Honeydew (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1075-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Honeydew -  Edith Pearlman
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Eine Schuldirektorin muss sich nicht nur um ein magersüchtiges Mädchen kümmern, sondern auch die Affäre mit deren Vater geheimhalten. Da sie schwanger ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis man der alleinstehenden Frau Fragen stellt, doch am Ende fügt sich alles auf eine etwas unkonventionelle, aber für alle Seiten irgendwie gute Art. Ein Au-pair-Mädchen bei einer New Yorker Akademikerfamilie findet eine Reihe verstörender Zeichnungen von entstellten Kindern, die einem überraschenden Zweck dienen. Zwei Cousinen unternehmen eine Kreuzfahrt und machen seltsame Beobachtungen, deren Höhepunkt die Entdeckung der Parallelgesellschaft des taubstummen Schiffspersonals ist. Zwanzig Erzählungen von einer ungekrönten Königin des Genres. Edith Pearlman ist eine genaue Beobachterin menschlicher Beziehungen und eine Meisterin darin, komplexe Gefühle und uneindeutige Situationen zu schildern. Ihre Sprache ist von zurückhaltender Virtuosität, ihre Geschichten sind von jener schlichten Größe, wie sie Klassikern zu eigen ist. Eine literarische Entdeckung.

Edith Pearlman, Jahrgang 1936, hat bisher vier Sammlungen von Kurzgeschichten veröffentlicht, die jüngste davon, Binocular Vision (2011), hat den PEN/Malamud Award und den National Book Critics Award gewonnen und war auf der Shortlist für den National Book Award. Ihre Kurzgeschichten, Essays und Reisereportagen erschienen u.a. in Best American Short Stories, The O. Henry Prize Collection, The Pushcart Prize Collection, The Atlantic Monthly und der New York Times. Sie lebt in Brookline, Massachusetts.

Edith Pearlman, Jahrgang 1936, hat bisher vier Sammlungen von Kurzgeschichten veröffentlicht, die jüngste davon, Binocular Vision (2011), hat den PEN/Malamud Award und den National Book Critics Award gewonnen und war auf der Shortlist für den National Book Award. Ihre Kurzgeschichten, Essays und Reisereportagen erschienen u.a. in Best American Short Stories, The O. Henry Prize Collection, The Pushcart Prize Collection, The Atlantic Monthly und der New York Times. Sie lebt in Brookline, Massachusetts.

Zartfuß


ZARTFUSS IST EIN FUSSPFLEGESALON auf der Main Street nahe der Channing Street. Zwei verstellbare Sessel – meistens war nur einer in Benutzung – standen so, dass man durch das Schaufenster einen Blick auf die Straße hatte. Paiges Kunden genossen auf diese Weise eine Art öffentlicher Privatsphäre – jeder konnte sie sehen, aber nur Paige konnte sie hören. Paige war eine ausgezeichnete Zuhörerin – selten machte sie Bemerkungen zu dem Gehörten, nie wiederholte sie etwas.

Sie war Witwe, neunundvierzig Jahre alt und kinderlos. Sie wohnte hinter und über dem Laden. Jeden Samstagabend spielte sie mit fünf anderen Frauen Poker. Die Frauen nannten sich beim Nachnamen und rauchten Zigarren. Paige hatte ihren Mann, einen fähigen Mechaniker, an den Krieg verloren. Carl war für den Krieg gewesen, mehr oder weniger, aber in erster Linie hatte er sich gemeldet, um auf Kosten des Militärs eine Weiterbildung als Mechaniker machen zu können. Sie war nicht damit einverstanden, dass er ihre gemeinsame Zukunft, ihr Glück aufs Spiel setzte … aber schließlich hatte sie ihre Einwände fallengelassen. Die Marines nahmen ihn trotz seines Alters. Und dann, am dritten Tag in der Wüste, fuhr der Panzer, in dem er saß, auf eine Mine. Sein Körper wurde in viele Stücke gerissen, und er selbst – so wie er als Mann war – wurde Paige entrissen.

Paiges Praxis expandierte. Sie war immer schon bei den Frauen der Professoren, aber auch bei Anwälten und Zahnärzten beliebt gewesen, die verstanden, dass ein Fußbad, von einer diskreten, auf einem Schemel sitzenden Kraft vorgenommen, zu einer Art weltlichen Beichte werden konnte. Jetzt, vielleicht wegen des jüngsten traurigen Ereignisses in ihrem Leben, suchten auch Buchhändler und Highschool-Lehrer und Krankenschwestern sie auf. Sie entdeckten, dass es leicht war, mit ihr zu reden. Ärzte schickten ihr Patienten – ältere Frauen, die zu ungelenkig waren, um sich selbst die Füße zu säubern und die Zehennägel zu schneiden. Auch ältere Männer, deren Gelenke so steif waren wie die ihrer Frauen.

