Künstliche Intelligenz - das Ende der Kunst? (eBook)

[Was bedeutet das alles?]
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2023 | 1. Auflage
128 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962208-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Künstliche Intelligenz - das Ende der Kunst? -  Catrin Misselhorn
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Mit Macht dringt die Künstliche Intelligenz nun auch in den Bereich der Kunst vor: Apps malen auf Knopfdruck Bilder verschiedenster Stil- und Kunstrichtungen, KI komponiert Sinfonien und Chatbots schreiben Gedichte.   Was bedeutet das für die Kunsttheorie und -Praxis? Müssen wir Kunst neu definieren? Wen oder was verstehen wir als Schöpfer der Kunst? Wie unterscheiden wir zwischen Original und Fälschung?   Catrin Misselhorn diskutiert in ihrem Essay diese brennenden Fragen. Geht es mit der Kunst zu Ende oder schlagen wir ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der Kunst auf?

Catrin Misselhorn, geschäftsführende Direktorin des Philosophischen Seminars der Georg-August-Universität Göttingen. Von ihr erscheinen bei Reclam 'Grundfragen der Maschinenethik' (UB 19583) sowie 'Künstliche Intelligenz und Empathie. Vom Leben mit Emotionserkennung, Sexrobotern & Co.' (UB 14047).

Catrin Misselhorn, geschäftsführende Direktorin des Philosophischen Seminars der Georg-August-Universität Göttingen. Von ihr erscheinen bei Reclam "Grundfragen der Maschinenethik" (UB 19583) sowie "Künstliche Intelligenz und Empathie. Vom Leben mit Emotionserkennung, Sexrobotern & Co." (UB 14047).

Hinführung
1. Wann kommt Kunst an ein Ende?
2. Autorschaft und ästhetische Verantwortung
3. Promptgenerierte Kunst
4. Mensch oder KI – ein Unterschied für die ästhetische Erfahrung?
5. KI-Kunst, Fake und Fälschung

Ausblick: Ist KI-Kunst das Ende der Kunst?
Anmerkungen
Literaturhinweise
Zur Autorin
Danksagung

Bedeutung und Interpretation


Beginnen wir mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen natürlicher und nichtnatürlicher Bedeutung, die auf den Sprachphilosophen Paul Grice (1913–1988) zurückgeht.38 Eine natürliche Bedeutung liegt vor, wenn ein Gegenstand oder Sachverhalt anzeigt, dass ein anderer Gegenstand oder Sachverhalt der Fall ist. Es reicht aus, dass eine verlässliche kausale Beziehung zwischen diesen beiden Gegenständen [36]oder Sachverhalten besteht. Ein Subjekt, das die natürliche Bedeutung erkennt oder in Kraft setzt, ist nicht erforderlich. Beispiele für natürliche Bedeutung sind die Jahresringe eines Baums, die sein Alter anzeigen, oder rote Flecken auf der Haut, die bedeuten, dass der Betroffene an den Masern erkrankt ist.

Die Redeweise von natürlicher Bedeutung ist insofern irreführend, als es sich nur um Anzeichen, aber nicht um Bedeutungen in dem Sinn handelt, den wir üblicherweise mit dem Begriff verbinden. Für gewöhnlich ist mit dem Begriff der Bedeutung nichtnatürliche Bedeutung gemeint, und zwar im paradigmatischen Fall als sprachliche Bedeutung. Im Bereich der Kunst begegnen uns auch Formen nichtnatürlicher Bedeutung jenseits der Sprache.

Grundsätzlich liegen nichtnatürlicher Bedeutung die Intentionen von Subjekten zugrunde. So kann ich beschließen, dass zwei Streichholzschachteln Fahrzeuge darstellen, um einen Unfall nachzuspielen. Ihre Bedeutung besteht in diesem Kontext in der räumlichen Position der Fahrzeuge relativ zueinander. Nicht immer kann jedoch eine einzelne Person über die Bedeutung allein entscheiden, sondern es spielen auch Konventionen eine Rolle. Konventionen dürfen nicht als explizite Übereinkünfte verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine kollektive Praxis, die aufgrund von gemeinsamen Zielen und Absichten besteht und auf manchmal sehr komplexen gegenseitig erwarteten Verhaltensweisen beruht.

