Die große Odyssee -  Lluís Quintana-Murci

Die große Odyssee (eBook)

Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
289 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81430-3 (ISBN)
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Der international renommierte Biologe Lluís Quintana-Murci zeichnet in dieser so bahnbrechenden wie meisterhaften Darstellung die außergewöhnliche Geschichte der menschlichen Besiedlung auf der ganzen Welt nach. Er belegt die Existenz ausgestorbener Menschenarten und enthüllt, wie sich die menschlichen Populationen ständig untereinander, aber auch mit archaischen Menschen wie dem Neandertaler oder dem Denisova-Menschen vermischten. Ohne Vielfalt gibt es keine Evolution und keinen Fortschritt in irgendeinem Sinne des Wortes. Vor etwa sechzigtausend Jahren haben unsere Vorfahren Afrika verlassen, um sich über den gesamten Planeten zu verbreiten. Dies ist die erste große Migration in der Geschichte der Menschheit gewesen: Alle Menschen nicht-afrikanischer Herkunft sind Nachkommen dieser ersten «Migranten». Es war der Beginn einer langen Geschichte von Wanderungen, in deren Verlauf Europa, Asien und Australien vor etwa fünfzigtausend Jahren, Amerika vor weniger als dreißigtausend Jahren und viel später die Inseln des fernen Ozeaniens wurden. Die moderne Populationsgenetik ermöglicht uns, Wanderungsereignisse und andere demografische Prozesse zu datieren. Heute wissen wir, dass Vermischung ein kontinuierlicher Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte war und ist. Wir alle sind, in unterschiedlichem Maße, multiethnisch, da unsere Genome aus einer Vielzahl von DNA-Segmenten unterschiedlichster Herkunft bestehen - ein historischer und geografischer Flickenteppich, in dem sich Völker und Generationen vermischen.

Lluís Quintana-Murci ist ein spanisch-französischer Genetiker, Professor am Collège de France, wo er den Lehrstuhl für Humangenomik und Evolution innehat, und Leiter der Abteilung für Humanevolutionäre Genetik am Institut Pasteur. "Die große Odyssee" war in Frankreich ein Bestseller.

Vorwort


Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?

Diese drei Fragen verfolgen den Menschen, seit er auf der Welt ist. Seitdem sucht er Antworten in Religion, Philosophie, Kunst, der Geschichte, und auch in den Naturwissenschaften. Aus diesen drei Fragen besteht auch der Titel von Paul Gauguins Meisterwerk D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous? (1897) im Bostoner Museum of Fine Arts. Bei seinen Reisen nach Tahiti hatte der Maler sich auf die Suche nach anderen Werten als denen der westlichen Gesellschaft gemacht. Sein Gemälde liest sich von rechts nach links, entgegen der Richtung, die europäischen Leserinnen und Lesern geläufig ist. Als Darstellung der Frage «Woher kommen wir?» sehen wir rechts eine Gruppe von Frauen mit einem Baby; die Frage «Was sind wir?» illustriert in der Mitte der Alltag junger Erwachsener und ihr Verhältnis zur Natur; links wird durch eine Darstellung von Alter und Jenseits die Frage nach der Zukunft, «Wohin gehen wir?», beantwortet.

Dieses Gemälde ist ein Loblied auf das Unterwegssein, das Anderssein, die menschliche Diversität – Vielfalt der Individuen, der Geschlechter, der Generationen, Vielfalt der Lebensorte und -zeiten. In dieser Hinsicht steht es in tiefem Einklang mit dem Bild, das auch die Populationsgenetik von der menschlichen Welt zeichnet. Gegenstand dieser wissenschaftlichen Disziplin ist die Untersuchung der genetischen Diversität unserer Spezies, des Menschen – und gleichzeitig erzählt sie uns auch von seinen Reisen. Dank der Fortschritte der Genetik in den vergangenen Jahrzehnten verfügen wir heute über ein sehr leistungsfähiges Forschungsinstrument: Wendet man es auf unsere Spezies an, legt es die enorme Diversität zwischen Individuen und Völkern offen, die schillernde Vielfalt des menschlichen Gewebes, das den Planeten überzieht. Es dringt in das molekulare Geheimnis der Organismen vor und erhellt die auf den Gegebenheiten der geografischen und ökologischen Umwelt basierenden Unterschiede mit einer Präzision, die für das Wissen über die Menschheit eine ganz neue Dimension eröffnet. Denn wir sehen hier nicht einfach nur eine Momentaufnahme der aktuellen Situation, sondern können auch den Blick in die Vergangenheit richten, von der ein plastisches Bild entsteht, das im Detail beleuchtet, wie sich im Lauf der Zeit und der allmählichen Eroberung der gesamten Erdoberfläche durch unsere Artgenossen die menschliche Vielfalt herausgebildet hat.

