Der Ozean am Ende der Straße (eBook)

Roman

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2014 | 1. Auflage
238 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-8387-5832-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Ozean am Ende der Straße -  Neil Gaiman
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'Ich habe dieses Jahr nichts mit größerer Begeisterung gelesen!' Daniel Kehlmann

Es war nur ein Ententeich, ein Stück weit unterhalb des Bauernhofs. Und er war nicht besonders groß. Lettie Hempstock behauptete, es sei ein Ozean, aber ich wusste, das war Quatsch. Sie behauptete, man könne durch ihn in eine andere Welt gelangen. Und was dann geschah, hätte sich eigentlich niemals ereignen dürfen ...

Weise, wundersam und hochpoetisch erzählt Gaiman in seinem neuen Roman von der übergroßen Macht von Freundschaft und Vertrauen in einer Welt, in der nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

PROLOG


Ich trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe: Kleider, in denen ich mich normalerweise höchst unwohl gefühlt hätte, wie in einer gestohlenen Uniform oder wie ein Kind, das vorgibt, erwachsen zu sein. Heute waren sie mir jedoch ein Trost. Ich trug die richtigen Kleider für einen schweren Tag.

Heute Morgen war ich meiner Pflicht nachgekommen; ich hatte Worte gefunden, die dem Anlass angemessen waren, und ich hatte sie ehrlich gemeint. Dann, nach dem Gottesdienst, war ich in mein Auto gestiegen und ziellos durch die Gegend gefahren, weil ich noch eine Stunde totschlagen musste, bevor ich mich wieder mit irgendwelchen Leuten traf, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, um Hände zu schütteln und aus dem Festtagsgeschirr zu viele Tassen Tee zu trinken. Ich fuhr kurvenreiche Landstraßen entlang, an die ich mich nur halb erinnerte, durch Sussex, bis ich mich, ohne mir dessen richtig bewusst zu sein, wieder auf dem Rückweg ins Stadtzentrum befand. Also bog ich ab, völlig wahllos, erst nach links, dann nach rechts. Erst da wurde mir bewusst, wohin ich fuhr, wohin ich schon die ganze Zeit über gefahren war, und ich schüttelte den Kopf über meine eigene Dummheit.

Mein Ziel war ein Haus, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gab.

Ich überlegte, ob es nicht besser wäre umzukehren. Und während ich einer breiten Straße folgte, die einmal ein Kiesweg gewesen war, der an einem Gerstenfeld entlanggeführt hatte, dachte ich, dass es noch immer nicht zu spät war, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Aber ich war neugierig.

Das alte Haus, in dem ich sieben Jahre lang gewohnt hatte – von meinem fünften Lebensjahr bis zu meinem zwölften –, dieses Haus war längst abgerissen worden. Und das neue Haus, das meine Eltern weiter unten im Garten gebaut hatten, zwischen den Azaleenbüschen und dem grünen Kreis im Gras, den wir den »Feenreif« nannten, war vor dreißig Jahren verkauft worden.

Als ich das neue Haus sah, bremste ich ab. Für mich würde es immer »das neue Haus« bleiben. Ich bog in die Einfahrt ein und betrachtete das Gebäude. Ursprünglich im Stil der Siebzigerjahre errichtet, war es inzwischen mehrfach erweitert worden. Ich hatte vergessen, dass die Ziegelsteine schokoladenbraun waren. Die neuen Bewohner hatten den winzigen Balkon meiner Mutter zu einer zweistöckigen verglasten Veranda umgebaut. Ich starrte das Haus an und musste feststellen, dass ich weniger Erinnerungen an meine Jugendzeit hatte als erwartet: weder an gute noch an schlechte Zeiten. Als Teenager hatte ich eine Weile hier gewohnt. Aber mit dem Menschen, der ich jetzt war, schien das alles nichts mehr zu tun zu haben.

Ich fuhr rückwärts aus der Einfahrt.

