Tagebuch eines Zwangsarbeiters (eBook)
159 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78167-4 (ISBN)
Barbara Yelin, Comiczeichnerin und Illustratorin, wurde mit ihrem Comicroman "Irmina" (2014) international bekannt. 2015 erhielt sie den Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur und 2016 den renommierten Max-und-Moritz-Preis als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin. Barbara Yelin lebt und arbeitet in München. <br> <br> <div> Paul-Moritz Rabe ist Historiker und Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des NS-Dokumentationszentrums München sowie des Erinnerungsortes auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers Neuaubing. Sein Buch "Die Stadt und das Geld" (2017) zur Finanzpolitik Münchens während der NSZeit wurde mit mehreren Forschungspreisen ausgezeichnet.</div>
ERSTES HEFT
„1 Kartoffel und 3 Butterbrote pro Tag.“
20. November 1944 bis 16. Februar 1945
MONTAG, 20. NOV. 1944
Heute kaum etwas Besonderes. Nur dies: Von einer „Bekannten“ von mir bekamen wir Kartoffelmarken für 22 kg Kartoffeln. Es sind alte Marken, reine Glücksache, wenn wir etwas dafür kriegen. Es ist halb zehn. Flupp, sagt das Licht. Aus. Ab ins Bett.
DIENSTAG, 21. NOV. 1944
Siehste, wir haben Glück gehabt. Die 22 Kilo Kartoffeln sind angekommen. Morgen, Mittwoch, haben wir nur von Viertel nach fünf bis halb sieben Strom. Also noch früher zu Bett. Wie schön, da werden wir richtig ausgeschlafen sein.
MITTWOCH, 22. NOV. 1944
Heute war sehr schlechtes Wetter. Fast den ganzen Tag Regen. Wir hatten heute Besuch. Ein Hund. Bei meiner „Bekannten“ zu Hause konnte er an diesem Tag unmöglich bleiben. Gleich wird er abgeholt. Dann darf ich den Hund und die „Bekannte“ nach Hause bringen. Wird nett sein.
Halb sieben. Vorbei mit dem Licht. Also eine Öllampe angezündet.
Abends 9 Uhr. Gerade eben war ich mit meinem Vater „klauen“. Wir sitzen ohne Brennstoff, und deshalb haben wir einen Baum der Gemeinde Rotterdam gefällt. „Wer am nächsten am Feuer sitzt, dem ist am wärmsten“, und die Bäume stehen bei uns vor der Tür.
DONNERSTAG, 23. NOV. 1944
Heute nicht viel. Der Kontrolleur der Krankenversicherung war da. Man munkelt, dass wir nächste Woche nur ein Brot bekommen werden. „Man“ sagt das. Von jetzt an werde ich „man“ lieber „Fräulein Schwätzerin“ nennen.
FREITAG, 24. NOV. 1944
12 Uhr mittags. Fräulein Schwätzerin zufolge haben sie am linken Maasufer wieder beschlagnahmt. Fräulein Schwätzerin hatte unrecht, als sie meinte, dass wir nur ein einziges Brot bekommen werden. Wir kriegen noch die alte Ration 1 kg Brot pro Woche. Heute Morgen war der Milchmann da. Das war Milch in einer Papiertüte. Milchpulver und sonst nichts. Wenn das nicht üppig ist! Fett oder Butter bekommen wir dieses Jahr auch nicht mehr. Stattdessen gibt es einen halben Liter Speiseöl. Dann können wir also im Öl schwimmen.
Nachmittags 2 Uhr. Heute Nachmittag habe ich entdeckt, dass die Rotterdamer Bullen ihren Revolver gegen den altbekannten Säbel eingetauscht haben. Ob das wohl sicherer (?) ist. Habe gerade wieder ein Stück von dem gestohlenen Baum abgesägt. Das muss auch sein. Beim Amtsarzt wurde mir gesagt, dass ich noch nicht wieder arbeiten darf. Schade! Schwätzerin behauptet, dass wir nächste Woche nur 1 kg Kartoffeln bekommen werden. Mal sehen, ob sie recht behält. Es regnet mal wieder ein bisschen.
Abends 9 Uhr. Dieses Mal hat Schwätzerin recht gehabt. 1 kg Kartoffeln und nicht eine mehr. Es stand in der Zeitung. Und da stand auch drin, dass wir demnächst kein Gas und keinen Strom mehr bekommen werden. Heute ist der letzte Tag. Nur den Mut nicht verlieren. Laut Schwätzerin wird es morgen wieder eine Razzia geben. Kann stimmen, aber ich hoffe es nicht. Wir werden sehen, was uns der morgige Tag bringt. Tschüss.
SAMSTAG, 25. NOV. 1944
Nachmittags 3 Uhr. Das Geschwätz von Fräulein Schwätzerin stimmte diesmal nicht. Es war nichts los, der ganze Tag ruhig. Sogar so ruhig, wie es seit 14 Tagen nicht gewesen ist. Ich warte jetzt, ob meine „Bekannte“ vielleicht noch kommt. Wegen der Stromgeschichte weiß ich nicht, ob sie zum Turnen geht, also kann ich sie nicht abholen. Ansonsten nichts, vielleicht bringt der Abend noch etwas.
Über den Rest des Tages gibt es nichts Besonderes zu berichten. Es war ziemlich kalt, und wenn man dann den ganzen Nachmittag und Abend draußen ist (mit der „Bekannten“), ist es wie mitten im Winter. Gegen Abend wurde viel geschossen, und spät am Abend flogen noch ein paar Tommys rüber, auf die auch noch geschossen wurde. Überraschend wurde bekannt gegeben, dass es noch für ein paar Tage Gas gibt. Bis einschließlich Dienstag. Oh, wie gut sie wieder zu uns sind!
