Gefangene der Zeit (eBook)

Spiegel-Bestseller
Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
336 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-23164-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gefangene der Zeit -  Christopher Clark
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Bestsellerautor Christopher Clark über Zeit und Macht von der Antike bis heute
Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? Christopher Clark, der mit seinen Büchern über Preußen und den Beginn des Ersten Weltkriegs Millionen Leser begeistert hat, beweist mit seinem neuen Band, wie vielfältig seine Interessen als Historiker sind. In insgesamt 13 ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essays zeigt er, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken - bis heute.

Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch »Preußen« erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, »Die Schlafwandler« (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. 2018 erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller »Von Zeit und Macht« und 2020 folgte das von der Kritik gefeierte »Gefangene der Zeit«. Einem breiten Fernsehpublikum wurde Christopher Clark bekannt als Moderator der mehrteiligen ZDF-Doku-Reihen »Deutschland-Saga«, »Europa-Saga« und »Welten-Saga«. 2022 wurde ihm der Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten verliehen.

VORWORT


WIE AUS GEGENWART GESCHICHTE WIRD

Im New Orleans des frühen 19. Jahrhunderts wurden die Monate, als das Gelbfieber in der Stadt grassierte, tiempo muerto, die tote Zeit, genannt. Wer es sich leisten konnte, verließ die Stadt. Die Toten waren allgegenwärtig: in Parks, auf Karren oder im Mississippi treibend. Die Krankheit, die COVID-19 genannt wird, ist längst nicht so tödlich wie das Gelbfieber, das in einem schlechten Jahr bis zu einem Zehntel der Bevölkerung dahinraffen kann. Im Jahr 2020 stapelten sich die Leichen in kleinerer Zahl und stachen nicht so ins Auge, wenn man nicht gerade im Krankenhaus, in der Leichenhalle oder im Krematorium arbeitete.

Doch die Wendung tiempo muerto betrifft auch einen Aspekt der Pandemie von 2020. Die große Entschleunigung aller Abläufe fühlte sich wie eine Umkehr der inneren Logik der Moderne an. Flüge, Vorträge, Konferenzen, Zeremonien und Versammlungen wurden abgesagt. Die Zeit floss nicht mehr so schnell wie das Wasser in einem Gebirgsbach. Sie konzentrierte sich um jede einzelne Aufgabe. Die Zukunft wurde verschwommen. Für einen erfahrenen Professor, der das Haus nicht verlassen durfte, war es die ideale Zeit, ein Buch zu schreiben oder einen Essayband zusammenzustellen. Für junge Leute im akademischen Bereich hingegen gab es keine Abschlussexamina, keine Verleihung von Titeln und keine Feiern mit Freunden und Verwandten. Die Wendepunkte, auf die sie hingearbeitet hatten, die Riten, die den Übergang von einer Lebensphase in die nächste markierten, waren verschwunden. Für sie war es, als wäre die Zukunft abgeschaltet worden.

Um meine eigenen Gedanken zu ordnen und um der Welt draußen zu signalisieren, dass Historiker auch dann denken, wenn die Welt ringsherum den Betrieb einstellt, begann ich eine Reihe von Podcast-Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen. Wir wollten herausfinden, inwiefern das Nachdenken über die Vergangenheit uns helfen kann, unsere derzeitigen Zwangslagen zu verarbeiten. Aus diesen Diskussionen gingen ebenso vielsagende wie widersprüchliche Erkenntnisse hervor.

Das nackte Entsetzen der früheren Begegnungen mit epidemischen Krankheiten war ein interessantes Thema. Im frühneuzeitlichen Venedig und Florenz wurde, wie meine Kollegen berichteten, die Angst an sich bereits als Gefahr angesehen, weil man glaubte, sie erhöhe die Ansteckungsgefahr. Die Gesundheitsbehörden versuchten, ihr entgegenzutreten, indem sie ruhig und einfühlsam mit der Bevölkerung umgingen. Doch das umgekehrte Problem stellte sich ebenfalls ein: Als Gesundheitsinspektoren eine Schar junger Florentiner auf dem Höhepunkt der Pestepidemie im 16. Jahrhundert bei einer fröhlichen Party antrafen, gingen sie auf einen nahen Friedhof und holten den Leichnam einer kürzlich verstorbenen jungen Frau. Sie warfen die Leiche mitten unter die Feiernden und riefen: »Sie will auch tanzen!«

