Vom Ende einer Geschichte (eBook)

Roman
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2011 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30525-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Ende einer Geschichte -  Julian Barnes
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Man Booker Prize 2011 für »Vom Ende einer Geschichte« Wie sicher ist Erinnerung, wie unveränderlich die eigene Vergangenheit? Tony Webster muss lernen, dass Geschehnisse, die lange zurückliegen und von denen er glaubte, sie nie mehr hinterfragen zu müssen, plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Als Adrian Finn in die Klasse von Tony Webster kommt, schließen die beiden Jungen schnell Freundschaft. Sex und Bücher sind die Hauptthemen, mit denen sie sich befassen, und Tony hat das Gefühl, dass Adrian in allem etwas klüger ist als er. Auch später, nach der Schulzeit, bleiben die beiden in Kontakt. Bis die Freundschaft ein jähes Ende findet. Vierzig Jahre später, Tony hat eine Ehe, eine gütliche Trennung und eine Berufskarriere hinter sich, ist er mit sich im Reinen. Doch der Brief eines Anwalts, verbunden mit einer Erbschaft, erweckte plötzlich Zweifel an den vermeintlich sicheren Tatsachen der eigenen Biographie. Je mehr Tony erfährt, desto unsicherer scheint das Erlebte und desto unabsehbarer die Konsequenzen für seine Zukunft. Ein Text mit unglaublichen Wendungen, der den Leser auf eine atemlose Achterbahnfahrt der Spekulationen mitnimmt. »Wie Barnes allmählich die Selbstzensur in den Erinnerungen seines pensionierten Protagonisten Tony Webster bloßlegt, beweist seine ganze Meisterschaft.«Süddeutsche Zeitung

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London. Gertraude Krueger, geboren 1949, lebt als freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Valerie Wilson Wesley, Jhumpa Lahiri und E.L. Doctorow.

Inhaltsverzeichnis

Teil zwei


Im späteren Leben erwartet man doch ein wenig Ruhe, nicht wahr? Man meint sie verdient zu haben. Jedenfalls war das bei mir so. Aber dann begreift man allmählich, dass das Leben sich nicht bemüßigt fühlt, Verdienste zu belohnen.

Außerdem meint man in jungen Jahren vorhersehen zu können, was das Alter wahrscheinlich an Schmerzen und Trübsal mit sich bringen wird. Man stellt sich vor, dass man einsam, geschieden, verwitwet ist; dass die Kinder einem entwachsen, Freunde sterben. Man stellt sich den Statusverlust vor, den Verlust des Begehrens – und den Verlust des Status eines begehrenswerten Menschen. Vielleicht geht man noch weiter und denkt an das Nahen des eigenen Todes, dem jeder, selbst wenn er andere um sich hat, nur allein ins Auge sehen kann. Aber das ist alles ein Blick nach vorn. Dabei richtet man nie den Blick nach vorn und stellt sich dann vor, wie man von der Warte der Zukunft aus zurückschaut, die neuen Gefühle erlernt, die die Zeit mit sich bringt. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass es, weil es immer weniger Zeugen des eigenen Lebens gibt, auch weniger Bestätigung und folglich weniger Gewissheit darüber gibt, was man ist oder geworden ist. Selbst wenn man eifrig Belege gesammelt hat – in Worten, Tönen, Bildern –, muss man womöglich feststellen, dass man die falschen Belege gesammelt hat. Wie hieß dieser Satz, den Adrian damals zitierte? »Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.«

 

Ich lese immer noch viel über Geschichte, und selbstverständlich verfolge ich die offizielle Zeitgeschichte – den Zusammenbruch des Kommunismus, Mrs Thatcher, 9/11, den Klimawandel – mit der normalen Mischung aus Angst, Beklemmung und vorsichtigem Optimismus. Diese Geschichte steht für mich aber auf einem anderen Blatt – einem, dem ich nicht recht traue – als das, was in Griechenland und in Rom geschah oder im Britischen Empire oder in der Russischen Revolution. Vielleicht fühle ich mich einfach sicherer bei der Geschichte, über die mehr oder weniger Einigkeit herrscht. Oder es ist wieder dasselbe Paradox: Die Geschichte, die sich direkt vor unserer Nase vollzieht, sollte eigentlich am klarsten sein, und doch ist sie am schwierigsten zu fassen. Wir leben in der Zeit, sie begrenzt und bestimmt uns, und die Zeit sollte das Maß der Geschichte sein, oder nicht? Doch wenn wir die Zeit nicht verstehen, die Mysterien ihres Fortgangs und Fortschritts nicht begreifen können, wie soll das erst bei der Geschichte sein – und sei es nur unserem eigenen kleinen, persönlichen, weitgehend undokumentierten Anteil daran?