SONNTAG, 26. NOV. 1944
Wenn ich nach draußen schaue, sieht es kalt aus. Na ja, dann eben ein Stück von dem „Baum“ verfeuern. Komm, ich werde jetzt mal meine Kartoffelsachen zusammensuchen. Morgen gehen wir zu dritt Kartoffeln holen, und das macht derzeit ziemlich viel Umstände. Tage zuvor muss man einen Handwagen bestellen. Heute Abend früh zu Bett, denn wo und wann ich wieder schlafen werde, bleibt abzuwarten.
VOM 27. NOV. BIS 1. DEZ. 1944
Dieser Tage bin ich auf Kartoffelsuche gewesen. Ich werde sie nicht ausführlich beschreiben, denn ich hab schon mehr als genug davon. Es waren Tage voller Hunger, Kälte und Elend. Es gab keine Kartoffeln zu kaufen. Nur wenn man tauschen wollte, konnte man sie kriegen. Wir sind bis Zaltbommel gelaufen, aber auch dort nichts. Als wir Freitagabend nach Hause kamen, hatten wir keine Kartoffeln. Der Deich bei Tiel konnte jeden Moment brechen, und immer noch dachten die Bauern nicht daran, auch nur eine Kartoffel zu verkaufen. Sie ersaufen lieber mit ihren Kartoffeln, als uns welche zu geben. Wir sind um eine Erfahrung reicher, aber um einen Haufen Geld und eine Illusion ärmer. Was soll’s, ich habe mein Bestes getan.
SAMSTAG, 2. DEZ. 1944
Junge, Junge, was habe ich gut geschlafen. Das ist das Einzige, was es nicht auf Marken gibt, das können sie mir also nicht wegnehmen. Unsere Brotration ist auch wieder herabgesetzt worden: 1 ¼ Brot pro Woche. Wenn ich richtig rechne, dann kriege ich 1 Kartoffel und 3 Butterbrote pro Tag. Traurig, aber wahr. Von meiner Bekannten habe ich heute Nachmittag 3 Kartoffelmarken bekommen. Das war ein Glückstreffer, die kann meine Mutter bestens gebrauchen. Ansonsten kann ich noch vermelden, dass Rotterdam am Mittwoch, dem 29. November, wieder von den Tommys bombardiert wurde. Ich war da nicht in Rotterdam, also kann ich nichts darüber schreiben, nur dies: Es hat 22 Tote gekostet.
SONNTAG, 3. DEZ. 1944
Es ist kalt heute. Mutter macht gerade Essen auf dem Ofen. Gas haben wir keins mehr. Ebenso wenig wie Strom. Nur den Mut nicht verlieren.
Ab und zu muss für Brennstoff gesorgt werden. Dann gehen wir wieder einen Baum klauen. Wir müssen schließlich unser Essen kochen können. Es wird Zeit, dass der Krieg zu Ende geht.
MONTAG, 4. DEZ. 1944
Na ja, viel hat dieser Tag nicht gebracht. Immer noch dasselbe. Wenig Brot und wenig Kartoffeln und zum Glück noch ziemlich viel Gemüse. Der Krieg kommt nicht so recht vorwärts. Es geht viel zu langsam voran. Schwätzerin hatte heute nichts zu berichten, wie ist das möglich. Was das Wetter in den letzten Tagen angeht, so ist das recht gut. Für einen Wintermonat haben wir wirklich mildes Wetter. Ab und zu etwas Regen und ziemlich viel Wind, aber bis jetzt noch kein Frost.
DIENSTAG, 5. DEZ. 1944
Hm, das soll also der Nikolaustag sein. Fand ihn alles andere als gesellig. Es fing schon um 9 Uhr heute Morgen mit Fliegeralarm an. Den ganzen weiteren Tag Schüsse und Flugzeuge plus diese Sirenen. Weil ich heute bei einer Tante gearbeitet hatte, bekam ich von ihr ein paar Pfannkuchen. Das war das Einzige, was mich noch irgendwie an den St. Nikolaustag erinnert hat. Es ist jetzt Viertel vor zehn am Abend. Wir sind im Augenblick damit beschäftigt, Sirup aus Zuckerrüben zu machen. Ich denke schon, dass es klappen wird.
MITTWOCH, 6. DEZ. 1944
Viertel vor acht abends. Gerade wieder Fliegeralarm. Das ist heute das dritte Mal. Den ganzen Tag über war es unruhig in der Luft. Immer wieder flogen die Tommys drüber. Gerade ist wieder ein ganzer Schwarm vorbei. Da höre ich schon neue kommen. Ich wollte, dass es endlich mal zu Ende wäre. Zu essen haben wir jeden Tag weniger. Man weiß schon gar nicht mehr, wie es ist, sich satt zu essen. Wenn das so weitergeht, werden wir den Winter über hungern. Gerade ist wieder Entwarnung, als ein paar Tommys drüberfliegen. Verrückte Sache, diese Sirenen. Ganz weit entfernt...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2022 |
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Illustrationen | Barbara Yelin |
Übersetzer | Marianne Holberg |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Illustrationen und Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Arbeitslager • Barbara Yelin • Besatzung • Deportation • Deutschland • Jan Bazuin • Jugendlicher • München • Neuaubing • Niederlande • Quelle • Rotterdam • Tagebuch • Zwangsarbeit • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-406-78167-5 / 3406781675 |
ISBN-13 | 978-3-406-78167-4 / 9783406781674 |
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