Es sei ein auffälliges Merkmal der COVID-19-Pandemie, beobachteten meine Kollegen und Kolleginnen, dass unsere Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln und zu kommunizieren, zwar unvergleichlich größer sei als bei unseren Vorgängern, doch unsere Fähigkeit, die Krankheit wirklich zu bekämpfen und zu behandeln, sei (zumindest bis zur Entwicklung eines zuverlässigen Impfstoffs) längst nicht so weit entwickelt, mit der Folge, dass wir tendenziell auf Methoden zurückgriffen, die bereits mittelalterliche und frühneuzeitliche Städte anwandten: Quarantäne, »Lockdown«, Abstand, Masken und die Schließung von öffentlichen Einrichtungen wie Geschäften, Märkten und Kirchen. Damals wie heute mussten die politischen Behörden die Gefahr für das Leben abwägen gegen die Gefahr für Einkommen und ökonomische Vitalität. In Handelsstädten wie New Orleans, Istanbul, Bombay (heute: Mumbai) und Hamburg war das ein schwieriger Balanceakt.

Die Maßnahmen, die die Herrschaftsgewalt anordnet, um die Gefahr einer ansteckenden Krankheit einzudämmen, beträfen stets den Kern des Gesellschaftsvertrags zwischen den Herrschern und den Beherrschten, sagte ein Kollege zu mir. Wo die Gefahr offensichtlich und die Maßnahmen vernünftig und transparent waren, war die soziale Anpassung an die Schritte zur Eindämmung der Pandemie tendenziell hoch. Wo die Bevölkerung hingegen kein Vertrauen zu den Behörden hatte, konnten Bemühungen, die Ansteckung durch Verordnungen zu unterdrücken, die die Bewegungsfreiheit und wirtschaftliche Aktivität einschränkten, Proteste und Krawalle auslösen – wie heute in den Vereinigten Staaten oder im von der Pest geplagten Bombay des späten 19. Jahrhunderts. Damals lösten die von den Briten durchgesetzten Maßnahmen einen Aufstand aus, der in der Ermordung des Pest-Kommissars der Stadt und seines Assistenten kulminierte. »Die Pest hat mehr Erbarmen mit uns«, schrieb der indische Nationalist Bal Gangadhar Tilak, »als ihre menschlichen Vorbilder, die derzeit die Stadt regieren.«

Die Gewohnheit, Seuchen eine moralische Bedeutung zuzuschreiben, ist ebenso alt wie die schriftliche Dokumentation ihrer Auswirkungen. Im Alten Testament werden Seuchen häufig als etwas von Gott Gewolltes präsentiert. »Denn ich hätte schon meine Hand ausrecken und dich und dein Volk mit Pest schlagen können, dass du von der Erde vertilgt würdest«, sagt der Herr im Buch Exodus (9,15) zu Mose, damit dieser den Pharao entsprechend warnt. Daraus folgte, dass Epidemien Zeichen des göttlichen Grolls waren, die wiederum Taten der Versöhnung von Seiten der Menschheit erforderten. Die Städte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas hätten, teilten mir zwei Kolleginnen mit, ihre Gesundheitsmaßnahmen häufig mit Verordnungen flankiert, die Prostitution, Glücksspiel, Kartenspiel und allgemein frivoles Benehmen untersagten – mit der Begründung, diese würden eine ohnehin bereits gereizte Gottheit noch weiter provozieren. Diese Gewohnheit hat sich in manchen Kreisen bis heute gehalten: Man denke nur an den Geschäftsmann und Tycoon für Bettzubehör Mike Lindell, den CEO von MyPillow® Inc., der bei einer Pressekonferenz des Weißen Hauses an der Seite von Donald Trump erschien und in einem abwegigen Monolog erklärte, die derzeitige COVID-19-Pandemie sei Gottes Methode, ein Amerika zu strafen, das »sich von Gott abgewandt« habe. Die Amerikaner sollten sich wieder darauf besinnen, mit ihren Familien »das Buch« zu lesen.

