Das Jahrhundert verstehen (eBook)

Eine universalhistorische Deutung

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
400 Seiten
Pantheon (Verlag)
978-3-641-15494-3 (ISBN)

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Das Jahrhundert verstehen -  Dan Diner
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Die große Interpretation des 20. Jahrhunderts
Dan Diner untersucht das politische Geschehen im 20. Jahrhundert auf zwei Ebenen, zum einen die Ebene der vordergründigen Konfrontationen von Werten und Ideologien, zum anderen die Ebene der traditionellen Konfliktlinien von Hegemonie und Nationalität, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Das Hauptgewicht seiner Darstellung liegt auf der katastrophischen ersten Jahrhunderthälfte, wobei er die Ereignisse von der europäischen Peripherie her in den Blick nimmt, bislang verborgen gebliebene Beziehungen aufdeckt und neue Interpretationen vorschlägt.

Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Der international renommierte Historiker war von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Dan Diner steht der Alfred Landecker Stiftung vor. Zu seinen Hauptwerken gehört »Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte« (2010); »Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989« (2015) und »Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage« (2015).

Einleitung

Periodisierung und Epochenbewußtsein / Zeitachsen / Geschichtserzählung in peripherialer Sicht / historische Perspektiven / verfremdete Gegenwarten / verschwundene Zeiten / verschollene Räume / letzte Quellen

Dieses Buch besteht aus Auslassungen. Dem kann nicht anders sein. Keine historische Darstellung, die sich nicht mit einer chronologischen Aneinanderreihung relevanter Vorgänge begnügt, kommt umhin, aus der Fülle des von der Wirklichkeit dargebotenen Materials auszuwählen. Die Auswahl ist nicht beliebig; schließlich wird sie mit dem Anspruch auf das Wesentliche getroffen. Was wiederum als wesentlich gilt, bleibt der Urteilskraft des Historikers überlassen. Dabei handelt es sich nicht um hermeneutisches Verstehen allein; vielmehr kommt es darauf an, Komplexität und Vielfalt historischer Wirklichkeiten sinnvoll zu reduzieren. Eine solche Reduktion liegt der Konstruktion eines jeden Geschichtsnarrativs zugrunde.

Schon der Darstellbarkeit wegen entwickelt der Historiker Kriterien zeitlicher Eingrenzung. Wann eine Epoche beginnt und wann sie endet, erlegt er der verflossenen Zeit von außen auf, aus dem Nachhinein, dem hindsight. Nur aus angemessener zeitlicher Distanz kann eine plausible, überzeugende historische Wertung des Vergangenen erfolgen. Von den Wahrnehmungen der Zeitgenossen wird sich das im nachhinein konstruierte Bild der Epoche unterscheiden. In wenigen Ausnahmesituationen dürfte es angemessen sein, der jetztzeitigen Perspektive der Protagonisten zu folgen und aus der Aktualität heraus außergewöhnliche Vorgänge mit dem Prädikat des Historischen zu versehen. Mit diesem Prädikat werden in der Gegenwart gewöhnlich solche Vorgänge ausgezeichnet, die beim Zeitgenossen den Eindruck hervorrufen, sein Empfinden werde von späteren Historikern aus angemessener Distanz bestätigt werden. Dieses Gefühl war im Jahre 1989 allgegenwärtig. Die Zeitgenossen erfaßte die Gewißheit, in ihrem Beisein sei eine ganze Epoche jäh an ihr Ende gelangt. Unter der Wucht der als epochal empfundenen Ereignisse drängte es das Bewußtsein, die abrupt historisch gewordene Zeit periodisierend zu vermessen: War der Abschluß der Epoche mit der Zeitikone 1989 angezeigt, so ruft diese ihre kongeniale Markierung als das Jahr 1917 auf. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zum Ausgang des Jahrhunderts wird das Geschehen der Oktoberrevolution in den Rang seines Auftakts versetzt.

