Pastoral und Politik (eBook)
366 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45457-3 (ISBN)
Britt Schlünz ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Britt Schlünz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
I.Religiöse Stigmatisation unter Anklage: das Gerichtsverfahren gegenüber Sor Patrocinio, 1835–36
1.Bürgerkrieg und antiklerikale Gewalt
Am 7. November 1835 besetzten 30 Streitkräfte der Guardia Nacional auf Veranlassung des damaligen Gobernador civil und späteren spanischen Ministerpräsidenten Salustiano Olózaga (1805–73) das Kloster Caballero de Gracia im Zentrum Madrids: Sie nahmen den Vikar des Klosters und die Ordensschwester Sor Patrocinio fest, sie und die Nonnen der Gemeinschaft wurden einem Verhör unterzogen. Daraufhin überschlugen sich in der spanischen Presse die Mutmaßungen und Berichte über die vermeintlich wundersamen Vorgänge in jenem Kloster und über das Schicksal der Nonne. Im Januar 1836 wurde Sor Patrocinio wegen des doppelten Vergehens »der gekünstelten und fanatischen Hochstapelei und des Versuchs, den Staat zu unterwandern und die Sache des aufständischen Thronfolgers zu fördern« angeklagt.67 Damit wurden der Nonne zwei Vergehen vorgeworfen: Laut Anklage sollen am Körper der Nonne fünf Wundmale, die den fünf Wunden Christi glichen, erschienen sein. Diese Wunden – die Stigmatisation – soll, so der Vorwurf, die Angeklagte sich selbst zugefügt und einen göttlichen Einfluss somit vorgetäuscht haben. In diesem Zusammenhang soll die Nonne zweitens göttliche Visionen vorgetäuscht haben, um die spanische Thronfolge zu beeinflussen.
Sor Patrocinio wurde ein gutes Jahr nach der als Matanza de Frailes (»das Gemetzel der Mönche«) in die spanische Geschichte eingegangenen Anschlagsserie auf Madrider Klöster festgenommen, die im Juli 1834 den Höhepunkt des antiklerikalen Furors während des Karlistenkrieges bildeten. Damals sah sich Madrid gleichzeitig von zwei Gefahren bedroht: den voranschreitenden karlistischen Truppen, die eine Ausdehnung des seit 1833 anhaltenden Bürgerkrieges auf Madrid bedeuteten, und zweitens der exponentiellen Ausbreitung der Cholera in der Hauptstadt. Am 15. und 16. Juli starben in den ärmsten Vierteln der Stadt 500 Menschen täglich an der Infektionskrankheit, am 17. Juli verdoppelte sich die Zahl. Daraufhin verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, Jesuiten hätten die Brunnen der Stadt vergiftet und so die Seuche verschuldet. Auf dem Höhepunkt der Epidemie kam es am 17. Juli zu einer Anschlagsserie auf Kleriker und Klöster der Stadt, bei der nicht nur Mitglieder der beschuldigten Jesuiten, sondern unter anderem auch Franziskaner, Kapuziner und Dominikaner Opfer von Mord und Plünderungen wurden. Diese Massaker, bei denen in einer Nacht 73 Kleriker getötet und 11 verletzt wurden, fanden auf recht kleinem Raum im Stadtgebiet zwischen der Puerta del Sol, dem Konvent San Francisco el Grande in Nähe der Plaza de la Cebada und zwischen den Hauptstraßen Atocha und Toledo statt. Eines der Hauptanschlagsziele war das jesuitische Colegio Imperial de San Isidro.68 Erst am Morgen wurde die Situation unter Kontrolle gebracht, nachdem Teile des Militärs und der Stadtverwaltung Madrids auffällig lange passiv geblieben waren. In dem öffentlichen Gerichtsverfahren, welches gegen 79 Männer und Frauen angestrengt wurde (54 Zivilisten, 14 Militärs und 11 Garnisonsmitglieder), gab es schließlich allein Urteile wegen Raubes, nicht wegen Mordes.69
Die Historiographie war lange Zeit uneins, ob es sich bei dem Matanza um einen spontanen Ausdruck der Angst vor der sich schnell ausbreitenden Cholera in den Unterschichten und deren Wut auf die vermeintlichen Schuldigen handelte, oder aber ob die Morde das Werk von Geheimgesellschaften waren. Die Historiker Juan Pérez Garzón und Antonio Moliner Prada wiederum betonen, dass der Wunsch der städtischen Unterschichten nach Rache durchaus der antiklerikalen Politik der Regierung unter Martínez de la Rosa in die Hände spielte, die mit Anschlägen auf die Kirche die liberale Revolution beschleunigen wollte.70 Insbesondere die zeitliche Überschneidung der sich exponentiell ausbreitenden Epidemie mit dem Voranschreiten der karlistischen Truppen und der Gefahr, dass diese den anhaltenden Bürgerkrieg gewinnen könnten, brachte die Regierung zur stillschweigenden Unterstützung der antiklerikalen Gewalt. Willkommen war ihr die in der Bevölkerung weit verbreitete Vermutung, der Klerus und insbesondere die Jesuiten wären ein Bollwerk des Karlismus.71
Dieser beispiellose Ausbruch von Gewalt, staatlicherseits zumindest geduldet, wurde in den Monaten um die Verhaftung von Sor Patrocinio wiederum von weitreichenden Desamortisationsmaßnahmen der Regierung gerahmt. So verfügte der von Regentin María Cristina eingesetzte Finanzminister Juan Álvarez Mendizábal im Juli 1835 die Aufhebung aller religiösen Orden, die weniger als 12 Mitglieder hatten, und verbot die Jesuiten. 1836 wurden diese Maßnahmen durch ein weitreichenderes Verbot von Mönchs- und Nonnenorden ausgebaut, Kirchenbesitz verstaatlicht und kirchliche Kunstwerke beschlagnahmt. Auch die rechtliche Stellung des höheren Klerus, insbesondere der Bischöfe, wurde beschnitten, indem ihre Immunität aufgehoben und der Kirchenzehnt gestrichen wurde.72 Insgesamt zielte die antiklerikale Politik zwischen 1834 und 1843 insbesondere auf die radikale Säkularisation von Mönchen und Nonnen ab, die in dieser Zeitspanne insgesamt 30.000 Personen betraf.73 Dies bedeutete eine grundsätzliche Erschütterung der Staat-Kirchen-Beziehung und veränderte die vormals privilegierte Stellung der Kirche nachhaltig.