Auch im Fall nichtnatürlicher Bedeutung besteht eine Kausalbeziehung zwischen der Bedeutung und dem Gegenstand, doch wird diese vermittelt über die Intentionen einzelner Subjekte oder Konventionen. So muss es eine [37]entsprechende Kausalbeziehung zwischen dem Wort ›Baum‹ und Bäumen geben, damit das Wort die entsprechende Bedeutung erhält. Anders als bei der natürlichen Bedeutung kann der Zusammenhang im Fall nichtnatürlicher Bedeutung völlig arbiträr sein, wie bei der Sprache, muss es aber nicht.

Für die Bedeutung gemalter Bilder spielt Ähnlichkeit eine gewisse Rolle, aber sie ist weder notwendig noch hinreichend für eine bestimmte Bedeutung. Dass sie nicht notwendig ist, lässt sich daran erkennen, dass es Bedeutungsformen gibt, die keine Ähnlichkeit welcher Art auch immer voraussetzen, etwa sprachliche Bedeutungen. So weist das Wort ›Baum‹ keine Ähnlichkeit zu Bäumen auf. Ähnlichkeit ist auch keine hinreichende Bedingung für Bedeutung, da es Gegenstände gibt, die in einer bestimmten Ähnlichkeitsbeziehung zu anderen Gegenständen stehen, ohne eine entsprechende Bedeutung zu haben.

Ein besonders eindrückliches Beispiel geht auf den amerikanischen Philosophen Hilary Putnam (1926–2016) zurück. Er beschreibt, wie eine Ameise im Sand umherkriecht und dabei eine Linie in den Sand zieht. Durch reinen Zufall kommt durch die Kurven und Überschneidungen ein Muster zustande, das aussieht wie eine Karikatur von Winston Churchill (1874–1965). Am Ende stellt er sich die Frage: »Hat die Ameise ein Bild von Winston Churchill gezeichnet? Ein Bild, das Churchill abbildet?«39

Die Frage ist rhetorisch: Es handelt sich nicht um ein Bild Churchills, da das Getrippel der Ameise jenseits der zufälligen Ähnlichkeit in keinerlei Beziehung zu Churchill steht. Die Figur sieht deshalb nur so aus, als wäre sie ein Bild von Churchill. Das hat zur Konsequenz, dass selbst bildliche [38]Bedeutung sich nicht allein aufgrund der visuellen Erscheinung von Gegenständen identifizieren lässt und Bilder sich rein äußerlich nicht unbedingt von Gegenständen unterscheiden lassen, die keine Bilder sind. Damit es sich um ein Bild von Churchill handelt, müsste die Figur auf ein Subjekt zurückgehen, das die Absicht hatte, eine Karikatur von Churchill anzufertigen, sowie über die Intelligenz und die dafür notwendigen Fähigkeiten verfügte, um diese Absicht auch umzusetzen.

Es ist umstritten, inwieweit die Bedeutung von Bildern von Konventionen abhängt. Es gibt zweifellos Formen der Bedeutung, für die Konventionen wichtig sind. Gegenstände, die ihre Bedeutung durch Konventionen erhalten, werden Zeichen genannt. Natürliche Bedeutungen fallen im strengen Sinn nicht unter diese Kategorie: Die Jahresringe eines Baumes sind kein Zeichen seines Alters, sondern Anzeichen. Ebenso ausgeschlossen sind Bedeutungen, die allein auf subjektiven Absichten beruhen wie die beiden Streichholzschachteln, die zwei Unfallfahrzeuge darstellen; bei ihnen handelt es sich nicht um Zeichen für die Fahrzeuge. Arbitrarität ist hingegen keine notwendige Eigenschaft von Zeichen, obwohl das gelegentlich behauptet wird. So sind die Zunftsymbole der Handwerke wie die Bäckerbrezel nicht rein arbiträr, dennoch besitzen sie ihre Bedeutung nur im Rahmen bestimmter Konventionen; es handelt sich aus diesem Grund um Zeichen.

Besonders im Rahmen unserer sprachlichen Kommunikation spielen konventionelle Bedeutungsmuster eine wichtige Rolle. Vielfach nehmen wir sprachliche Bedeutung einfach als gegeben hin, ohne uns in jedem einzelnen Fall zu fragen, was jemand mit einem bestimmten [39]Ausdruck meint. Das zeigt sich besonders in unserer Kommunikation mit künstlichen Systemen, die keine Absichten haben. Wenn ein Bot wie ChatGPT einen Text in natürlicher Sprache ausgibt, dann gehen wir davon aus, dass die Wörter die Bedeutungen haben, die ihnen konventionell in unserer Sprache zukommen. Die Äußerungen der Programme besitzen nur abgeleitet zu den Konventionen unserer zwischenmenschlichen Sprachpraxis Bedeutung.