In jenem Herbst – dem Herbst, in dem Bobby Farraday am College anfing, Kunstgeschichte zu unterrichten – kamen auch andere männliche Klienten, die nicht von ihren Ärzten geschickt worden waren. Ein emeritierter Professor für Physik war der Erste. Dann ein zweiter Professor, er war nicht emeritiert. Der Direktor der Highschool ließ sich in einem Moment des Übermuts die Zehennägel himbeerrosa lackieren und plauderte dabei die ganze Zeit.

Die Wohnung, die Bobby gemietet hatte, war ideal für jemanden, der frisch getrennt war und kein Interesse daran hatte, seine Lebensumstände zu ändern. Er hängte die Stiche, die ihm und nicht Renée gehörten, im Wohnzimmer und in dem schmalen Schlafzimmer mit Einzelbett auf. Die winzige Küche war gerade so groß, dass er und eine unsichtbare, dort heimische Maus hineinpassten. Die Zimmer und die Küche befanden sich im ersten Stock eines viktorianischen Hauses, und das Badezimmer füllte das ganze Turmgeschoss im zweiten aus. Das Haus stand in der Channing Street, ganz in der Nähe der Kreuzung mit der Main Street, und damit fast diagonal gegenüber von dem Fußpflegesalon. Am frühen Abend begegneten sich Bobby und Paige oft – auf dem Weg zum Gemüsemarkt, beim Zeitungs- und Zigarettenladen, in der Buchhandlung. Manchmal sprachen sie miteinander, wie Nachbarn das tun.

Insgeheim betrachtete er sich nicht nur als ihr Nachbar. Eher war er ihr unsichtbarer Hausgenosse, so wie die Maus seiner war. Sein hohes Badezimmer hatte neben der Toilette ein breites, vorhangloses Fenster, von dem aus er in einem schrägen Winkel den Praxisraum und einen Teil von Paiges Wohnraum dahinter sehen konnte. Diesen Vorteil machte er sich zunutze. Manchmal stand er am Fenster und sah bei der Pediküre zu, aber meistens saß er auf dem Toilettendeckel, wie der Besucher einer Peepshow. Er sah gern zu, wenn die Kunden sich im Sessel entspannten, als würde die fast biblische Erfahrung sie in einen schaumigen Himmel transportieren, als wären sie einen Moment lang gestorben und konnten ihre Sünden als vergeben betrachten. Vielleicht waren sie aber auch einfach glücklich über die Möglichkeit, sich die Schuhe abzustreifen und ihrem Herzen Luft zu machen.

Er gab seinen Unterricht, zeigte Dias, empfing seine Studenten in den Sprechstunden. Er stellte fest, dass Unterrichten und die Studenten ihn ablenkten. Eine der blonden jungen Frauen erinnerte ihn an Renée – nach außen kenntnisreich, innerlich verunsichert. Aber selbst mit einer Studentin ins Kino zu gehen war verboten, und deshalb eilte er am Ende des Unterrichtstags nach Hause, um sich das unschuldige Schauspiel in der Main Street anzusehen.

Die Tage wurden kürzer. Paiges letzte Kunden kamen im matten Licht der Straßenlaternen und betraten den hell erleuchteten Salon. Eines Nachmittags sah Bobby den rotwangigen Chemieprofessor neben seiner Frau auf den Sesseln, als führen sie ins Kino. Paige schob ihren Schemel sacht zwischen ihnen hin und her.

Bobby in seinem Arbeitszimmer zog sich die Schuhe aus und dann die rechte Socke. Seit dem Unfall hatte er sich nicht mehr um seine Füße gekümmert. Aber jetzt – wie schauderhaft die flusigen Zehen mit den Hühneraugen, ein Bild des Jammers die eingerissenen Zehennägel. Kein Wunder, dass seine Socken Löcher hatten. Er zog die linke Socke aus und legte den linken Fuß auf das rechte Knie. Die Fersen waren von Rissen durchzogen, als könnte man daran die Zukunft ablesen. Barfuß erklomm er die Treppe zu seinem unbeleuchteten Turmgeschoss und sah aus dem Fenster. Paige, die über die Zehen des Chemieprofessors gebeugt war, bot ein Bild konzentrierter Arbeit, so wie Renée, wenn sie sich über ihre Akten beugte. Renée in New York hatte ihr Ziel unbeirrt verfolgt – sie wollte zum Partner gemacht werden; Bobby hingegen hatte Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit gezeigt, hatte sorglose Kritiken für kurzlebige Kunstzeitschriften geschrieben und sich für die Kunstgalerien, die er beriet, Zuschreibungen aus dem Ärmel geschüttelt. Ihre unterschiedlichen Einstellungen hatten zu Streit geführt.