Der Prozess gegen Sor Patrocinio fand daher in einer Phase maximaler weltanschaulicher Differenz zwischen dem liberalen und klerikalen Lager statt und verfestigte die gesellschaftliche Spaltung, die nach Ende der absolutistischen Herrschaft in Spanien herrschte und sich im Bürgerkrieg manifestierte. Auf das Massaker in Madrid und auf die staatlichen Eingriffe in Belange der Kirche nahmen sowohl die verhörten Nonnen, Sor Patrocinio selbst und auch die Berichte in der Presse wiederholt Bezug. Die am Klerus 1834 verübte Gewalt und die Grenzüberschreitung, die das staatliche Vorgehen darstellte, wurden thematisiert und mit dem Verfahren gegen Sor Patrocinio verknüpft.
2.Zuständigkeitsbereiche reklamieren: Stigmatisation als Testfall für das neue Rechtssystem
Angeklagt wurde eine 24-jährige Frau, die über die nächsten 30 Jahre immer wieder im Zentrum kirchlicher und politischer Skandale stehen sollte: Dolores Quiroga y Capopardo (geboren als: María Josefa de los Dolores Anastasia de Quiroga y Capopardo) kam am 27. April 1811 in San Clemente zur Welt. Aus einer angesehenen Familie stammend, der Vater war hochrangiger Beamter am Königshof, trat sie als junge Frau 1826 in das Convento de las Comendadoras de Santiago in Madrid ein. 1829 legte sie schließlich das Ordensgelübde des Klausurordens der Konzeptionistinnen (Orden von der Unbefleckten Empfängnis Mariens) im Madrider Kloster Caballero der Gracia ab und nahm den Namen Sor María de los Dolores Patrocinio (»Patrocinio« in der Bedeutung »Schutz«, »Schirmherrschaft«) an.74
Im Laufe ihres Lebens konnte Sor Patrocinio das spanische Königspaar als Förderer ihres Ordens gewinnen und erntete dafür zeitlebens Misstrauen von Amtskirche und spanischer Politik. In den 1860er Jahren und insbesondere um die Revolution von 1868 wurde sie in der Presse verdächtigt, eine klerikale Kamarilla am Hof zu formen und klandestin die Geschicke des Landes zu lenken. Im Zuge der Revolution floh sie schließlich mit dem Königspaar aus Spanien nach Frankreich. Nach der Restauration der Monarchie unter Alfonso XII. (Herrschaft: 1874–85) durfte sie nach Spanien zurückkehren und ließ sich schließlich in einem Konvent ihres Ordens in Guadalajara nieder, wo sie 1891 starb. Ein Seligsprechungsverfahren des Erzbistums Toledo, in dem sich Isabella II. noch engagierte, wurde 1904 eröffnet; dies ist bis heute offen.75
Überliefert wurde der Gerichtsprozess gegen Sor Patrocinio durch ein 1837 publiziertes Protokoll, die Causa formada, dessen Titel bereits das Ringen um...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2024 |
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Reihe/Serie | Religion und Moderne | Religion und Moderne |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Neuzeit (bis 1918) |
Schlagworte | 1833 • 1868 • 19. Jahrhundert • Antikatholizismus • Antiklerikalismus • Antonio María Claret • Bürgerkrieg • Emotionen • Erzbischof • Europa • Isabella II. • Kastilien • Katalonien • Katholisch • Katholische Kirche in Spanien • Katholizismus • klerikal-reaktionär • Konservativismus • Konstitutionelle Monarchie • Kuba • Kulturkampf • Liberalismus • Madrid • Marienfrömmigkeit • Mission • Missionare • Monarchie • Moral • Moralvorstellungen • Öffentlichkeit • Progressiv • Religion • religiöse Stigmatisation • Säkularisierung • Santiago de Cuba • Sor Patrocinio • Vatikan |
ISBN-10 | 3-593-45457-2 / 3593454572 |
ISBN-13 | 978-3-593-45457-3 / 9783593454573 |
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