 

Wenn wir jung sind, kommt uns jeder über dreißig alt vor, jeder über fünfzig vergreist. Und in dem Maße, wie die Zeit vergeht, bestätigt sie uns, dass wir gar nicht so unrecht hatten. Die kleinen Altersunterschiede, die in jungen Jahren so schwerwiegend und entscheidend sind, schleifen sich ab. Am Ende fallen wir alle in dieselbe Kategorie, die der Nichtjungen. Mir persönlich hat das nie viel ausgemacht.

Doch es gibt Ausnahmen von der Regel. Für manche Leute verschwinden die in der Jugend festgelegten Zeitdifferenzen nie so ganz: Der Ältere bleibt der Ältere, selbst wenn beide schon sabbernde Graubärte sind. Für manche Leute bedeutet ein Vorsprung von, sagen wir, fünf Monaten, dass der – oder die – eine sich verstockt bis in alle Ewigkeit für klüger und gescheiter hält als den anderen, obwohl alles das Gegenteil beweist. Vielleicht sollte ich lieber sagen, weil alles das Gegenteil beweist. Weil für jeden objektiven Beobachter klar auf der Hand liegt, dass sich die Waage jetzt zugunsten des geringfügig Jüngeren neigt, klammert sich der – oder die – andere umso starrsinniger, umso rigoroser an seine – ihre – vermeintliche Überlegenheit. Umso neurotischer.

 

Ich höre übrigens immer noch viel Dvořák. Nicht unbedingt die Symphonien; inzwischen sind mir die Streichquartette lieber. Tschaikowski aber ist den Weg all jener Genies gegangen, die in der Jugend faszinieren, in den mittleren Jahren noch einen letzten Rest von Anziehungskraft behalten, aber später, wenn nicht peinlich, so doch irgendwie weniger relevant erscheinen. Damit will ich nicht sagen, dass sie recht hatte. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand ein Genie ist, das die Jugend faszinieren kann. Eher ist etwas gegen eine Jugend einzuwenden, die sich von einem Genie nicht faszinieren lässt. Nebenbei bemerkt, halte ich die Filmmusik zu Ein Mann und eine Frau nicht für ein geniales Werk. Hielt ich schon damals nicht. Andererseits muss ich manchmal an Ted Hughes denken und darüber lächeln, dass ihm tatsächlich nie die Tiere ausgegangen sind.

 

Mit Susie verstehe ich mich gut. Ganz gut jedenfalls. Aber die jüngere Generation hat nicht mehr das Bedürfnis oder fühlt sich auch nur verpflichtet, ständig in Kontakt zu bleiben. Zumindest nicht so, dass »in Kontakt bleiben« so etwas hieße wie »sich sehen«. Für Dad reicht auch eine E-Mail – schade, dass er nicht gelernt hat, eine SMS zu schreiben. Ja, er ist jetzt im Ruhestand, pusselt weiter an seinen mysteriösen »Projekten« herum, wahrscheinlich führt er nie etwas zu Ende, aber das hält wenigstens das Gehirn in Schwung, besser als Golf, und ja, eigentlich wollten wir letzte Woche mal vorbeischauen, aber dann ist uns was dazwischengekommen. Hoffentlich kriegt er nicht Alzheimer, das ist eigentlich meine größte Sorge, weil, nun ja, Mama wird ihn wohl kaum wieder bei sich aufnehmen, oder? Nein: Jetzt übertreibe ich, ich zeichne ein falsches Bild. So denkt Susie nicht, da bin ich mir sicher. Wenn man allein lebt, hat man bisweilen solche Anwandlungen von Selbstmitleid und Paranoia. Susie und ich verstehen uns prächtig.