Wie wir in diesem Buch immer wieder feststellen werden, lässt sich über die Frage nach der menschlichen Diversität auch unsere Geschichte, unsere Evolution und unsere Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen nachvollziehen. Außerdem eröffnet sie Perspektiven für die Medizin, die dieses Wissen zur Vorsorge und Heilung unserer Krankheiten nutzbar machen kann.

Dieses Buch ist selbst als eine Art Allegorie der menschlichen Diversität angelegt: Unsere Spezies setzt sich aus zahlreichen Völkern zusammen, und diese Vielfalt ist ein Reichtum. Unser Hauptaugenmerk wird auf der genetischen Diversität liegen, aber nicht ausschließlich. Um nämlich die menschliche Vielfalt erkennen, analysieren und interpretieren zu können, fragt die Populationsgenetik auch nach anderen, nichtgenetischen Ursachen von Unterschieden – das kann die geografische Diversität der Individuen sein, ihre Sprachzugehörigkeit, ihre Lebensweise und ihre Subsistenzform sowie die Gesamtheit ihrer Sitten und ihrer soziokulturellen Organisation.

Die Genetik weist heute über den Rahmen der Biologie weit hinaus. Sie dient auch der Geschichtsschreibung – und das ist ganz entscheidend, wenn wir an die berühmte Formulierung von Theodosius Dobzhansky denken: «Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution.» Damit meint er, dass es nur einen gemeinsamen Rahmen aller biologischen Forschungsarbeit geben kann: die Evolution – Lebewesen sind das, was sie geworden sind. Wer sie kennen möchte, muss also auch ihre Geschichte nachzeichnen.

Die Geschichte des Menschen reicht in so alte Zeiten zurück, dass die ältesten erhaltenen Belege sich auf ein paar Knochen beschränken. Ein kümmerlicher Rest: «Ach, armer Yorick!», ruft Hamlet beim Anblick des Schädels … Doch wenn man sich einmal mit der tragischen Endlichkeit des menschlichen Lebens abgefunden hat, ist er eigentlich gar nicht so kümmerlich; denn wenn wir nach Jahrhunderten und manchmal Tausenden von Jahrhunderten, die uns von ihrer Lebenszeit trennen, die Überreste der Toten ausgraben, finden wir auch etwas von den Lebenden, die sie einst waren. Mithilfe der Genetik können wir aus diesen Knochen ein kleines Stück von ihrer Geschichte und von der Geschichte der Spezies rekonstruieren, zu der sie gehören, und sie uns damit wieder aneignen, sie in die große biologische Familie der Spezies Mensch hereinholen. Denn Knochen sprechen – zumindest mit Naturwissenschaftlern.

