Der Wald der träumenden Geschichten (eBook)

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2014 | 1. Auflage
544 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403157-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Wald der träumenden Geschichten -  Malcolm McNeill
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Ein dunkles, märchenhaftes Fantasy-Abenteuer mit philosophischem Tiefgang - für alle Fans von Michael Ende und Carlos Ruiz Zafón Wo Max herkommt und wer er ist, können ihm nicht einmal seine Adoptiveltern sagen. Doch das ist nicht das einzige Rätsel im Leben des kleinen Waisenjungen: Er besitze die Gabe, Menschen verschwinden zu lassen, erfährt er von zwei unheimlichen Fremden, dem eigenbrötlerischen Wissenschaftler Boris und der phantastischen Mrs Jeffers. Ob das Verschwinden seiner Eltern mit seinem Fluch zu tun hat? Die Lösung beider Rätsel liegt tief verborgen im »Wald des Anfangs«, dem Ursprung aller Geschichten bevölkert mit phantastischen und magischen Wesen, die Max bei seiner Suche helfen und ihn begleiten. Eine hymnische Liebeserklärung an die Macht der Phantasie und das Lesen

Malcolm McNeill, geboren 1976 in Newcastle, England, wuchs in Glasgow und Edinburgh auf. Nach seinem Literaturwissenschafts- und Schauspielstudium trug er Post in London aus, putzte Toiletten in Berlin und arbeitete als Englischlehrer in der ganzen Welt, zuletzt in Vietnam. ?Der Wald der träumenden Geschichten? ist sein internationales Debüt.Literaturpreise:?Der Wald der träumenden Geschichten?:Die Besten 7 im September

Malcolm McNeill, geboren 1976 in Newcastle, England, wuchs in Glasgow und Edinburgh auf. Nach seinem Literaturwissenschafts- und Schauspielstudium trug er Post in London aus, putzte Toiletten in Berlin und arbeitete als Englischlehrer in der ganzen Welt, zuletzt in Vietnam. ›Der Wald der träumenden Geschichten‹ ist sein internationales Debüt. Literaturpreise: ›Der Wald der träumenden Geschichten‹: Die Besten 7 im September

2


Der Kobold aus der Waisenanstalt


Der kleine Junge, mit dem Das Verschwinden begonnen hatte, war inzwischen zwei Jahre alt. Er lebte in London bei einem Mann namens Forbes, der im Schlachthof am Fleischhäcksler arbeitete, und einer Frau namens Alice, die früher Grußkarten entworfen hatte.

Die beiden wussten nicht, dass der Junge Das Verschwinden verursacht hatte, und auch er selbst ahnte nichts davon. Was jedoch nicht heißen soll, dass er nicht immer wieder Misstrauen erregt hätte – wer ihn zu Gesicht bekam, misstraute ihm unwillkürlich. In der Anstalt für verwaiste und ausgesetzte Kinder im Stadtteil Surbiton, wo er zuerst gelandet war, hatte man ihm daher auch sofort alle möglichen erstaunlichen Dinge unterstellt. Bereits am Tag seines Eintreffens in der Waisenanstalt sorgte der Kleine für Aufsehen. Normalerweise gab es zu jedem Neuzugang Unterlagen – Polizeiakten oder Berichte von Sozialarbeitern –, doch dieses Kind traf ohne jegliche Information, ohne jegliche Vorgeschichte ein.

Man hatte den Jungen in einem Bücherregal eines Antiquariats gefunden, splitterfasernackt und ohne jede Beigabe. Da Neugeborene für gewöhnlich nicht auf Bücherregale klettern, nahm man an, dass jemand ihn einfach dort zurückgelassen hatte.

Auch die körperliche Beschaffenheit des Neuzugangs gab den Schwestern im Waisenhaus Rätsel auf. Von Anfang an bezeichneten sie das Kind nur als »Es« und konnten es kaum erwarten, bis die vorgeschriebenen drei Monate vorbei wären und man es ins Heim auf dem Land verbringen würde. Dieses Kind war nicht nur einfach hässlich, sondern unheimlich hässlich. Statt dicker weicher Ärmchen und Beinchen hatte es dünne, harte Glieder, die eher dazu geeignet schienen, zu springen und zu graben als von Großeltern gehätschelt zu werden. Und es hatte diese sonderbare Art, einen anzustarren, mit einem enorm durchdringenden Blick, der so erwachsen wirkte, als wisse es Dinge, die es noch gar nicht wissen konnte; die Schwestern warteten beinahe darauf, dass es plötzlich Shakespeare rezitieren oder das politische Tagesgeschehen kommentieren würde.

Sein sonderbarstes Merkmal entdeckte man jedoch, nachdem das Wesen bereits in den ersten Stunden seiner Anwesenheit im Waisenhaus das Ohr einer Schwester übel zugerichtet hatte: Obwohl das Kind höchstens ein paar Tage alt sein konnte, hatte es schon zehn spitze kleine Zähne, weiß wie Perlen.

