Die Welt im Blick (eBook)

Aufsätze zu Kant,Hegel und Sellars
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
386 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74079-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Welt im Blick -  John McDowell
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In seinem epochemachenden Buch Geist und Welt hat John McDowell bekanntlich den Gedanken entwickelt, dass die Idee eines vernünftigen Subjekts von Erkenntnis nicht unabhängig von der Idee eines Subjekts von Erfahrungen verständlich ist. Denn es sind die Erfahrungen, in denen sich zeigt, wie sich die Dinge in der Welt verhalten. In Die Welt im Blick vertieft McDowell diesen Gedanken im Hinblick auf zentrale Fragen der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes, indem er sich mit Autoren des Deutschen Idealismus, allen voran Kant und Hegel, auseinandersetzt und diese auf kongeniale Weise mit der analytischen Tradition, insbesondere Sellars und Davidson, verbindet.

<p>John McDowell ist Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t von Pittsburgh. Im Suhrkamp Verlag sind von ihm erschienen: <em>Geist und Welt</em> (stw 1528) und <em>Wert und Wirklichkeit</em> (stw 1921).</p>

2 Die logische Form einer Anschauung


1. Im ersten dieser drei Aufsätze habe ich von Sellars ein bestimmtes Bild der Intentionalität sinnlicher Erfahrung gewonnen – visueller sinnlicher Erfahrung, um bei dem Fall zu bleiben, auf den sich Sellars hauptsächlich konzentriert.

Sellars’ Bild beinhaltet Elemente sowohl oberhalb als auch unterhalb einer Linie, die sein Denken maßgeblich prägt. Die Linie trennt Beschreibungen von Vorkommnissen im Leben von Personen, die im Sinne der Aktualisierung begrifflicher Fähigkeiten verstanden werden müssen, von solchen Beschreibungen, die nicht auf diese Weise verstanden werden müssen.

Im Sellars’schen Bild visueller Erfahrung treten oberhalb der Linie begriffliche Episoden einer besonderen Art auf. Eine solche Episode »enthält« einfach deshalb eine Behauptung über die Umwelt, weil sie eine begriffliche ist. Begriffliche Episoden dieser Art unterscheiden sich aber dadurch von anderen Arten begrifflicher Episoden, dass sie ihre Behauptungen in einer besonderen Weise »enthalten«: Sie werden ihrem Subjekt von einem vorgeblich (ostensibly) gesehenen Gegenstand vorgeblich abverlangt oder eingeprägt.

Unterhalb der Linie im Sellars’schen Bild visueller Erfahrung befindet sich ein Komplex beziehungsweise eine Mannigfaltigkeit visueller Empfindungen, das heißt visueller Episoden oder Zustände, die keine Begriffe enthalten. Warum denkt Sellars aber, dass das Bild sowohl dieses Element als auch begriffliche Episoden der relevanten Art umfassen muss? Nicht um sicherzustellen, dass das Bild phänomenologische Tatsachen berücksichtigt – als ob die Episoden, die im Fokus stehen, bevor wir auf dieses Element unterhalb der Linie aufmerksam werden, nichts Sinnliches, geschweige denn Visuelles an sich hätten. Ganz im Gegenteil werden die Episoden oberhalb der Linie, die in Sellars’ Bild sinnlicher Erfahrung eine Rolle spielen, schon als begriffliche Formungen des sinnlichen und insbesondere visuellen Bewusstseins verstanden, und zwar insofern sie Episoden jener besonderen Art sind. Sellars’ Gedanke ist vielmehr folgender: Wir müssen das Element, das sich im Bild unterhalb der Linie befindet, aus transzendentalen Gründen anerkennen. Die Idee ist, dass wir nur deshalb dazu berechtigt sind, von begrifflichen Episoden zu sprechen, in denen Behauptungen Subjekten vorgeblich visuell eingeprägt werden – die das Element ausmachen, das sich im Bild oberhalb der Linie befindet –, weil wir den Strom solcher begrifflicher Vorstellungen als einen betrachten können, der von einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen geleitet wird; von Episoden oder Zuständen im sinnlichen und, spezifischer, visuellen Bewusstsein, die keine Begriffe beinhalten.