Knochen sind ein fossiles Archiv, das erst einmal entschlüsselt werden will. Im Lauf der Jahrhunderte haben wir gelernt, vergrabene Überreste zu erkennen und zu datieren: Heute ist die Erde ein riesiges Raum-Zeit-Puzzle mit unzähligen Indizien, die von der Geschichte der Lebewesen und unserer Spezies berichten. Wir müssen sie nur noch ordnen: Und genau da kann die Genetik neue Daten liefern. 1953 eröffnete die Entdeckung der DNA-Struktur die Ära der Molekularbiologie und der Genetik, die die Biologie schon bald revolutionieren sollten. Übrigens auch die Medizin: Ohne sie gäbe es keine mRNA-basierten Impfstoffe gegen das Coronavirus. Erkenntnisse über die Lebewesen: aber paradoxerweise auch über die Toten, also über unsere Geschichte. So unrealistisch Michael Crichtons fiktives Szenario in Jurassic Park auch sein mag, immerhin popularisierte er mit seinem Film eine grundlegende wissenschaftliche Tatsache: Die DNA von Lebewesen, die vor mehreren Millionen Jahren gelebt haben, lässt sich extrahieren und wiederherstellen. Die Genetik informiert uns über die Lebenden; aber sie kann uns auch über Fossilien informieren, und das mit außerordentlicher Präzision.

Und es geht noch weiter. Die fulminanten Fortschritte der Gentechnik und des Wissens über die Gene haben uns in die Lage versetzt, mit ganzen Genomen zu arbeiten, und nicht nur mit Genomen von Individuen, sondern mit denen von ganzen Populationen. Unser Jahrhundert begann 2001 mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms. Dessen 3 Milliarden Buchstaben oder Nukleotide transportieren die gesamte biologische Information, die uns zu dem macht, was wir sind: Menschen. Der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert war in der Populationsgenetik auch der Übergang von der Genetik zur Genomik. Genome wurden entziffert, man konnte sie vergleichen: ein signifikanter Sprung in der Biologie. Genetisch in Dimensionen von Populationen zu denken: ein Schritt vom Jahrhundert des Gens (so das Buch von Evelyn Fox Keller) ins Jahrhundert der Genome. Die Genomik umfasst die Diversität in ihrer absoluten Ausdehnung: Sie ist bewusst inklusiv, breit, multipel. Sie hält immer neue Überraschungen parat, denn unsere Spezies lässt sich nicht etwa auf ein Genom reduzieren, sondern sie besteht aus zahllosen Genomen. Selbst aufs Individuum bezogen ist das Genom eines jeden von uns nämlich ein Mosaik aus mehreren Genomen – und damit bezeugt es eine mindestens 200.000 Jahre alte Geschichte.

So weit also zum Ausgangspunkt dieses Buchs. Es wird den neuen biologischen Wissensstand vorstellen, in den wir mit den Möglichkeiten der Genomik eingetreten sind: Wir können heute nämlich die Milliarden Basenpaare im Genom eines Individuums sequenzieren und analysieren, dieses Genom mit den Merkmalen der aktuell auf der Erde präsenten Populationen in Bezug setzen und es dann im Kontext einer Geschichte verorten – der Geschichte der Individuen sowie der Populationen und ihrer Wanderbewegungen. Zu dieser Geschichte gehört dann auch die Evolution der Spezies, einschließlich der heute ausgestorbenen Arten, von denen wir abstammen. Vor nur zwei Jahrzehnten war das völlig unvorstellbar – und dabei ist auch das erst der Anfang.

Gleichzeitig lernen wir die Überreste einer ausgestorbenen Menschheit kennen, von denen uns häufig lediglich Knochen erhalten geblieben sind. Doch so alt sie auch sein mögen, diese Knochen enthalten immer noch Spuren des Lebens, die wir immer besser auswerten können. Von einem jungen Mädchen, das vor über 50.000 Jahren in Südsibirien gelebt hat, wissen wir heute anhand einer einfachen Knochenanalyse, wie das Team um Svante Pääbo sie 2018 durchgeführt hat, dass sie eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte – zwei heute ausgestorbene Populationen...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Übersetzer Elsbeth Ranke
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Naturwissenschaften Biologie
Schlagworte Anthropologie • Besiedlung • Evolution • Generationen • Genetik • Geschichte • Historische Demographie • Historische Geographie • Menschheitsgeschichte • Neandertaler • Populationsgenetik • Völker
ISBN-10 3-406-81430-1 / 3406814301
ISBN-13 978-3-406-81430-3 / 9783406814303
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