejenige Person bin, die die Therapie gegen diese Krankheit entdeckt, oder dass ich die Entdeckung der neuen Behandlung miterlebe – wenn der Wünschende, so Williams, sich wünscht, dass seine eigene Existenz zur Erfüllung seines Wunsches notwendig ist.[9] Solche egozentrischen kategorischen Wünsche sind diejenigen, um die es ihm bei seiner Unterscheidung geht.[10]
Williams nimmt an, dass es die kategorischen Wünsche einer Person sind, die ihre Identität...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Bernard • Essay • Existenzphilosophie • Martha C. • Nussbaum • Nussbaum, Martha C. • Sterblichkeit • STW 2150 • STW2150 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2150 • unendliches Leben • Williams • Williams, Bernard |
ISBN-10 | 3-518-74072-5 / 3518740725 |
ISBN-13 | 978-3-518-74072-9 / 9783518740729 |
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