Von Männern, die keine Frauen haben (eBook)

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2014 | 1. Auflage
256 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8835-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von Männern, die keine Frauen haben -  Haruki Murakami
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Sieben Erzählungen - eine Welt voller Geschichten! >Von Männern, die keine Frauen haben< versammelt sieben Erzählungen Murakamis - »long short stories«, die wohl zum Zartesten und Anrührendsten zählen, das je von ihm zu lesen war. Und doch sind sie typisch Murakami, denn fast immer geht es darin um versehrte, einsame Männer. Männer, denen etwas ganz Entscheidendes fehlt ... Mit >Von Männern, die keine Frauen haben< wendet sich Japans wichtigster Autor wieder der kürzeren Form zu. Enthält die Kurzgeschichte >Drive my Car<, auf der die gleichnamige Verfilmung von Ry?suke Hamaguchi basiert, die als >Bester internationaler Film< bei den Oscars 2022 ausgezeichnet wurde. Dieser Band enthält die Erzählungen: >Drive my Car< >Yesterday< >Das eigenständige Organ< >Scheherazade< >Kinos Bar< >Samsa in Love< >Von Männern, die keine Frauen haben<

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).

YESTERDAY

Der Einzige, der den Beatles-Song »Yesterday« jemals mit einem japanischen Text (dazu noch im Kansai-Dialekt) versehen hat, war – soweit ich weiß – ein Typ namens Kitaru. Er pflegte ihn in der Badewanne zu schmettern.

 

»Das Gestern / Das Vorgestern von morgen ist / Und weil ja morgen vorgestern ist …«

 

So fing er an, glaube ich, aber das ist alles schon so lange her, und ich bin mir nicht ganz sicher. Jedenfalls war sein Text irgendein Kauderwelsch, das von vorne bis hinten keinen Sinn ergab und keinerlei Ähnlichkeit mit dem Original hatte. Die vertraute melancholische Melodie und der unbeschwerte – vielleicht sollte man ihn »unpathetisch« nennen – Klang des Kansai-Dialekts ergaben eine ganz eigene Mischung, die sich kühn über jede Zweckmäßigkeit hinwegsetzte. Zumindest klang es in meinen Ohren so. Man konnte darüber lachen und auch eine verborgene Botschaft aus den Worten herauslesen. Aber damals lauschte ich nur schicksalsergeben.

 

Kitaru sprach, soweit ich es beurteilen konnte, perfekt Kansai-ben, war aber in Denenchofu im Tokioter Bezirk Ota geboren und aufgewachsen. Ich selbst stamme aus Kansai, spreche aber vollkommenes Hochjapanisch (wie man es in Tokio spricht). Im Nachhinein betrachtet waren wir schon ein recht seltsames Paar.

Ich lernte ihn kennen, als wir beide in einem Café am Haupteingang der Waseda-Universität jobbten. Ich arbeitete in der Küche, und Kitaru war Kellner. Wenn wenig zu tun war, unterhielten wir uns. Beide waren wir zwanzig, und unsere Geburtstage lagen nur eine Woche auseinander.

»Kitaru ist ein seltener Name«, sagte ich.

»Ja, ziemlich selten«, erwiderte er.

»In der Baseballmannschaft von Lotte gibt es einen Werfer, der so heißt.«

»Ach ja, der. Wir sind nicht verwandt. Aber bei einem so seltenen Namen könnte es doch trotzdem sein, dass es da irgendwo eine Verbindung gibt, was?«

Damals studierte ich im zweiten Jahr Literatur an der Waseda. Kitaru war durch die Aufnahmeprüfung gefallen und bereitete sich auf seinen nächsten Versuch vor. Er war schon zweimal durchgefallen, aber er lernte auch bemerkenswert wenig. In seiner Freizeit las er so gut wie nur Bücher, die nichts mit der Aufnahmeprüfung zu tun hatten. Eine Jimi-Hendrix-Biografie, ein Buch über Strategien beim Shogi oder Die Entstehung des Universums und solche Sachen. Er erzählte mir, dass er vom Haus seiner Eltern in Ota pendelte.

»Deine Eltern wohnen in Ota?«, fragte ich. »Ich dachte immer, du wärst aus Kansai.«

»Ach was, ich bin in Denenchofu geboren und aufgewachsen.«

Das zu hören verblüffte mich nicht wenig. »Und warum sprichst du dann Kansai-ben?«, fragte ich.