Eine dem Zeitempfinden gebührliche Vermessung des Jahrhunderts vom Jahre 1917 bis zum Jahre 1989 gibt eine Deutung vor, mit der sich thematische Auslassungen in der Darstellung des Jahrhunderts plausibel begründen lassen. Diese Periodisierung rückt jene Ereignisse und Vorgänge in den Blick, die den Zusammenstoß zwischen dem Kommunismus und seinen Antagonisten epochal erscheinen lassen. Diese Gegnerschaft wurde im Zeichen eines Weltbürgerkriegs ausgetragen und begründete sich vornehmlich ideologisch – ein Kampf der Werte und Weltanschauungen, universell angelegt und global ausgreifend. In unterschiedlicher Ausformung durchzog der Dualismus das Jahrhundert: als Freiheit und Gleichheit, Bolschewismus und Antibolschewismus, Kapitalismus und Kommunismus, Ost und West.

Seiner Universalität wegen bietet sich dieser Antagonismus als zentrale Deutungsachse des Saeculums an. Gleichwohl stellen sich an seiner durchgängigen Geltung Zweifel ein. Sie verstärken sich angesichts der Ereignisse, die auf das Epochenjahr 1989 folgen. Diese Geschehnisse aus der Zeit danach sind allem Dafürhalten nach jenseits des für die Epoche des 20. Jahrhunderts gültigen Gegensatzes der Werte und Ideologien angesiedelt. Ihnen liegen keine konfligierenden Universalismen zugrunde. Sie beruhen im Gegenteil auf einer Wiederbelebung archaisch anmutender Zugehörigkeiten – auf Ethnos und Nationalität, auf der Geltung und Wirkung langer Gedächtnisse und der sie begründenden Vorvergangenheiten. In der Epoche des Weltbürgerkrieges der Werte und Weltanschauungen schienen sie zwischenzeitlich wie anästhesiert, überwältigt von der Rhetorik widerstreitender Universalismen. Ihre Wiederkunft nährt den Zweifel, das Saeculum sei ausschließlich entlang der Deutungsachse antagonistischer Werte zu verstehen.

Geschichte ist ein offener Vorgang. Ihre Offenheit in die Zukunft bleibt auch für längst abgelaufene Vergangenheiten nicht ohne Folgen; sie wandeln sich im Rückblick aus der hinzugetretenen Zeit. Bleiben die gewesenen Wirklichkeiten auch dem Zugriff der neuen Gegenwarten entzogen, so verändert sich doch aller Faktizität unbeschadet das historische Bild der Vergangenheit. In jeweils neues Licht getaucht, erscheint jenes Bild verfremdet, mitunter sogar ganz anders. Ereignisse und Gestalten, für die Darstellung der Epoche bisher unverzichtbar, büßen an Geltung ein oder entschwinden aus der Erinnerung. In der Konstruktion der Geschichte treten fundamentale Verschiebungen ein; der Wirkung tektonischer Beben entsprechend, reißen sie bislang gültige Kontinuitäten auf. Kontingenzen türmen sich auf. Die Zeit schichtet sich neu und verleiht der Epoche ein gewandeltes Profil. Gleich einem Findling entzieht sich etwa die Periode des Kalten Krieges erratisch den Mustern vorausgegangener wie nachfolgender Zeiten. Ihre Gewißheiten finden sich zusehends annulliert. Ihr Erfahrungswert vergeht – eine gleichsam absterbende Zeit. Solcher Schwund hinterläßt freilich keine bleibende Leere. Das verfallende Gewebe wird umgehend ersetzt, kompensiert – von Bestandteilen wiederauflebender Erinnerung durch die Wiederkehr längst abgegolten geglaubter Vergangenheiten. Unter Umgehung des jüngst Gewesenen scheint sich die Gegenwart altneuen Mustern europäischer Geschichte anzunähern. Offenbar evoziert die Wiederkehr historischer Räume im Gedächtnis die Wiederkehr historischer Zeiten.

Nach dem Epocheneinschnitt 1989 scheinen also vermehrt Tendenzen auf, die den traditionellen Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts entspringen. Damit könnte die Achse des ideologischen Gegensatzes an Gewicht verlieren. Sie hätte auf ihr angemaßtes Deutungsmonopol zu verzichten und manches an Einsicht und Erkenntnis einer anderen, rivalisierenden Achse der Jahrhundertinterpretation, die sich weniger einer Entgegensetzung der Werte und der Weltanschauungen verpflichtet als die Geltung von geographischen und ethnischen Momenten zur Kenntnis nimmt, abzutreten.