Sellars betrachtet diese Auffassung als fundamental kantisch, obwohl er beklagt, dass Kant nicht einmal sich selbst die nötige Unterscheidung klar zu machen vermochte. Wie ich am Ende von Aufsatz 1 vorgeschlagen habe, lädt uns dies dazu ein, eine andere exegetische Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Vielleicht ist die Idee, dass die Wahrnehmung einen Strom von begrifflichen Vorstellungen enthält, der von einer Mannigfaltigkeit »bloßer Rezeptivität« geleitet wird, überhaupt nicht kantisch. Ich werde mich dafür stark machen, dass sich dies in der Tat so verhält; die Idee wird Kant von Sellars untergeschoben, auch wenn dieser sich durchaus bewusst ist, Kant damit einer Verwirrung beschuldigen zu müssen. Sellars ist bereit, diesen Preis zu zahlen, weil er davon überzeugt ist, dass es diese Idee für eine zufriedenstellende Ausführung von Kants Projekt braucht. In diesem und im nächsten Aufsatz werde ich behaupten, dass sich Sellars auch hierin irrt. Ich möchte behaupten, dass uns das Element unterhalb der Linie in Sellars’ Theorie nicht hilft, mit der Intentionalität der Wahrnehmung zurechtzukommen, und damit nicht dazu beiträgt, dass wir mit dem Begriff der Intentionalität im Allgemeinen zurechtkommen. Das Element unterhalb der Linie steht einer brauchbaren Konzeption davon, wie Wahrnehmung und Denken auf Gegenstände gerichtet sind, vielmehr im Weg – einer Konzeption, die wir, wenigstens im Keim, bei Kant finden können, sobald wir Sellars’ Interpretation der transzendentalen Rolle, die Kant der Sinnlichkeit zuschreibt, verworfen haben.

2. Sellars hält entschieden an seiner Überzeugung fest, dass das, was Kant gewöhnlich »Anschauungen« nennt, Vorstellungen von Einzeldingen sind, die bereits Anteil am Verstand haben, also an demjenigen Vermögen, das man mit Begriffen in Zusammenhang bringt. Er schlägt vor, dass eine Anschauung gemäß dieser Lesart des Ausdrucks so verstanden werden sollte, dass sie ein Einzelding als ein Dieses-solches (this-such) vorstellt.[1] Ich denke, dass das sehr hilfreich ist, und werde Kapital daraus schlagen. Gemäß dieser Lesart des Ausdrucks sind sowohl Sinnlichkeit als auch Verstand an einer Anschauung beteiligt. Nach dieser Interpretation können wir Anschauungen als Formungen des sinnlichen Bewusstseins durch den Verstand beschreiben. Hierin klingt jene Ausdrucksweise nach, die ich in Verbindung mit Sellars’ Konzeption von begrifflichen Episoden benutzt habe, die im Rahmen des Bildes, das er in Der Empirismus und die Philosophie des Geistes vertritt,[2] als solche begrifflich und oberhalb der Linie angesiedelt sind.

Wie ich jedoch schon gesagt habe, ist Sellars davon überzeugt, dass Kant auch in einer Weise von Sinnlichkeit sprechen muss, die unterhalb der Linie angesiedelt ist. Und zwar im Unterschied zur Rede über sinnliches Bewusstsein – durch die wir die erste Lesart des Begriffs einer Anschauung erläutern können –, weil das sinnliche Bewusstsein gemäß dieser ersten Interpretation in Gestalt von Anschauungen bereits durch das Vermögen der Begriffe geformt ist. Sellars denkt, dass die transzendentale Funktion, welche die Sinnlichkeit für Kant übernehmen muss, darin besteht, eine Mannigfaltigkeit sinnlicher und nicht durch den Verstand geformter Elemente zur Verfügung zu stellen, um den Strom begrifflicher Vorstellungen in der Wahrnehmung zu leiten. Sellars denkt also, dass Kant den Ausdruck »Anschauung« – das heißt seinen allgemeinsten Ausdruck für die Sinnlichkeit, sofern sie sich in Betätigung befindet – auch auf Vorgänge anwenden muss, an welchen der Verstand, das Vermögen der Begriffe, keinen Anteil hat: »Es scheint, als wären wir zu einer Unterscheidung zwischen Anschauungen, die etwas zusätzlich zu bloßer Rezeptivität enthalten, und solchen, für die das nicht gilt, geführt worden.«[3]

