Kreuz und Schwert (eBook)

Geschichte, Glaube und Politik der orthodoxen Kirchen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83962-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kreuz und Schwert -  Gerhard Schweizer
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Mit Beginn des Ukraine-Kriegs ist eine bislang wenig beachtete christliche Konfession in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: das orthodoxe Christentum. Obwohl sie mit ca. 300 Millionen Angehörigen die zweitgrößte christliche Gemeinschaft der Welt darstellt, ist sie den meisten Menschen in Westeuropa fremd: Welche Bedeutung haben die orthodoxen Kirchen, welche Rolle spielen sie in den aktuellen politischen Konflikten und was sind die historischen Hintergründe? Gerhard Schweizer führt fundiert und leicht lesbar in die Geschichte des orthodoxen Christentums ein und skizziert die Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. Sein Buch hilft, nicht nur den politischen, sondern auch den religiösen Aspekt des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 zu verstehen.

Gerhard Schweizer, geb. 1940, Kulturwissenschaftler, freier Schriftsteller in Wien, ist ein Experte für die Analyse der religiös-politischen Konflikte zwischen Orient und Okzident sowie ein ausgewiesener Kenner der islamischen Welt.

Gerhard Schweizer, geb. 1940, Kulturwissenschaftler, freier Schriftsteller in Wien, ist ein Experte für die Analyse der religiös-politischen Konflikte zwischen Orient und Okzident sowie ein ausgewiesener Kenner der islamischen Welt.

Orthodoxes Christentum – und die offenen Fragen.
Überraschungen in den letzten Jahrzehnten


Religion und Politik in Russland.
Das Beispiel einer aktuellen Krise


Im Mai des Jahres 2000 wurde die Weltöffentlichkeit durch eine Nachricht aus Moskau überrascht: Wladimir Putin, der als der neue Präsident Russlands in sein Amt eingeführt wurde, ließ diesem politischen Ritual einen Gottesdienst folgen. Was war die Überraschung? Bisher hatten uns in Westeuropa zwar schon genügend Informationen über eine sprunghaft gewachsene Religiosität in Russland erreicht, aber im ehemals kommunistischen Staat hatte sich noch kein ranghoher Politiker demonstrativ von der einst staatlich verordneten Doktrin des Atheismus abgewandt.

Der Gottesdienst für den neuen Staatspräsidenten fand symbolträchtig in jener Kathedrale des Kreml statt, die einst den russischen Großfürsten und Zaren als Ort für private Andachten gedient hatte. Putin küsste Alexej II., dem damals amtierenden Patriarchen von Moskau und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, die Hand, und er zündete feierlich – durch das Fernsehen auffällig dokumentiert – eine Kerze am Altar an. Wie das? Putin war noch ein Jahrzehnt zuvor der Chef des sowjetischen Inlands-Geheimdienstes gewesen, er musste sich also in dieser Eigenschaft zu dem damals verordneten Atheismus kommunistischer Führungskräfte bekannt haben. Nun aber ließ er sich in seiner neuen politischen Funktion durch den höchsten geistlichen Würdenträger segnen. In der Weltöffentlichkeit wird seither gerätselt, ob der Atheist Putin tatsächlich Christ geworden ist oder ob er seither nur aus taktischen Erwägungen demonstrativ als Christ auftritt.

Im selben Jahr 2000 erreichte die Weltöffentlichkeit eine weitere überraschende Nachricht aus Russland. In Moskau fand ein Konzil des Patriarchats statt, in dem die Sozialdoktrin mit folgender Aussage veröffentlicht wurde: Das Verhältnis zwischen öffentlicher Regierungsgewalt und Kirche sei mit jenem von Körper und Seele des Menschen zu vergleichen. Die Kirche verstehe sich als die große geistige Kraft, der die russische Nation ihre Existenz verdanke und ohne die Russland nicht bestehen könne.1 Solche Äußerungen eines Bischofskonzils bedeuten, dass es keine Trennung zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion mehr geben könne, sondern dass beide eine organische Einheit seien. Die Konsequenz: Die russisch-orthodoxe Konfession müsse wieder in den Rang der Staatsreligion erhoben werden, wie dies einst unter der Herrschaft der Zaren gewesen sei. Eine derartige Botschaft signalisierte aber nicht nur eine radikale Position gegen die einstige Diktatur des Sowjetkommunismus, unter deren Herrschaft Religionen weitgehend in ihrem Einfluss zurückgedrängt wurden. Dies bedeutete auch eine aggressive Kampfansage an die säkularen Demokratien westlicher Staaten, in denen es eine solch enge Verbindung von Staat und Kirche nicht mehr gibt.

