Nordostpassage (eBook)

Geschichte eines Seewegs
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
mareverlag
978-3-86648-837-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nordostpassage -  Andreas Renner
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Jahrhundertelang träumten europäische Seefahrer vergeblich von einer Ostroute durchs sibirische Eismeer: Willem Barents und Vitus Bering erlagen nach ihren »Entdeckungen« Spitzbergens und der Beringstraße den Strapazen ihrer Expeditionen, und selbst der erfolgsverwöhnte James Cook scheiterte an der Suche nach dem östlichen Ausgang aus den Eismassen. Die Sowjetunion erkämpfte sich den Seeweg durch den Einsatz von Eisbrechern, doch noch immer sank aus Hybris so manches Schiff. Ausgerechnet der Klimawandel öffnet nun die lange herbeigesehnte Wasserstraße - und macht sie zugleich zum Gegenstand unterschiedlichster Interessenkonflikte. Wirtschaftsraum für den Export von fossilen Rohstoffen oder Nationalpark im Sinne des Umwelt- und Klimaschutzes? Internationale Transitroute oder russisches Hoheitsgebiet?

Andreas Renner ist Historiker und Professor für Russland-Asien-Studien an der LMU München. Er hat zu russischem Nationalismus, zur Medizingeschichte und Fotografie publiziert. Und seit er von Japan aus Russlands Küste im Westen gesehen hat, erforscht er Russland als asiatische und maritime Macht, nicht mehr nur als Teil Osteuropas.

Andreas Renner ist Historiker und Professor für Russland-Asien-Studien an der LMU München. Er hat zu russischem Nationalismus, zur Medizingeschichte und Fotografie publiziert. Und seit er von Japan aus Russlands Küste im Westen gesehen hat, erforscht er Russland als asiatische und maritime Macht, nicht mehr nur als Teil Osteuropas.

1


Wege durchs Eismeer


Auf den Lieblingslisten von Städtereisenden ist Murmansk nicht zu finden. Zwischen baumloser Tundra und Arktischem Ozean, gut 200 Kilometer entfernt von der russisch-norwegischen Grenze, liegt die mit 300 000 Einwohnern größte Siedlung nördlich des Polarkreises. Seit ihrer Gründung als Marinebasis im Ersten Weltkrieg ist die Stadt schmuckloser Militär- und Industriestandort. Doch nicht allein der Abbau von Nickel oder die strategische Lage am westlichen Eingang der Barentssee haben Murmansk groß gemacht, sondern ein glücklicher Umstand: Der Golfstrom hält den lang gezogenen Hafen im Kola-Fjord ganzjährig eisfrei. Von Juli bis September spült er neben den üblichen Matrosen auf Landgang auch Touristen mit bunten Funktionsjacken und Urlaubsgeld in die graue Stadt. Sie ist der wichtigste Ausgangspunkt oder Zwischenstopp für Schiffsreisen in die russische Arktis.

Im Hafen wartet neben Ausflugsbooten für preiswerte Kurztrips ein auffallend bullig gebautes, rot-schwarz lackiertes Schiff. Der Atomeisbrecher 50 Let Pobedy (50 Jahre Sieg) fährt für eine fünfstellige Dollarsumme Touristen zum Barbecue an den Nordpol. Am Anleger von Murmansk starten oder beenden auch Kreuzfahrtdampfer ihre Touren durch die fünf arktischen Meere vor Russlands Nordküste. Die Barentssee am Ausgang des Atlantiks, Karasee, Laptewsee, die Ostsibirische See und schließlich die Tschuktschensee am Nordostrand des Pazifiks machen zusammen die Hälfte des Arktischen Ozeans aus. 7000 Kilometer ist die Durchquerung lang; sie bildet den Hauptabschnitt der lange Zeit als unbezwingbar geltenden Nordostpassage von Westeuropa nach Ostasien. Seit der frühen Neuzeit endeten die meisten Versuche, diesen kürzesten Seeweg in den Stillen Ozean zu nehmen, im sibirischen Meereis. Erst sowjetische Schiffe haben den Seeweg systematisch erschlossen, der Klimawandel hat ihn für den Welthandel geöffnet. In den späten 2010er-Jahren hat der boomende Arktistourismus die Nordostpassage entdeckt und Seefahrerlegenden belebt, die sich um Expeditionen aus fünf Jahrhunderten ranken.