Sellars betrachtet es als ein Versäumnis Kants, diese zwei Deutungen von »Anschauung« nicht zu unterscheiden, und er betrachtet dieses Versäumnis als implizites Gegenstück zu der unzulässigen Vermischung, die er in Der Empirismus und die Philosophie des Geistes im klassischen Begriff eines Sinnesdatums aufspürt:

Kants Verwendung des Ausdrucks »Anschauung« in Verbindung mit menschlichem Wissen verwischt die Unterscheidung zwischen einer speziellen Untermenge begrifflicher Vorstellungen von Einzeldingen, die – obwohl sie in einem Sinn eine Funktion der Rezeptivität darstellen – in einen Rahmen gehören, der allgemeinen Begriffen keineswegs vorausgeht, sondern diese wesentlich enthält, und einer davon radikal verschiedenen Art der Vorstellung eines Einzeldings, die zur bloßen Rezeptivität gehört und in keiner Weise begrifflich ist.[4]

Das entspricht genau der unzulässigen Vermischung und damit einem Versäumnis, zwischen Elementen zu trennen, die oberhalb und unterhalb von Sellars’ Linie anzusiedeln sind.

Dass Sellars diese implizite Vermischung bei Kant vorfindet, hilft, einige Eigenschaften des Begriffs von Anschauungen oberhalb der Linie zu erklären, die er bei Kant ausfindig macht. Gemäß Sellars’ Lesart ist Kants Begriff von Anschauungen, die sich oberhalb der Linie befinden, in einigen seiner Anwendungen fehlgeleitet, weil dieser implizit mit dem Anschauungsbegriff unterhalb der Linie vermischt wird.

Ausgehend von der Interpretation, die Anschauungen oberhalb der Linie ansiedelt, stellt eine Anschauung ihren Gegenstand als ein Dieses-solches vor. Eine visuelle Anschauung kann ihren Gegenstand beispielsweise als diesen Würfel vorstellen. Was trägt nun aber das Wort »Würfel« zu einer derartigen Spezifikation des Inhalts der Anschauung bei? Laut Sellars denkt Kant, dass es sich hierbei um etwas handeln kann, das vorgängig zum Begriff des Würfels ist, so wie er in dem Urteil, dass etwas ein Würfel ist, auftauchen könnte. Nach Sellars’ Interpretation denkt Kant Folgendes: Der Begriff des Würfels, der prädikativ in einem solchen Urteil auftreten kann, wird durch eine analytische Tätigkeit des Verstandes von etwas abgeleitet, das noch nicht dieser Begriff ist, aber in Anschauungen so auftritt, dass sie – obwohl sie diesen Begriff nicht enthalten – ihren Gegenstand kraft einer synthetischen Ausübung des Verstandes in Form der produktiven Einbildungskraft trotzdem als diesen Würfel vorstellen können.[5]

Gemäß dieser Auffassung kann Würfel in der Vorstellung eines Gegenstands als dieser Würfel vorgängig zu Würfel in einem Urteil sein, dass etwas ein Würfel ist. Wie Sellars bemerkt, ist diese Andeutung einer Vorgängigkeit »verwirrend«.[6] Im Kontext des Gegenstücks der unzulässigen Vermischung aus Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, das Sellars bei Kant entdeckt, könnte der Vorschlag aber sinnvoll erscheinen. Sellars entdeckt bei Kant die Idee, dass einige Anschauungen bloß protobegrifflich sind. Dies kann als Reaktion auf einen Zwang verstanden werden,...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Having the World in View: Essays on Kant, Hegel, and Sellars
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Aufsätze • Hegel • Kant • sellars • STW 2148 • STW2148 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2148
ISBN-10 3-518-74079-2 / 3518740792
ISBN-13 978-3-518-74079-8 / 9783518740798
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