Es war Zeit, sich zu meiner Schwester zu begeben. In ihrem Haus, das für den heutigen Tag bestimmt festlich herausgeputzt worden war, würde reges Treiben herrschen. Ich würde mich mit Leuten unterhalten, deren Existenz ich schon vor Jahren vergessen hatte, und sie würden mich nach meiner Frau fragen (von der ich mich vor einem Jahrzehnt getrennt hatte; eine Beziehung, die langsam zerfasert war, bis sie, wie es der Lauf der Dinge zu sein scheint, in die Brüche gegangen war) und ob ich eine Freundin hätte (nein, hatte ich nicht; und ich wusste noch nicht mal, ob ich dazu in der Lage war), und sie würden mich nach meinen Kindern fragen (die alle erwachsen waren und ihr eigenes Leben führten, und natürlich wären sie heute gern gekommen), nach der Arbeit (läuft alles wunderbar, vielen Dank, würde ich sagen. Ich wusste nie, wie ich über das reden sollte, was ich tat. Wenn ich darüber reden könnte, müsste ich es nicht tun. Ich schaffe Kunst, manchmal sogar richtige Kunst, und das füllt die Leerräume in meinem Leben aus. Ein paar davon. Nicht alle). Wir würden über die Verblichenen reden; wir würden der Toten gedenken.

Das kleine Landsträßchen meiner Kindheit war zu einer schwarzen Asphaltpiste geworden, die zwei weitläufige Wohnsiedlungen miteinander verband. Ich folgte ihr ein Stück weit hinaus aus der Stadt, was nicht die Richtung war, in die ich hätte fahren sollen, und es fühlte sich gut an.

Die glatte, schwarze Straße wurde schmaler, kurviger, wurde wieder zu dem einspurigen Fahrstreifen, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, aus festgestampfter Erde und knubbeligem, knochenartigem Kies.

Bald fuhr ich deutlich langsamer einen holprigen, schmalen Pfad entlang, der von Brombeergestrüpp und Hundsrosen gesäumt war oder von Haselnusssträuchern und anderen wilden Hecken. Ich hatte das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. Der Pfad war noch immer so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, auch wenn sich sonst alles verändert hatte.

Ich fuhr an der Caraway-Farm vorbei. Als ich gerade sechzehn gewesen war, hatte ich Callie Anders geküsst, die dort gewohnt hatte, ein Mädchen mit roten Wangen und blondem Haar. Kurz darauf war ihre Familie nach Schottland gezogen, und ich hatte sie nie wieder geküsst und auch nie wieder gesehen. Schließlich erstreckten sich, fast eine Meile weit, beiderseits des Weges nichts als Felder: Flache Wiesen gingen nahtlos ineinander über. Aus dem Kiesweg wurde ein besserer Trampelpfad. Bald würde er zu Ende sein.

Ich erinnerte mich daran, bevor ich um die Kurve bog; und dann stand es da, in seiner ganzen verfallenen Pracht: ein rotes Backsteingebäude – das Gehöft der Hempstocks.

Obwohl der Weg hier immer schon geendet hatte, war ich doch überrascht. Weiter hätte ich nicht fahren können. Ich parkte den Wagen vor dem Haus. Etwas Bestimmtes hatte ich nicht vor. Ich fragte mich, ob hier nach all den Jahren noch jemand wohnte, oder, genauer gesagt, ob die Hempstocks noch hier wohnten. Das war eher unwahrscheinlich, allerdings waren die Hempstocks immer für eine Überraschung gut gewesen.

Als ich ausstieg, roch es durchdringend nach Kuhmist. Ich ging vorsichtig über den kleinen Hof zur Haustür hinüber, suchte vergebens nach einer Türklingel und klopfte dann. Die Tür war nicht richtig ins Schloss gedrückt worden und schwang langsam auf.

Hier war ich doch schon einmal gewesen, oder, vor langer Zeit? Eigentlich war ich mir sicher. Kindheitserinnerungen liegen manchmal unter den Dingen verborgen, die später passiert sind, wie Spielzeug, das vergessen auf dem Boden eines Kleiderschranks liegt, aber nie ganz verloren ist. Ich stand in der Diele und rief: »Hallo? Irgendjemand zu Hause?«

Ich hörte nichts. Es roch nach frisch gebackenem Brot und Möbelwachs und altem Holz. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Ich wollte gerade wieder gehen, als eine ältere Frau auf den Hausflur trat, in der Hand ein weißes Staubtuch. Ihre grauen Haare trug sie lang.

»Mrs. Hempstock?«, fragte ich.