In diesen Zusammenhang passt auch ein Denkmal nahe dem Kreml: eine 16 Meter hohe Statue aus Bronze, ein bärtiger Mann in der Kleidung eines Fürsten des frühen Mittelalters – dieser Fürst hält in der rechten Hand ein mächtiges Kreuz, die linke Hand ist auf den Knauf eines Schwertes gestützt. Die Statue wurde 2016 auf Geheiß von Wladimir Putin errichtet. Bei der Einweihung hielt Putin eine Rede, ihm folgte Kyrill I., der seit 2009 amtierende Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche. Eine Prozession von Bischöfen und Popen in farbenprächtigem Ornat gab der Veranstaltung eine betont sakrale Atmosphäre. Welche Botschaft verbinden Präsident Putin und Patriarch Kyrill mit einer solch pompösen Zeremonie vor dieser Statue? Die Symbole von Kreuz und Schwert erinnern an die Propaganda von Kreuzzügen im Mittelalter. Aber im 21. Jahrhundert?

Eine derartige Entwicklung in Russland lässt die These zu: Trotz aller Unterdrückung ist bei einem größeren Teil des Volkes der Glaube an die Autorität einer dominierenden russisch-orthodoxen Staatskirche erhalten geblieben – oder zumindest die Sehnsucht danach. Die Fakten sprechen für sich. Kaum war der politische Zwang durch die kommunistischen Machthaber verschwunden, änderten sich deutlich die Strukturen. Die Zahl der kirchlich registrierten Mitglieder hatte sich im Zeitraum der Jahre 1991 bis 2008 von 31 auf 72 Prozent mehr als verdoppelt.2 Und die Zahl theologischer Seminare und Akademien stieg von 1991 bis 2016 von 3 auf über 50. Im Gegensatz dazu gab nur noch jeder vierte russische Einwohner an, Religion spiele in seinem Leben keine Rolle.3 Ich selbst konnte bei meinen Aufenthalten in Moskau – 1972 sowie 1979 unter kommunistischer Herrschaft und 2017 in der postsowjetischen Ära – den gravierenden Unterschied bereits im äußeren Erscheinungsbild bemerken: 2017 gab es zahlreiche neu gebaute Kirchen, deren Gottesdienste besonders auch von jüngeren Leuten gut besucht wurden.

Am 24. Februar 2022 wurde die Weltöffentlichkeit wieder von einer Nachricht überrascht, welche die bisher stärkste Irritation bedeutet. Es ist der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – ein Krieg, dessen Ursachen und dessen Auswirkungen auf ganz Europa inzwischen von den Medien weltweit diskutiert werden. Aber meist steht hierbei die politische Problematik im Vordergrund mit der Auffassung: Putin wolle nach dem dramatischen Zerfall der Sowjetunion wieder ein Großrussisches Reich wie zur Zeit der Zaren herstellen, und hierbei betrachte er den Staat Ukraine, der sich aus dem russischen Einfluss lösen wolle, als unverzichtbaren Teil Russlands. Dieser Krieg hat jedoch auch eine sehr starke religiöse Motivation, die in den westlichen Medien meist nur beiläufig erwähnt und damit unterschätzt wird.