Dabei hat es natürlich stets auch eine alternative Sichtweise gegeben. In seiner Schilderung der Pestepidemie im alten Athen kommentierte der Historiker Thukydides schelmisch, dass die Frommen und die weniger Frommen in gleicher Zahl an der Seuche starben. Im Buch Hiob ist die Seuche, erinnerte mich ein Kollege, keine Strafe, sondern die Folge einer finsteren Wette zwischen Gott und dem Satan. Da der Teufel auf Hiobs Loyalität zu Gott eifersüchtig ist, verführt er den Allmächtigen dazu, ihm die Erlaubnis zu geben, den frommen Mann auf die Probe zu stellen. Prompt schickt der Teufel zuerst Hiobs Vieh Seuchen und Tod, dann dessen Frau und Kindern und zu guter Letzt Hiob selbst. Der gute Mann erduldet all diese Schrecken in einem Zustand tiefster Verwunderung, weil er nicht begreifen kann, warum er so arg gequält wird. Das Bedürfnis nach einer moralischen Einsicht ist immer noch stark. Selbst im relativ säkularisierten Umfeld des heutigen Westens gibt es den Drang, die Sinnlosigkeit des Leidens und Todes zu lindern, indem man hoffnungsvoll darüber spekuliert, dass uns die Pandemie womöglich achtsamer für das ökologische Gleichgewicht unserer Welt und sensibler für die Bande der Solidarität und Interdependenz machen werde, die uns mit unseren Mitbürgern verbinden.

Man glaubt gerne, dass sich ansteckende Krankheiten gleichmäßig unter der menschlichen Bevölkerung ausbreiten wie Billardkugeln, die über einen Tisch rollen. Doch in Wirklichkeit ist ihr Verlauf extrem ungleichmäßig, weil er so gut wie immer von Strukturen sozialer Ungleichheit beeinflusst wird. In den Städten des frühneuzeitlichen Europas und des Osmanischen Reiches konnten die Reichen aus überfüllten Städten auf Landsitze flüchten, wo eine Ansteckung weniger wahrscheinlich war. In den Pestjahren des frühneuzeitlichen Cambridge wurden die höchsten Sterbequoten aus den Vororten zwischen Jesus College und Barnwell gemeldet, wo College-Bedienstete und arme Arbeiter lebten. In New Orleans starben tendenziell neue Einwanderer, vor allem Iren und Deutsche, in großer Zahl am Gelbfieber, weil sie in billigen Zimmern in überfüllten Mietshäusern lebten, wo eine hohe Ansteckungsgefahr bestand. Im kolonialen Amerika grassierten Seuchen am schnellsten unter Bevölkerungsgruppen, die durch Unterernährung bereits geschwächt waren. Im 18. Jahrhundert wiesen indigene Amerikaner eine erhöhte Anfälligkeit für Pocken auf, wie eine Kollegin mir sagte, weil sich ihre Ernährung durch die Zwangsumsiedlung verschlechtert hatte.

Heute gibt es in den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern Anzeichen für große Unterschiede bei den Todeszahlen, die mit dem Einkommen und dem Niveau der Gesundheitsversorgung korrelieren. Selbst in den wohlhabendsten Teilen der Welt hat die Pandemie das soziale Bewusstsein geschärft. Pflegekräfte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Sanitäter und die Fahrer der Lieferdienste rückten in den Fokus – Mitbürger, deren Tätigkeit in der Regel nicht gerade üppig entlohnt wird, deren Bedeutung uns aber schlagartig vor Augen geführt wurde. Menschen lernten ihre Nachbarn kennen, brachten Männern und Frauen aus Risikogruppen, die in ihren Wohnungen eingesperrt waren, Lebensmittel, Einkäufe und Medikamente. Viele Briten kamen aus ihren Häusern, um...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Übersetzer Norbert Juraschitz
Sprache deutsch
Original-Titel Gefangene der Zeit
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Bayerischer Buchpreis 2022 • Bismarck • Brexit • Christopher Clark Europa • Christopher Clark Terra X • Deutschland-Saga • Die Schlafwandler • eBooks • Ehrenpreis des bayerischen Ministerpräsidenten • Geschichte • Große Schlachten • Hitler • Kriegsschuld • Krisen • Preußen • preußische Geschichte • Von Zeit und Macht • Welten-Saga
ISBN-10 3-641-23164-7 / 3641231647
ISBN-13 978-3-641-23164-4 / 9783641231644
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