Die große Fahrt vom Atlantischen über den Arktischen in den Pazifischen Ozean dauert knapp vier Wochen. Die Reise zwischen 70 und 80 Grad Nord, also bis zu 1500 Kilometer nördlich des Polarkreises, ist schnell per Mausklick gebucht. Für über 20 000 Dollar im umgerüsteten Forschungsschiff oder für die fast vierfache Summe in der Suite eines mondänen Passagierdampfers mit Eismeerzulassung. Oneway, versteht sich. Nicht inbegriffen sind An- und Abreise nach Murmansk. Im Reisepreis enthalten ist dagegen ein sehr wahrscheinliches Treffen mit dem König der Arktis, dem Eisbären. Und das Versprechen unendlicher Weiten.

Denn anders als Spitzbergen ist die russische Arktis bislang nicht vom Übertourismus bedroht. Die anderswo üblichen Kreuzfahrtriesen können die teils flachen und eisgefährdeten Gewässer schon gar nicht befahren. Die Passagierschiffe, die bislang die ganze Nordostpassage absolviert haben, lassen sich an zwei Händen abzählen. Coronapandemie und Ukraine-Krieg haben die Nachfrage dann einbrechen lassen. Die meisten ausländischen Reiseveranstalter fahren inzwischen einen großen Bogen um die russische Arktis – die russische Konkurrenz drängt in den Nischenmarkt. Der Umbau von arktistauglichen Schiffen aus der Sowjetzeit in Touristentransporter ist in vollem Gange.

Russische Reiseveranstalter können weniger Luxus, aber weiterhin ein exklusives Naturerlebnis garantieren – mit Walen und Walrosskolonien, ungezählten Möwenarten und unbekannten Krustenflechten, frostiger Polarluft und frischem Meersaibling. Jede Kreuzfahrt entlang der Nordostpassage ist aber auch eine Reise durch die Zeitschichten ihrer schwierigen Erschließung. Die tagelangen Etappen durch menschenleere Meeres- und bizarre Eislandschaften lassen noch erahnen, wie unüberwindlich diese Distanzen früher waren, während sommerlicher Eisregen ganz vage an die klimatischen Extreme des Polarwinters erinnert. Landgänge in sowjetische Funktionssiedlungen oder zu Rentierzüchtern in der Tundra zeigen, dass die Nordostpassage mehr als nur eine Abkürzung zum Pazifik ist; zu ihr zählen über 24 000 Kilometer russischer Arktisküste. Ausflüge mit dem Zodiac-Schlauchboot zwischen Kontinent und Packeisgrenze vermitteln die Namen bislang nie gehörter Meeresforscher, Geografen und verschollener Schiffe. Hinter der bewunderten Natur der Nordostpassage verbergen sich auch fünf Jahrhunderte menschlicher Geschichte. Passagiere auf Kreuzfahrten bewegen sich über die arktischen Meere wie Lesende über einen Palimpsest, ein mit immer neuen Texten überschriebenes Pergament.

In Murmansk sind keine großen Dechiffrierkünste nötig, um die beiden Hauptsehenswürdigkeiten einzuordnen. Gleich gegenüber dem brandneuen Passagierterminal hat der erste Atomeisbrecher der Welt, die 1959 in Dienst gestellte Lenin, seinen letzten Ankerplatz als Museumsschiff gefunden. Und im Norden überragt Aljoscha, das zweitgrößte Kriegsdenkmal des Landes, die verwitterten Plattenbauten. Im Zweiten Weltkrieg hielt Murmansk unter deutschem Dauerbombardement den überlebenswichtigen Zugang der UdSSR zum Atlantik aufrecht. In der Nachkriegszeit wurde die Stadt nicht nur zur wichtigsten Basis von Moskaus nuklearer U-Boot-Flotte, sondern auch zum Heimathafen der Atomeisbrecher. Sie operierten im Sommer bis zum Pazifik und hielten im Winter immerhin den Weg nach Westsibirien offen. Murmansk war der Schlüssel zum sowjetischen »Nördlichen Seeweg«, wie der Kreml »seinen« Abschnitt der Nordostpassage taufte. Zwar hat die Stadt seit dem Untergang der UdSSR gut ein Drittel ihrer Einwohner verloren, doch nicht ihre Bedeutung als Schnittstelle zwischen Atlantik und Pazifik. Kreuzfahrtschiffe mit Ziel Beringstraße – dieser symbolisch aufgeladenen Meerenge zwischen Asien und Amerika – können hier zum letzten Mal Treibstoff und Proviant bunkern.