Oft, wenn ihr letzter Kunde gegangen war, kam Paige aus dem Laden, setzte sich auf die breite Stufe und zündete sich eine dünne Zigarre an. Bobby saß auf der Toilette und las im Licht seiner Taschenlampe. Er schaltete die Taschenlampe aus und sah ihr beim Rauchen zu. Um Mitternacht ging sie ins Bett. Er auch.

So ging es eine Weile. Er überlegte, ob er sich ein Fernglas kaufen sollte, aber sie war kein Vogel. Er überlegte, ob er sein Opernglas rausholen sollte, aber sie war keine Sängerin. Er überlegte, ob er seine Lupe benutzen sollte, aber sie war auch kein Kunstwerk, und selbst wenn sie ein Gemälde gewesen wäre, hätte er aus der Entfernung den Pinselstrich nicht prüfen können. Nachdem der erste Schnee gefallen war, trug sie draußen einen Parka und eine Fellmütze. Eigentlich brauchte sie einen Pelzmantel, vielleicht einen Otterpelz, wie Renée, aber die Tierschützer unter den Studenten würden ihr das Leben schwermachen. Außerdem konnte sie sich wahrscheinlich keinen Pelzmantel leisten. Wie viel kriegte man für einen toten Marine ausgezahlt? Und selbst ein florierender Fußpflegesalon würde keinen großen Gewinn abwerfen. Notfalls konnte sie in der Apotheke arbeiten, vermutete er. Sie hatte Pharmazie studiert, das hatte sie ihm einmal erzählt, aber ihr gefiel diese Arbeit – sie war ihre eigene Chefin, und sie diente den Menschen unmittelbar.

Endlich befeuchtete der Frühling die Stadt. Blätter in kräftigen Farben statt pastellfarbener Knospen. Er zog eine persönliche Weiterbildung in Erwägung. Vielleicht würde er Veganer. Soll die Maus doch seinen Käse essen. »Und wie viel kostet es?«, sagte er eines Nachmittags unvermittelt. Sie waren sich im Naturkostladen begegnet, er hielt ein Glas mit Pflaumenmus in der Hand, das er hastig aus dem Regal genommen hatte, sie betrachtete prüfend eine Flasche.

»Das hier kostet einen Dollar pro Unze. Aber um die gewünschte Wirkung zu erzielen, muss man es mit …«

»Nicht das Schlangenöl. Eine Pediküre.«

Sie sah zu ihm auf. Ihre Augen in dem von zarten Fältchen durchzogenen Gesicht waren so blau wie der Veroneser Himmel. »Fünfzig Dollar. Zehn extra für Lackieren. Trinkgeld nicht erlaubt.«

»Oh. Kann ich eine bekommen?«

»Na klar.«

»Wann?«

»Freitag um acht.«

»Acht? Mein Kubismus-Seminar fängt um halb neun an.«

Sie lächelte. »Acht Uhr abends.«

»Oh … dann sehen wir uns?«

»Wir sehen uns«, bestätigte sie.

Am Freitagabend schrubbte er sich die Füße. Er zog sich saubere Socken an. Er griff nach einem Buch, das er gerade nicht las, Das spätrömische Reich.

Er setzte sich in den linken Sessel. Wenn er den Kopf zur Seite neigte und die Augen hob, konnte er das Fenster seines Badezimmers sehen, wo er das Licht angelassen hatte und so den Strom verschwendete, den seine Vermieterin bezahlte.

Während Paige eine längliche Wanne mit warmem Wasser füllte und einen kräftigen Spritzer einer weißen Substanz hinzufügte, zog er sich die Schuhe aus. Sie selbst streifte ihm die Socken ab und legte sie gefaltet auf den Tisch zwischen den Stühlen. Früher hatte Renée sie vom Fußboden aufgehoben und ihm die Zunge rausgestreckt.

»Weißen oder roten, oder lieber Tee?«, fragte Paige.

»… weißen.«

Sie ging in den hinteren Raum, eine Kühlschranktür wurde geöffnet und geschlossen. Sie stellte ein Glas Wein neben die Socken auf den Tisch. »Sie können...

Erscheint lt. Verlag 8.4.2015
Übersetzer Susanne Höbel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alice Munro • Erzählungen • Gegenwart • George Saunders • USA
ISBN-10 3-8437-1075-9 / 3843710759
ISBN-13 978-3-8437-1075-6 / 9783843710756
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