Etwas Derartiges hatte noch keine der Schwestern jemals zu Gesicht bekommen. Mit Ausnahme einer alten Deutschen namens Frau Winkler, die vor dem Krieg aus dem Bayerischen Wald nach London gekommen war. Als sie das Baby zum ersten Mal sah, musste sie sofort an ein Bild aus einem Märchenbuch ihrer Kindheit denken: ein verschneites Bauernhaus im Mondlicht, und neben dem Schornstein auf dem Dach hockte ein Kobold und schnüffelte den Düften nach, die vom Herd aufstiegen.

Er will den Stollen stehlen, stand unter dem Bild.

Als Frau Winkler sich zum ersten Mal über das Bettchen des Neuzugangs beugte, sah sie sofort dieses Bild vor sich, an das sie siebzig Jahre lang nicht gedacht hatte. War dieser Kobold nun also aus dem Buch entwischt, um sie am Ende ihrer Tage heimzusuchen? Den würde sie genau im Auge behalten!

Jeden Nachmittag kamen Besucher in die Waisenanstalt, um die Kinder zu begutachten und sich eines auszusuchen. Sobald die künftigen Eltern den riesigen Schlafsaal betraten, rollte sich der Kobold auf den Bauch und starrte die Ankommenden mit seinen kohlschwarzen Augen durchdringend an. Die Paare merkten davon nichts und wanderten beglückt durch den Raum. Immer wieder bückten sie sich, um alberne Laute für die glucksenden, zappelnden Babys in den Bettchen von sich zu geben.

Früher oder später zog es sie dann immer auch in die Ecke des Kobolds – wohl weil sie spürten, dass dort etwas hauste wie in einer Höhle. Zu diesem Zeitpunkt war der Kobold immer schon ganz unruhig, hatte sich aufgesetzt und hielt seinen seltsam geformten Kopf ganz still. Frau Winkler kam es vor, als ahne er als Einziges von all den Babys, dass diese Riesen möglicherweise seine Eltern werden könnten, dass er vielleicht bald ein richtiges Zuhause haben würde. Doch wenn die Paare sich näherten und der Kobold lächelte und seine Zähne zeigte, wandten sich alle schaudernd ab. Manche schrien sogar entsetzt auf.

Ein paar Minuten später kam dann stets eine Schwester in den Saal, nahm eines der anderen Babys mit und warf dem Wesen einen strafenden Blick zu.

Was hast du erwartet?

Wer sollte DICH schon mitnehmen wollen?

Und der Kobold rollte sich zur Wand und drehte sich lange Zeit nicht mehr um.

 

 

Der Heißluftballon und die Schimmelecke


Die Wand neben dem Gitterbett des Kobolds war nicht kahl wie alle anderen Wände in der Waisenanstalt, sondern mit einem Gemälde verziert, das aus einer Zeit stammte, als die Waisenanstalt noch ein Irrenhaus gewesen war. Die Insassen selbst hatten dieses Bild gemalt: Unter Anweisung eines Unterhaltungskünstlers namens Boppo der Farbclown hatte man ihnen gestattet, ihren Gefühlen an den Wänden des Speisesaals Ausdruck zu geben. Inzwischen wurde der Raum als Schlafsaal genutzt, und Boppo der Farbclown lag längst unter der Erde, doch das Meisterwerk hatte überlebt.

Hätten die verwaisten Babys dieses Wandgemälde als Darstellung der realen Welt betrachtet, die sie meist noch nie zu Gesicht bekommen hatten, so hätten sie wohl angenommen, dass die Alpen, das Taj Mahal, eine städtische Hauptstraße und der Dschungel sich in direkter Nähe befänden und dass die Erde ausschließlich von bockigen, wiehernden Eseln und rotgesichtigen Polizisten bevölkert wäre, die klobige schwarze Stiefel trugen und den Eseln nachrannten. Die meisten der zukünftigen Eltern fanden das Gemälde erheiternd, doch die sensibleren unter ihnen konnten nicht umhin zu denken, dass die Esel auf dem Bild zu verstört und die Polizisten zu bedrohlich aussahen. Genau wie der Kobold richteten jene Menschen den Blick auf ein winziges Detail, geschaffen von einem Patienten mit einer alten Seele, der vielleicht auf einer Leiter gestanden hatte, während die anderen unten am Boden mit Farbe herumklecksten, und der seine unendliche Sehnsucht und Traurigkeit in einem Bild von herzzerreißender Schönheit zum Ausdruck gebracht hatte: einer Montgolfière, die am oberen Rand des Gemäldes und damit über der gemalten Welt schwebte, als wollte sie den blauen Himmel hinter sich lassen und unbekannte Gefilde erreichen – jene Gefilde, zu denen jeder Heißluftballon strebt und die er zweifellos auch erreichen würde, wären da nicht die Schwerkraft und die Gefahren des Weltalls.

