Maos langer Schatten (eBook)

Chinas Umgang mit der Vergangenheit

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
606 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75546-0 (ISBN)
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Wie kann sich eine Diktatur mit dem Erbe von Unrecht und Staatsverbrechen auseinandersetzen, die unter ihrer Herrschaft begangen wurden? Mit dieser Frage sah sich die Kommunistische Partei Chinas nach dem Tod Mao Zedongs im Jahr 1976 konfrontiert. Gestützt auf eine Vielzahl bislang unbekannter Dokumente entwirft der Freiburger Sinologe Daniel Leese ein breit angelegtes Panorama der chinesischen Politik und Gesellschaft in der kritischen Umbruchphase zwischen 1976 und 1987.
Die Massenkampagnen des «Großen Vorsitzenden» Mao Zedong hatten horrende Opferzahlen gefordert und die Volksrepublik China an den Rand eines Bürgerkriegs geführt. Unter seinen Nachfolgern begann die Kommunistische Partei ein großangelegtes Experiment historischer Krisenbewältigung. Millionen politisch Verfolgte wurden rehabilitiert, Entschädigungszahlungen geleistet und Täter vor Gericht gestellt, allen voran die «Viererbande» um Maos Frau Jiang Qing. Das Ziel bestand darin, einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen und alle Energien auf die wirtschaftliche Reformpolitik zu lenken. Aber die Schatten der Vergangenheit ließen sich nicht so einfach bannen. Gestützt auf eine Vielzahl bislang unbekannter Quellen - von vormals geheimen Reden der Parteiführung bis zu Petitionsschreiben einfacher Bürger - zeichnet Daniel Leese ein hochdifferenziertes Bild der Dekade nach Mao Zedongs Tod. Die Auswirkungen dieses Ringens um historische Gerechtigkeit sind in der chinesischen Politik und Gesellschaft bis heute spürbar.

Daniel Leese lehrt Sinologie mit dem Schwerpunkt "Geschichte und Politik des Modernen China" an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Prolog

Zwischen Revolution und Reform


Am Morgen des 9. September 1976 kündigte das chinesische Staatsradio für vier Uhr nachmittags eine wichtige Meldung an. Für die chinesischen Hörer konnte wenig Zweifel daran bestehen, dass die Nachricht den Gesundheitszustand des langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas Mao Zedong betreffen würde. Spekulationen über dessen mögliches Ableben waren in den Monaten zuvor als konterrevolutionäres Verbrechen geahndet worden. Dennoch ließ die spärliche Anzahl aktueller Pressefotos, zuletzt Ende Mai bei einem Treffen mit dem pakistanischen Premierminister Zulfikar Ali Bhutto, erahnen, dass der körperliche Verfall des «Großen Vorsitzenden» unerbittlich voranschritt, ungeachtet der allgegenwärtigen Huldigungsadressen, die ihm Unsterblichkeit attestierten. Infolge seiner zahlreichen Erkrankungen, insbesondere an amyotropher Lateralsklerose, einer mit dem Verlust der Kontrollfunktionen über Sprache und motorische Fähigkeiten einhergehenden Nervenkrankheit, waren öffentliche Auftritte Mao Zedongs selten geworden. Sein Bild aber blieb allgegenwärtig und Zitate aus seinen Schriften dominierten den öffentlichen Diskurs, auch wenn sich der Führerkult seit der Hochphase der Großen Proletarischen Kulturrevolution deutlich abgekühlt hatte.