»Hab ich später gelernt. Einfach so.«

»Wie – ›später gelernt‹?«

»Ich habe eben Kansai-ben gelernt wie ein Wilder. Verben, Substantive, den Akzent, alles. Im Prinzip genau wie man Englisch oder Französisch lernt, ja? Ich bin sogar mehrmals zu Sprachaufenthalten in Kansai gewesen.«

Ich war beeindruckt. Ich hörte zum ersten Mal, dass ein Erwachsener den Kansai-Dialekt lernte, wie andere Englisch oder Französisch. Wunder der Großstadt! Ich kam mir vor wie Sanshiro, der Held in Natsume Sosekis Roman, der zum ersten Mal aus seinem verschlafenen Nest nach Tokio kommt.

»Als Kind war ich ein großer Anhänger der Hanshin Tigers, ja? Ich sah mir jedes Spiel an, wenn es in Tokio war, aber obwohl ich mit meinem Streifen-Trikot in der Fankurve saß, wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Weil ich ja Tokio-Dialekt sprach. Ich kam gar nicht rein in die Fangemeinde, ja? Ich muss Kansai-ben lernen, dachte ich. Und ich büffelte, dass mir das Blut aus der Birne spritzte.«

»Das war dein einziger Beweggrund?«, fragte ich verblüfft.

»Ja, klar. Für mich waren die Hanshin Tigers doch alles. Seitdem spreche ich immer und überall Kansai-ben, auch zu Hause und in der Schule. Sogar im Schlaf, ja?«, sagte Kitaru. »Was meinst du, mein Kansai ist ziemlich perfekt, was?«

»Auf jeden Fall. Ich hätte geschworen, du bist aus Kansai«, sagte ich. »Allerdings sprichst du kein Hanshin-Kansai, sondern eher, als wärst du aus dem tiefsten Osaka.«

»Ich weiß. Ich habe in den Sommerferien bei einer Gastfamilie in Osaka im Stadtteil Shitenoji gelebt. Das war klasse dort. Man konnte zu Fuß in den Zoo, ja?«

»Bei einer Gastfamilie.« Wieder war ich tief beeindruckt.

»Hätte ich so viel für die Aufnahmeprüfung gelernt wie für Kansai-ben, wäre ich bestimmt nicht zweimal durchgefallen, was?«, sagte Kitaru.

Da war ich ganz seiner Meinung. Dass er sich selbst gern ein wenig herabsetzte, war übrigens auch typisch Kansai.

»Und du? Woher kommst du?«

»Aus der Umgebung von Kobe«, sagte ich.

»Und woher da genau?«

»Aus Ashiya.«

»Wie vornehm. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Ich erklärte es ihm. Sobald ich sagte, ich käme aus Ashiya, glaubten die meisten, meine Familie sei reich. Aber in Ashiya gab es solche und solche. Meine Eltern waren nicht wohlhabend. Mein Vater arbeitete in einem Pharmaunternehmen, und meine Mutter war Bibliothekarin. Unser Haus war klein, und wir fuhren einen cremefarbenen Toyota Corolla. Also sagte ich immer, ich käme aus der Gegend um Kobe, um Vorurteile zu vermeiden.

»Ach was? Dann ist das bei uns beiden ja fast das Gleiche, ja?«, sagte Kitaru. »Bei Denenchofu denkt man auch Wunder was, aber wir wohnen dort in der schäbigsten Ecke. Und unser Haus ist genauso schäbig. Du musst mal kommen, ja? Du wirst denken: Was? Das soll Denenchofu sein? Aber aus so was soll man sich nichts machen. Ist ja nur eine Adresse. Ich mache genau das Gegenteil, stoße die Leute gleich mit der Nase drauf. Ich bin aus Denenchofu – und was sagt ihr jetzt?«

Wieder war ich beeindruckt. Und wir wurden Freunde.

 

Es gibt mehrere Gründe, warum ich, als ich nach Tokio kam, meinen Heimatdialekt vollständig ablegte. Bis ich die Oberschule verließ, hatte ich nur Kansai-ben gesprochen. Aber in Tokio stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich das neue Idiom innerhalb nur eines Monats flüssig und natürlich beherrschte. Vielleicht besaß ich (ohne dass es mir bewusst war) von Natur aus den Charakter eines Chamäleons. Oder ich hatte ein besseres Sprachgefühl als andere Menschen. Jedenfalls hätte niemand jetzt noch geglaubt, dass ich aus Kansai stammte.