Stundenlang starrte der Kobold auf diesen Ballon und die zwei nur undeutlich erkennbaren Passagiere. Sie wandten sich niemals von ihm ab wie die Besucherpaare, schauten ihn auch nicht böse an wie die Schwestern und hielten ihn nicht an den Knöcheln fest, um ihm grob den Hintern abzuwischen. Nein, diese beiden Gestalten blickten stets zu ihm und lächelten und winkten zum Gruß, nicht zum Abschied.

Bald hatte der Kobold jegliches Interesse an den Besuchereltern verloren und drehte sich nicht einmal mehr um, wenn sie nachmittags den Saal betraten. Stattdessen starrte er nur sehnsüchtig und hoffnungsvoll auf den Heißluftballon und die lächelnden Gesichter.

Zunehmend jedoch auch angstvoll – denn der Ballon näherte sich unaufhaltsam der Schimmelecke.

Das Sonnenlicht, das durch die hohen Schiebefenster des alten Gebäudes fiel, erreichte diese finstere Ecke nie. In ihr hatte sich der feuchte Atem der Babys gesammelt und in Schimmel verwandelt – in dunkelgrünen, feuchten Schimmel. Etwas an dieser Ecke war ganz und gar grauenhaft. Von Tag zu Tag breitete sie sich weiter aus und näherte sich dem Ballon. Der kleine Kobold beobachtete diesen Vorgang mit weit aufgerissenen Augen und bangem Blick.

Einzig Frau Winkler bemerkte die Ängste des Kobolds, und sie fragte sich, ob diese düstere Ecke womöglich ein Loch war, durch das der Kobold nächtens entfloh. Wenn Frau Winkler alleine Nachtdienst hatte, trat sie oft an sein Bett und starrte ihn argwöhnisch an. »Wer bist du?«, flüsterte sie dann. »Woher kommst du?«

Diese Fragen waren die einzigen Worte, die man während seines Aufenthalts in der Waisenanstalt an den Kobold richtete. Für ihn gab es keine liebevollen Laute, keine Koseworte, keine Gutenachtgeschichten. Nur das immer Gleiche: »Wer bist du?« und »Woher kommst du?« Wieder und wieder, abertausendmal und mitten in tiefster Nacht, wenn der Schlaf der Seele Risse zufügt, durch die unsere Träume entweichen können; durch die sich aber auch Eindrücke einschleichen, die hernach zu blinden Passagieren unseres Geistes werden.

Wer kann schon wissen, wie diese Fragen in jenen nachgiebigen, verletzlichen Momenten den werdenden Geist des Kobolds beeinflussten. Vielleicht wurde ja unser aller Leben geprägt vom Raunen einer verschrobenen alten Frau, die sich nächtens über unser Bett beugte …

 

 

Gehalten, gehakt, gewählt


Die nächsten Worte, die jemand zu dem Kobold sagte, lauteten: »Los geht’s! Zeit zum Aufbruch! Hoch mit dir!« Diese Worte stammten nicht von Frau Winkler, sondern von Mr Stubbings, der das Baby ins Heim auf dem Land befördern sollte. Allerdings flüsterte Mr Stubbings nicht, sondern sprach in geschäftsmäßigem Tonfall. Dabei klackerte er ungeduldig mit seinem Kugelschreiber.

Zwei Monate und...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2014
Übersetzer Sibylle Schmidt
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Adoptiveltern • Bücher • Büchern • Connolly • Fantasy • Geschichten • Halloween • Identität • Identitätssuche • Jugendbücher ab 10 • Kinderbuch • Kobold • Labyrinth • London • Magie • Max • Moers • Schauspielstudium • Schloss • Stadt • träumenden • Verschwinden • Waise • Wald • Zamonien • Zwerg
ISBN-10 3-10-403157-6 / 3104031576
ISBN-13 978-3-10-403157-6 / 9783104031576
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3 Durchwachsen...

von , am 03.09.2015

Am Anfang bin ich überhaupt nicht in die Story richtig reingekommen. Das lag daran, dass im ersten Drittel nicht wirklich etwas passierte und an dem ganz und gar unsympathischen Max. Ich war wirklich kurz davor es nicht weiterzulesen.
Aber als Max von unserer Welt in die andere wechselte, wurde auch die Geschichte viel besser und die Figuren erhielten endlich mehr Tiefgang. Und tatsächlich, dann konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen, bis ich es komplett durch hatte.
Insgesamt ist das Ganze sehr feinsinnig und tiefgründig und auch interessant und spannend (nach dem ersten Drittel ;)
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