Die Radiomeldung war kurz gehalten. Es wurde verlautbart, dass Mao Zedong trotz bester medizinischer Versorgung um zehn Minuten nach Mitternacht gestorben sei. Der Hinweis auf die ärztlichen Leistungen sollte Verschwörungstheorien unterbinden, wie sie Stalin in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod hatte verbreiten lassen, als er gezielt in Umlauf bringen ließ, jüdische Mediziner hätten im Rahmen eines «Ärztekomplotts» sowjetischen Führern nach dem Leben getrachtet. Die Verlautbarung betonte die herausragende Führungsrolle Mao Zedongs, die er als größter Marxist der Gegenwart für Partei, Armee und Nation, aber auch für die internationale kommunistische Bewegung und den Kampf gegen imperialistische Unterdrückung gespielt habe.[1] Es gelte, die Erfolge der Kulturrevolution zu verteidigen und den Kampf gegen revisionistische Kräfte fortzusetzen. Der Parteivorsitzende und Übervater der Kommunistischen Partei Chinas war tot. Die Bewahrung seines ideologischen Erbes aber sollte auch in Zukunft sicherstellen, dass die Volksrepublik China nicht «die Farbe wechsele» und die sozialistische Revolution verrate. Mao Zedong selbst hatte in seinem letzten Lebensjahrzehnt eine solche Entwicklung durchaus für möglich gehalten. Bereits im Juli 1966 hatte er in einem Brief an seine Frau Jiang Qing gemutmaßt, dass reaktionäre Kräfte nach seinem Tod die Oberhand gewinnen könnten. «Wenn China von einem antikommunistischen Staatsstreich der Rechten überrascht werden sollte, so kann ich mit Bestimmtheit voraussagen, dass sie keine Ruhe haben würden.»[2] Progressive gesellschaftliche Strömungen würden, gestützt auf sein Schriftgut, Widerstand leisten und damit die Dialektik des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution bis in alle Ewigkeit fortschreiben. An das Erreichen eines friedlichen kommunistischen Endstadiums der Geschichte glaubte der greise Diktator nicht mehr.

Die gesellschaftlichen Reaktionen auf Mao Zedongs Tod waren facettenreich. Hunderte Millionen Menschen nahmen an den obligatorischen Trauerfeiern teil, die eilends in jeder Arbeitseinheit und Volkskommune des Landes organisiert wurden. Die wenigen ausländischen Journalisten beobachteten aber auch Beispiele spontaner Trauerbekundung. So berichtete die New York Times von rund 2000 Personen, die sich unmittelbar nach der Radiomitteilung mit schwarzen Trauerarmbändern auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelt hätten.[3] Gerichtsakten aus der Hauptstadt Beijing machten jedoch auch zahlreiche Fälle aktenkundig, in denen das Ableben des Parteivorsitzenden mit weniger Bestürzung aufgenommen worden war. So hatten zwei Männer mittleren Alters die Todesmeldung zu Hause mit hochprozentigem Hirseschnaps und Hochrufen «Lange verrotte der Große Vorsitzende!» gefeiert.[4] Nachdem Nachbarn den Vorfall der örtlichen Polizeidienststelle zur Kenntnis gebracht hatten, wurden die beiden verhaftet und Anfang Februar 1978 vom lokalen Bezirksgericht zu einer Todesstrafe mit zweijährigem Aufschub respektive zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie das Ansehen des Sozialismus auf das Schändlichste befleckt hätten. Es sollte nicht einmal zwölf Monate dauern, bis dasselbe Gericht die Urteile revidierte und eine vollständige Rehabilitierung aussprach. Nunmehr wurde argumentiert, das Verhalten der Angeklagten sei zwar kritikwürdig, stelle aber keine Straftat dar. Folglich wurde das ursprüngliche Urteil aufgehoben und während der Haftzeit entgangene Lohnleistungen wurden nachträglich ausgezahlt.