Zwar spielen auch für die Bedeutung von Kunstwerken Konventionen eine Rolle, wenngleich der Verstoß dagegen mindestens ebenso wichtig ist wie ihre Einhaltung. Insbesondere der Bedeutungsgehalt höherer Ordnung, der wesentlich für Kunstwerke ist, lässt sich jedoch nicht mit Hilfe von Konventionen verstehen. Deshalb sind wir in diesem Fall darauf angewiesen, eine Interpretation vorzunehmen.

Kunstwerke sind ebenso wie sprachliche Äußerungen als Ergebnis von Handlungen anzusehen, die intentionale Zustände wie Wünsche, Gedanken, Meinungen, Erfahrungen und Emotionen ausdrücken.40 Wir können also die Bedeutung eines Kunstwerks nur interpretieren, wenn wir die ihm zugrundeliegenden intentionalen Zustände nachvollziehen können, aber diese erschließen sich uns nur, sofern wir verstehen, was das Kunstwerk ausdrücken soll (bei diesem Zusammenhang handelt es sich um eine Spielart des hermeneutischen Zirkels, der besagt, dass jede Interpretation von einem Vorverständnis ausgehen muss).41

Um in diesen Zirkel einzudringen, muss eine der beiden Variablen konstant gehalten werden, entweder die Bedeutung des Kunstwerks oder die Gedanken, Wünsche, Erfahrungen etc., die es zum Ausdruck bringen soll. Da die Bedeutung des Werks nicht gegeben ist, bleibt nur die andere [40]Seite der Gleichung übrig. Man könnte versuchen, dieses Problem zu lösen, indem man sich Informationen über den sozialen, historischen und individuellen Lebenshintergrund der Künstler beschafft. Doch auch diese Hinweise bedürfen der Interpretation und setzen deshalb bereits Bedeutungsverstehen voraus.

Die einzige Möglichkeit, den Zirkel grundsätzlich zu durchbrechen, besteht in der Annahme eines geteilten Hintergrunds, die von unterschiedlichen Philosophen im Rahmen ihrer Ansätze variierend formuliert wurde. So spricht der Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer (1900–2002) von einer Horizontverschmelzung, während für den Kunstphilosophen Richard Wollheim (1923–2003) die Voraussetzung dafür, Kunst zu verstehen, in einer geteilten menschlichen Natur besteht, die sich im Kunstwerk manifestiert.42

Der Sprachphilosoph Donald Davidson (1917–2003), für den diese Zirkelstruktur konstitutiv für jede Art des Bedeutungsverstehens ist, stellt hingegen ein Prinzip der Nachsicht als Grundlage jedweder Interpretation auf.43 Dieses Prinzip besagt, dass wir, um jemand anderen zu verstehen, unterstellen müssen, dass das, was diese Person von sich gibt, im Großen und Ganzen wahr ist und dass auch ihre Irrtümer zumindest rational nachvollziehbar sind. Ein großer Hintergrund an geteilten, wahren Meinungen ist daher notwendig, um punktuelle Differenzen und Irrationalität überhaupt hervortreten zu lassen. Im Einzelfall bestehen dabei Abwägungsmöglichkeiten; so kann eine Äußerung, die wir für falsch halten, auch als ein Fall abweichender Bedeutung beschrieben werden. Eine solche Maßnahme macht in der Folge jedoch Anpassungen an anderer Stelle der Gesamtinterpretation erforderlich.

[41]Im Fall der Kunstinterpretation stellt sich die Situation noch komplexer dar als beim alltäglichen Sprachverstehen. Denn wir haben es nicht mit der Bedeutung erster Ordnung zu tun, die im einfachsten Fall kausal mit beobachtbaren Gegenständen verknüpft ist, sondern mit dem Gehalt höherer Ordnung, der nur indirekt erschlossen werden kann. Die Absicht der Künstler, das Werk möge auf eine bestimmte Art und Weise interpretiert werden, ist bestenfalls eine notwendige Bedingung für die Interpretation. Anders als Humpty Dumpty in Lewis Carrolls Rom Alice hinter den Spiegeln (1871) behauptet,...

Erscheint lt. Verlag 17.11.2023
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
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ISBN-10 3-15-962208-8 / 3159622088
ISBN-13 978-3-15-962208-8 / 9783159622088
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