Indes ist das 20. Jahrhundert weder über die eine noch über die andere Deutungsachse allein hinreichend zu verstehen. Ein angemessener Zugang scheint sich eher über eine Verschränkung beider Interpretationslinien zu eröffnen. Von einer solchen Verschränkung ist die Wahl der historischen Gegenstände angeleitet, aus denen sich in dieser Darstellung das Geschichtsbild des Jahrhunderts fügt. Die ausgewählten Phänomene entsprechen sowohl der kurzzeitigen Geltung eines Weltbürgerkrieges der Werte und Ideologien als auch der langzeitigen Wirkung von Ethnos und Geographie. In den Fokus der Darstellung rücken vornehmlich ihre Verschmelzungen, das verblüffende Phänomen der Konversion einer Form in die andere.

In dieser Darstellung wird das Jahrhundert von der Peripherie her erzählt. Anstatt wie üblich von den europäischen Zentren des Geschehens auszugehen, nimmt die Erzählung Europa von seinem östlichen Rande her in den Blick. Die räumliche Verschiebung der Perspektive erzeugt den Effekt einer zeitlichen Verfremdung. Räumliche Distanz wird in zeitliche übersetzt. Das Jahrhundert vermag so seinen Zeitgenossen entrückt, vergangen und historisch erscheinen.

Der Blick geht von der europäischen Grenze aus. Er schweift von der Ostsee über das Schwarze Meer hin zur Ägäis. Eine solche peripheriale Perspektive könnte von einem virtuellen Erzähler eingenommen werden, der auf den Stufen der traditionsreichen Treppe von Odessa sitzt und nach Süden wie nach Westen schaut. Die Indienstnahme jenes historischen Raumes als Resonanzboden der Erzählung ermöglicht eine Rationalisierung historischer Mannigfaltigkeit; zumal hier Geschichtserzählung ihren Ursprung hat.

Der die Darstellung anleitende Blick von den Stufen in Odessa führt also über das Schwarze Meer, über Konstantinopel und Byzanz zu den Meerengen, nach Troja. Der Blick durchstreift den geschichtsträchtigen Raum von Nord nach Süd, von der Gegenwart in die Vergangenheit – ein Raum dicht aufeinander geschichteter Zeiten von außergewöhnlichem historischem Rang.1 Der Eindruck entsteht, die Vorgaben der Geographie führten, einem Palimpsest gleich, zur Wiederholung von Immergleichem – etwa das ständige Ringen um die Herrschaft an den Meerengen. Die entsprechenden Kriege muten trojanisch an – auch in neuerer Zeit. Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 oder die Schlacht von Gallipoli 1915 im Zuge des Ersten Weltkrieges waren Kämpfe um den Zugriff auf die Meerengen. Der Krimkrieg brachte übrigens die moderne archäologische Trojaforschung in Gang; ein geschichtsbewußter britischer Militär hielt seine an den Meerengen in Wartestellung harrende Truppe zum Zweck militärischer Disziplinierung an, mit Spaten und Hacke nach den Überresten des alten Trojas zu graben.2 Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Katharina II., die Rußland in den Rang einer europäischen Großmacht erhob, mit der Namensgebung der neugegründeten Stadt Odessa am Schwarzen Meer an den Mythos der Odyssee und Griechenlands angeknüpft, als gelte es, Troja zeit- und raumverschoben eine Entsprechung an die Seite zu stellen – Troja, das in alter Zeit den Handel und die Schiffahrt durch die Meerengen kontrollierte und sich daran bereicherte. Jedenfalls war Rußlands Verbindung zum Westen auf die freie Durchfahrt durch die Meerengen als eine vormalige...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Deutschland • eBooks • Europa • Geschichte • Kalter Krieg • Krieg in der Ukraine • Nationalsozialismus • Ost-West-Konflikt • Russland • Russland Ukraine • Stalinismus • Ukraine • Ukrainekonflikt • Ukraine Krieg • Ukraine-Krise • Weltbürgerkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-15494-4 / 3641154944
ISBN-13 978-3-641-15494-3 / 9783641154943
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