Wie auch im Fall anderer Krisenereignisse, etwa nach dem desaströsen Erdbeben in der nordchinesischen Stadt Tangshan Ende Juli 1976 mit rund einer Viertelmillion Toten, reagierten die chinesischen Behörden zunächst mit maximaler Härte auf abweichende Ansichten oder Gerüchte. Nach dem Tod Mao Zedongs hatten die Polizeibehörden und Gerichte daher alle Hände voll zu tun. Selbst für die unzureichende Zurschaustellung von Betroffenheit wurden bis zu fünf Jahre Haft verhängt.[5] Besondere Aufmerksamkeit galt den Mitgliedern der «schwarzen Klassen», den als historischen Feinden gebrandmarkten Eliten der nationalchinesischen Vorgängerregierung unter Führung Chiang Kai-sheks. Aber auch andere Arten von «Konterrevolutionären» oder als sozial deviant erachtete «schlechte Elemente» wurden zu den Klassenfeinden gezählt, die es zu unterdrücken und umzuerziehen galt. Hierzu gehörte etwa ein vormaliger Zivilpolizist der nordchinesischen Kollaborationsregierung unter japanischer Besatzung, dessen heimische Reaktion auf die Radiomeldung gerichtlich wie folgt protokolliert wurde: «Nicht übel. Der tragende Pfeiler der Kommunisten kann als eingestürzt betrachtet werden.»[6] Am Folgetag kritisierte er seine Tochter, die von ihm Geld für den Kauf eines schwarzen Trauerarmbands erbat: «Als deine Mutter gestorben ist, hast du kein solches Armband getragen. Jetzt, da der Vorsitzende Mao gestorben ist, möchtest du eines überziehen. Steht dir der Vorsitzende Mao näher als deine Mutter?» Er selbst weigerte sich hartnäckig, ein entsprechendes Zeichen der Trauer anzulegen. Seine Tochter hinterbrachte seine Äußerungen den Behörden. Für seine Kritik erhielt er im Juli 1977 sieben Jahre Haft. Im Dezember 1978 wurde die Strafe mit der knappen Begründung aufgehoben, dass er nicht konkret geplant habe, das sozialistische System zu stürzen.

Während im Fall des Zivilpolizisten die Annahme einer grundsätzlichen Ablehnung der Parteiherrschaft durchaus einen realen Hintergrund hatte, handelte es sich in vielen anderen Fällen um Kritik an individuell als ungerecht empfundener Behandlung. Ein Bauer aus dem Beijinger Umland etwa hatte im persönlichen Gespräch mit Nachbarn seinem Ärger freien Lauf gelassen: «Er hätte früher sterben sollen. Ich bin in der Kulturrevolution elfmal zusammengeschlagen worden. Zweimal hat man mich fast aufgeknüpft. Während der Kampagne der Vier Säuberungen [im Jahr 1965] wurde ich 29 Tage am Stück kritisiert. Meine Parteimitgliedschaft habe ich auch verloren. […] Ich habe nichts zu essen, und egal an wen ich mich wende, es kümmert niemanden. Jetzt da er tot ist, werden die [Volks]kommunen zwangsläufig auch zusammenbrechen.»[7] Die von seinem Kollegen pflichtschuldig der Partei gemeldeten Äußerungen brachten ihm eine Anklage aufgrund systemfeindlicher, «bösartiger Angriffe» und fünf Jahre Haft ein. Auch in diesem Fall kam es zu einer überraschenden Wende. Mitte Dezember 1978 wurde die Strafe ausgesetzt. Die Reaktion sei verständlich gewesen, äußerten nun die Richter, da der Beklagte Ende 1966 halb totgeschlagen worden sei. Das Urteil müsse aufgehoben und dem Beschuldigten verdeutlicht werden, dass er seinen Hass in Verkennung der wahren Tatsachen auf Mao Zedong projiziert habe, statt die wahren Schuldigen auszumachen. Die Verantwortung für die chaotischen Zustände seit Ausbruch der Kulturrevolution im Jahr 1966 trage die «Viererbande», da diese sowohl die dörflichen Beziehungen zerstört als auch die Gedankenwelt des Beklagten verwirrt habe.

Den Begriff der Viererbande hatte Mao Zedong selbst im Jahr 1974 geprägt, aber nur im Kreis seiner engsten Vertrauten verwendet, um die lose Allianz zwischen seiner Frau Jiang Qing, den beiden Parteitheoretikern Zhang Chunqiao und Yao Wenyuan sowie dem früheren Shanghaier Arbeiterführer Wang Hongwen zu kritisieren. Es hatte sich um eine Warnung an seine...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2020
Zusatzinfo mit 25 Abbildungen und 1 Karte
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte China • Diktatur • Erinnerung • Geschichte • MAO • Massenmord • Politik • Sachbuch • Schlussstrich • Terror • Totalitarismus • Verbrechen • Vergangenheitspolitik • Volksrepublik
ISBN-10 3-406-75546-1 / 3406755461
ISBN-13 978-3-406-75546-0 / 9783406755460
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