Sie legte den Kopf leicht schräg und musterte mich. »Junger Mann, von irgendwoher kenne ich Sie«, sagte sie. Ich bin kein junger Mann. Schon lange nicht mehr. »Ich kenne Sie, aber in meinem Alter geht so manches durcheinander. Wer genau sind Sie?«

»Ich glaube, ich muss so sieben oder acht gewesen sein, als ich das letzte Mal hier war.«

Da lächelte sie. »Sie waren mit Lettie befreundet? Und haben oben an der Landstraße gewohnt?«

»Sie haben mir Milch zu trinken gegeben. Noch warm, von den Kühen.« Da wurde mir bewusst, wie viele Jahre vergangen waren, und ich sagte: »Nein, das waren nicht Sie, das muss Ihre Mutter gewesen sein. Tut mir leid.« Während wir altern, werden wir zu unseren Eltern; wenn man lange genug lebt, sieht man die Gesichter seiner Jugend wieder. Ich erinnerte mich an Mrs. Hempstock, Letties Mutter, als eine stämmige Frau. Diese Frau war dürr und zierlich. Sie sah aus wie ihre Mutter, die Frau, die ich als »die alte Mrs. Hempstock« gekannt hatte.

Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Gesicht meines Vaters, nicht meines, und dann fällt mir ein, wie er manchmal seinem Spiegelbild zugelächelt hatte, bevor er aus dem Haus gegangen war. »Sieht gut aus«, hatte er dann beifällig gesagt. »Sieht gut aus.«

»Möchten Sie Lettie besuchen?«, fragte Mrs. Hempstock.

»Ist sie hier?« Damit hatte ich nicht gerechnet. Sie war doch bestimmt irgendwohin ausgewandert. Nach Amerika vielleicht?

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich wollte gerade Wasser aufsetzen. Möchten Sie eine Tasse Tee?«

Ich zögerte. Dann bat ich sie, mir, wenn es ihr nichts ausmache, den Weg zum Ententeich zu beschreiben.

»Ententeich?«

Ich wusste, dass Lettie einen seltsamen Namen dafür gehabt hatte. Und er fiel mir auch wieder ein. »Sie hat ihn ›das Meer‹ genannt. Irgendwas in der Art.«

Die alte Frau legte das Tuch auf die Kommode. »Das Wasser aus dem Meer kann man nicht trinken. Weil es zu salzig ist, hab ich recht? Das wäre, als würde man Blut trinken. Sie wissen nicht mehr, wie man dort hinkommt? Um das Haus herum, und dann den Pfad entlang.«

Hätte mich jemand noch vor einer Stunde gefragt, hätte ich gesagt, ich wüsste nicht mehr, wie man dort hinkommt. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht einmal mehr an Lettie Hempstocks Namen erinnert. Aber wie ich da im Hausflur stand, fiel mir alles wieder ein. Erinnerungen lauerten hinter jeder Ecke, geradezu verlockend. Hätte mir jemand gesagt, ich wäre wieder sieben Jahre alt, hätte ich ihm vielleicht einen Moment lang geglaubt.

»Vielen Dank.«

Ich ging wieder auf den Hof hinaus, vorbei am Hühnerstall und an der alten Scheune. Während ich an den Feldern entlangschlenderte, fiel mir ein, wo ich mich befand und was als Nächstes kommen würde, und...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2014
Übersetzer Hannes Riffel
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel The Ocean at the end of the lane
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Abenteuer • American Gods • Besonders • Bücher • England / Großbritannien • fantastisch • Fantastischer Roman • Fantasy • Fiktion • Freundschaft • Gaiman • graveyard book • Graveyard Buch • Harry Potter • Hexen • Hexenringe • interessant • Legenden • Magie • magische Katzen • Märchen • Mythen • Mythologie • neal gaiman • Neil Gaiman • Phantastik • Phantastisch • Poesie • poetisch • Roman • Romane • Rowling • Sagen • Sonstige Belletristik • Sonstige Belletristik; 20. - 21. Jahrhundert; England / Großbritannien; Fantastischer Roman • Terry Pratchett • Zauber
ISBN-10 3-8387-5832-3 / 3838758323
ISBN-13 978-3-8387-5832-9 / 9783838758329
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4 Bezaubernd und überraschend

von , am 29.11.2016

Als ich die ersten Seiten las, wusste ich nicht wirklich, was mich bei dieser Geschichte erwartete. Der Anfang war auch ein wenig lahm für meinen Geschmack. Zum Glück habe ich es weitergelesen und wurde dafür belohnt.
Eine wirklich fantastische Geschichte, die fasziniert und bezaubert.
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