Der Hauptgrund für meinen Sprachwandel war der Wunsch, ein völlig anderer Mensch zu werden. Als ich allein im Shinkansen nach Tokio saß, um mein Studium zu beginnen, ließ ich die bisherigen achtzehn Jahre meines Lebens Revue passieren und gelangte zu der Erkenntnis, dass der größte Teil dessen, was sich bisher darin ereignet hatte, wahrhaft peinlich war. Und ich übertreibe nicht. Ich wollte mich gar nicht daran erinnern, so erbärmlich war es. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unerträglicher wurde es mir. Natürlich hatte ich auch ein paar schöne Erinnerungen. Einige heitere Tage hatte ich schon erlebt, das gebe ich zu. Aber zahlenmäßig überwogen die beschämenden und bedrückenden Erlebnisse bei Weitem. Mein bisheriges Leben war so was von banal und jämmerlich gewesen. Mittelklassemüll. Am liebsten hätte ich alles gebündelt in eine große Schublade gesteckt. Oder angezündet und zu Rauch verbrannt (keine Ahnung, was für eine Art von Rauch dabei herausgekommen wäre). Jedenfalls wollte ich reinen Tisch machen und als ein neuer Mensch in Tokio ein neues Leben anfangen. Ich wollte die neuen Möglichkeiten ausprobieren, die ich hatte. Mich des Kansai-ben zu entledigen und mir das neue Idiom anzueignen war ein praktisches (und zugleich symbolisches) Mittel dazu. Denn schließlich formt die Sprache, die wir sprechen, den Menschen, der uns ausmacht. Zumindest glaubte ich das mit achtzehn.

Das alles erzählte ich auch Kitaru.

»Du sagst ›beschämend‹. Was war denn das Beschämende?«, fragte er.

»Einfach alles.«

»Ist es mit deinen Eltern nicht gut gelaufen?«

»Nein, das ging schon«, sagte ich. »Trotzdem war das alles peinlich. Allein mit ihnen zusammen zu sein war peinlich.«

»Du bist ein komischer Vogel, weißt du?«, sagte Kitaru. »Was ist peinlich daran, mit seinen Eltern zusammen zu sein? Bei uns ist es immer ganz lustig.«

Ich schwieg. Ich konnte es nicht erklären. Auch die Frage, was so schlimm daran war, einen cremefarbenen Toyota Corolla zu fahren, konnte ich nicht beantworten. Unsere Straße war nicht breit, und meine Eltern hatten kein Interesse daran, aus Prestigegründen Geld auszugeben.

»Meine Alten meckern den ganzen Tag rum, weil ich nicht lerne. Das ist schon deprimierend, aber was soll man machen? Das ist ja ihr Beruf, ja? Man muss darüber hinwegsehen, so gut es geht.«

»Du nimmst alles ziemlich leicht, was?«, sagte ich beeindruckt.

»Hast du eine Freundin?«, fragte Kitaru.

»Im Moment nicht.«

»Hattest du eine?«

»Ja, bis vor Kurzem.«

»Ihr habt Schluss gemacht?«

»Ja«, sagte ich.

»Warum denn?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich will nicht darüber sprechen.«

»War sie auch aus Ashiya?«

»Nein, sie wohnte in Shukugawa. Aber das ist nicht weit.«

»Hat sie dich rangelassen? So ganz, meine ich?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, hat sie nicht.«

»Habt ihr deshalb Schluss gemacht?«

Ich überlegte. »Ja, auch.«

»Aber ihr wart kurz davor?«

»Ja, schon.«

»Wie weit seid ihr denn gegangen?«

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte ich.

»Ist das eine von den Peinlichkeiten, von denen du geredet hast?«

»Ja«, sagte ich....

Erscheint lt. Verlag 4.10.2014
Übersetzer Ursula Gräfe
Sprache deutsch
Original-Titel Onna no Inai Otokotachi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1Q84 • Als ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah • bester internationaler Film 2022 • Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki • drive my car • drive my car film • Erzählungen • Erzählungen Murakami • Gegenwartsliteratur • Haruki Murakami • Japan • Japan Bestseller • Kurzgeschichten & Anthologien • Kurzgeschichten & Anthologien • Literaturverfilmungen • murakami-verfilmung • oscars 2022 gewinner • Oscarverleihung 2022 • ryusuke hamaguchi • Stories • Von Beruf Schriftsteller • WELT Literaturpreis
ISBN-10 3-8321-8835-5 / 3832188355
ISBN-13 978-3-8321-8835-1 / 9783832188351
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