Wenn wir diesen Krieg an zentralen Führungspersönlichkeiten Russlands festmachen wollen, dann dürfen wir den Blick nicht allein auf den Präsidenten Wladimir Putin richten. Ebenso wichtig ist Patriarch Kyrill. Das mächtige Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hatte schon zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 Putin als starken politischen Führer und die enge „Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche“ gelobt. Außerdem hatte er die Gegner als Anhänger „böser Mächte“ diskriminiert.4 Aber der Patriarch radikalisierte seine religiöse Rhetorik sieben Monate später noch erheblich. Im September verkündete er bei einem Gottesdienst in Moskau: Alle russischen Soldaten, die im Kampf gegen die abtrünnigen Ukrainer sterben, würden ins Paradies gelangen. Denn ein solches Opfer in der Schlacht wasche alle Sünden ab. Gott vergebe jenen, die für ein heiliges Ziel kämpfen, alle Sünden.5 Eine derartige Rhetorik des ranghöchsten russischen Geistlichen erinnert fatal an die Aufrufe zur Zeit der Kreuzzüge, die im Mittelalter stattgefunden haben, und an die Parolen späterer Glaubenskriege bis hin zum Dreißigjährigen Krieg. Mehr noch: Eine solche Rhetorik weist sogar eine beklemmende Parallele zur Propaganda muslimischer Glaubenskämpfer, der Dschihadisten, auf. Für Islamisten dieser Art wird ja jeder, der im Krieg gegen „Ungläubige“ stirbt, zum geheiligten Märtyrer, und ihm öffnet Gott den Weg ins Paradies, selbst wenn er zuvor ein großer Sünder gewesen ist.

Westlich aufgeklärte Europäer muss es irritieren, dass eine solche Religiosität unter Christen sogar noch im 21. Jahrhundert wesentlich die Politik beeinflussen kann. Entsprechend haben sich in Westeuropa auch zahlreiche Christen – ob nun katholisch, evangelisch oder orthodox – entschieden von Aussagen des Patriarchen Kyrill distanziert. Aber spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dringt ins westeuropäische Bewusstsein die Tatsache, dass nicht nur radikale Islamisten mit ihren verheerenden Attentaten zu einer Gefahr für ganz Europa werden können, sondern ebenso radikale Christen im Bündnis mit einer mächtigen Diktatur.

Ein solcher Krieg, der die Weltöffentlichkeit zutiefst beunruhigt, bietet den aktuellen Anlass, ein Buch über Religion und Politik der orthodoxen Kirchen zu schreiben. Allerdings gilt es hierbei zu zeigen, dass es falsch wäre, die Darstellung vorrangig auf die russisch-orthodoxe Kirche zu konzentrieren und ihre Entwicklung schon als „typisch“ für die Situation aller anderen orthodoxen Kirchen anzusehen. Wir würden damit die geistige Vielfalt dieser Konfession ignorieren, die sich in unterschiedlichen Ländern unter unterschiedlichen sozialen und politischen Rahmenbedingungen entfaltet. Westeuropäer dürfen nicht jenen Fehler machen, den viele bei ihrem Blick auf den Islam immer wieder erneut begehen. Viele sprechen von dem Islam und ignorieren die Vielfalt, die den islamischen Kulturraum in sehr unterschiedliche Entwicklungen auffächert. Und sie stellen damit den Islam unter einen fatalen Generalverdacht. Ja, mehr noch: Sie zeigen erst dann ein größeres Interesse am Islam, wenn er als eine große Bedrohung für den „Westen“ empfunden wird. Und erst dann wird das Bedürfnis geweckt, den Islam zu „verstehen“. Eine ähnliche Haltung droht nun gegenüber der Religion orthodox gläubiger Christen, über deren kulturelle Grundlagen bisher nur wenige Westeuropäer ausreichend Bescheid wissen.

Im vorliegenden Buch versuche ich, die orthodoxe Konfession des Christentums in ihrer Vielfalt darzustellen. Aber ich bin mir bewusst, dass ich diese Konfession nicht unvoreingenommen wahrnehme. Auch dieses Problem eines außenstehenden Beobachters gilt es zu thematisieren.

Orthodoxe Kirchen und ihr Verständnis von...


Erscheint lt. Verlag 24.7.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Atheismus • Kirchengeschichte • Kirche und Gewalt • Kirche und Krieg • Kirche und Staat • Putin-Russland • Russisch-orthodoxe Kirche
ISBN-10 3-451-83962-8 / 3451839628
ISBN-13 978-3-451-83962-7 / 9783451839627
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