 

Eine Freundin von uns – das sage ich immer noch instinktiv, obwohl Margaret und ich nun schon länger geschieden sind, als wir verheiratet waren – hatte einen Sohn, der in einer Punk-Rockband spielte. Ich fragte sie, ob sie mal ein Stück von ihnen gehört habe. Sie nannte eins mit dem Titel »Every Day is Sunday«. Ich erinnere mich, dass ich erleichtert lachte, weil die alte pubertäre Langeweile von einer Generation zur anderen gleich bleibt. Und weil man zu demselben sarkastischen Witz greift, um dieser Langeweile zu entfliehen. »Every Day is Sunday« – da fühlte ich mich zurückversetzt in die Jahre meiner eigenen Stagnation und des furchtbaren Wartens darauf, dass das Leben beginnt. Ich fragte unsere Freundin, wie die anderen Stücke der Band hießen. Nein, antwortete sie, das ist ihr Stück, ihr einziges Stück. Wie geht es denn weiter?, fragte ich. Wie meinst du das? Na ja, wie heißt die nächste Zeile? Du kapierst das offenbar nicht, sagte sie. Das ist das Stück. Sie wiederholen einfach nur diese Zeile, immer wieder, bis das Stück von selbst zu Ende geht. Ich erinnere mich, dass ich lächelte. »Every Day is Sunday« – das wäre doch keine schlechte Grabinschrift?

 

Es war so ein langer weißer Umschlag, bei dem Name und Adresse in einem Fenster erscheinen. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich hab es nie eilig, so einen Umschlag zu öffnen. Früher einmal bezeichneten solche Briefe eine neue schmerzliche Etappe meiner Scheidung – vielleicht kommt mein Unbehagen daher. Heutzutage ist womöglich eine Steuerbescheinigung für die erbärmlichen Erträge der paar Aktien darin, die ich zu Beginn meines Ruhestands gekauft habe, oder ein zusätzlicher Spendenaufruf der Wohltätigkeitsorganisation, die ich ohnehin schon mit einem Dauerauftrag unterstütze. Darum vergaß ich den Umschlag, bis ich am selben Tag alles Altpapier in der Wohnung – das heißt auch den letzten Briefumschlag – fürs Recycling einsammelte. Wie sich herausstellte, enthielt der Umschlag einen Brief von einer Anwaltskanzlei, von der ich noch nie gehört hatte, Coyle, Innes & Black. Eine gewisse Eleanor Marriott schrieb mir »In der Nachlasssache Mrs Sarah Ford (verstorben)«. Es dauerte etwas, bis mir ein Licht aufging.

 

Wir leben mit so einfachen Annahmen, nicht wahr? Zum Beispiel, dass Erinnerungen Ereignisse plus Zeit sind. Dabei ist alles viel seltsamer. Wer hat noch mal gesagt, Erinnerung sei das, was wir meinten vergessen zu haben? Und es sollte uns doch klar sein, dass die Zeit nicht wie ein Fixativ wirkt, sondern wie ein Lösungsmittel. Es kommt uns aber nicht gelegen – es ist nicht nützlich für uns –, das zu glauben; es hilft uns nicht dabei, mit unserem Leben zurechtzukommen; darum ignorieren wir es.

 

Ich sollte meine Adresse bestätigen und eine Fotokopie meines Passes einschicken. Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass ich fünfhundert Pfund und zwei »Dokumente« geerbt hätte. Ich fand das sehr rätselhaft. Erstens, dass ich etwas von einem Menschen erbte, dessen Vornamen ich entweder nie gekannt oder aber vergessen hatte. Und fünfhundert Pfund schien mir ein sehr eigenartiger Betrag zu sein. Mehr als nichts, aber zu wenig für etwas. Vielleicht würde ich es verstehen, wenn ich wüsste, wann Mrs Ford ihr Testament gemacht hatte. Falls das allerdings lange her war, würde der Betrag jetzt einer viel höheren Summe entsprechen und wäre noch unverständlicher.

Ich bestätigte meine Existenz, meine Identität und meinen Wohnort und legte fotokopierte Belege dafür bei. Ich fragte an, ob ich das Datum des Testaments erfahren könne. Dann setzte ich mich eines Abends hin und versuchte, mir dieses rund vierzig Jahre zurückliegende, demütigende Wochenende in...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2011
Übersetzer Gertraude Krueger
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufarbeitung • Buch zum Film • Erinnerung • Filmbuch • Freundschaft • Julian Barnes • Lebensgeschichte • Lebens-Lüge • Man Booker Prize 2011 • Tagebuch-Erbe • The Sense of an Ending • Vergangenheit • Welt-Literatur
ISBN-10 3-462-30525-5 / 3462305255
ISBN-13 978-3-462-30525-8 / 9783462305258
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