Für die ersten westeuropäischen Seefahrer, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die Suche nach der Nordostpassage machten, begann auf der Höhe des heutigen Murmansk das Unbekannte. Die Küste war unbewohnt und die Erforschung des stürmischen und eisigen Murman-Meeres (wie die Barentssee bis ins 19. Jahrhundert hieß) herausfordernd. Auch der spätere Namensgeber, der holländische Navigator Willem Barents, kam auf seinen drei Fahrten in den 1590er-Jahren nicht über die nordöstliche Grenze des Meeres hinaus. Auf 76 Grad Nord führte er astronomische Pionierstudien durch – und verstarb völlig entkräftet nach der ersten (dokumentierten) Polarüberwinterung von Westeuropäern.

Inzwischen ist die Barentssee eisfreier und besser kartografiert als zu Barents’ Zeiten. Ihre Überquerung ist nicht mehr lebensgefährlich. Während Barents unter der Vitaminmangelkrankheit Skorbut litt und hungernde Matrosen von der Meuterei abhalten musste, können Passagiere nunmehr das noch immer gerne stürmische Meer mit seinen Buckelwalen und unzähligen Seevögeln bequem aus dem Bordrestaurant betrachten. Der Kurs ist Nordnordost, abseits der küstennahen Hauptroute für Handelsschiffe. Das erste Etappenziel lautet Franz-Josef-Land, 1500 Kilometer von Murmansk entfernt. In der Nähe dieser Inselgruppe zwischen 80 und 82 Grad nördlicher Breite hatte im Juli 1931 die erste sowjetische Arktiskreuzfahrt ein Rendezvous mit dem legendären Luftschiff Graf Zeppelin.

Den nach dem vorletzten Habsburger Monarchen benannte Archipel entdeckte 1873 im Vorbeidriften eine österreichisch-ungarische Expedition; diese war auf ihrem Weg zum Nordpol im Packeis vom Kurs abgekommen. Doch in Wien wusste man mit den vergletscherten Inseln nichts anzufangen; erst die UdSSR erklärte 1926 das Niemandsland zu ihrem Staatsgebiet. Dauerbewohner kennt der Archipel bis heute nicht. Doch neben dem nördlichsten Militärflughafen der Welt befinden sich auf Franz-Josef-Land eine Forschungsstation und seit einigen Jahren noch ein kleines Besucherzentrum für die jährlich tausend Sommertouristen. Ein Drittel reist extra aus China an, Tendenz steigend. Die Inseln gehören zu Russlands riesigem Arktis-Nationalpark. Die Biodiversität im nährstoffreichen Wasser der nördlichen Barentssee ist einzigartig und die Grundlage für eine der größten und stabilsten Eisbärenpopulationen der Welt. Mit dem schmelzenden Packeis ziehen sie sich stärker auf die Inseln im Nordpolarmeer zurück. Auch nach Nowaja Semlja, wo es immer wieder zu gefährlichen Treffen zwischen den bärigen Ureinwohnern des Arktischen Ozeans und menschlichen Zuwanderern kommt.

Diese lang gezogene Doppelinsel liegt 500 Kilometer südlich von Franz-Josef-Land; aus geologischer Sicht ist sie eine Verlängerung des Uralgebirges, das als Europas Grenze zu Asien gilt. Die Nordspitze des »Neuen Landes« ist damit zugleich der nordöstlichste Punkt Europas. Östlich der Insel öffnet sich die Karasee, Russlands zweites arktisches Meer, mit gut 1500 Kilometern etwa so lang wie die Ostsee und meist auch nicht viel tiefer. Wie in einem...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2024
Zusatzinfo mit zahlreichen Karten
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Arktis • Barentssee • Beringmeer • Beringstraße • Expedition • Grenze • hoheitsgebiet • James Cook • Karasee • Klimawandel • Konflikte • Nationalpark • Nordpol • Osten • Ostroute • Ostsibirische See • Polarforschung • Rohstoffe • Russland • Seefahrt • Seekarten • Territorium • Transitroute • Vitus Bering • Willem Barents • Wirtschaftsraum
ISBN-10 3-86648-837-8 / 3866488378
ISBN-13 978-3-86648-837-3 / 9783866488373
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