Wolfsherz (eBook)

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2015 | 1. Auflage
636 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-1712-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wolfsherz -  Wolfgang Hohlbein
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Es gibt ein Tal namens Wolfsherz, das auf keiner Karte verzeichnet ist, in dem nachts Wölfe heulen und das kein Mensch je betritt. Dorthin verirren sich Stefan und Rebecca, zwei Journalisten, die nach einem brisanten Interview auf der Flucht sind. Doch in dem Tal finden sie noch etwas anderes als Wölfe: Ein kleines Mädchen taucht auf, inmitten eines wilden Wolfsrudels. Rebecca will das Kind retten und sie schaffen es gemeinsam zu entkommen. Doch bald stellt sich heraus, dass das Mädchen kein normales Kind ist. Es wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit und ist umgeben von einer geheimnisvollen, wilden Aura - einer Aura gesteigerter Sinneswahrnehmung, in der etwas abgrundtief Böses liegt: das Gefühl der Gefahr, die mythische Furcht der Menschen vor dem Wolf.

Eine überraschende Umkehrung des Werwolfthemas, ein spannender Abenteuerroman und wieder ein Meisterwerk von Wolfgang Hohlbein.

Teil 2


Stefan betrachtete nachdenklich das halbe Dutzend Männer und Frauen, das vor ihm auf den billigen Plastikstühlen Platz genommen hatte, mit denen das Wartezimmer möbliert war. Auf ihren Gesichtern waren im Großen und Ganzen die gleichen Empfindungen abzulesen, die auch er spürte: Frustration, Nervosität, vielleicht eine Spur von Angst, aber zum allergrößten Teil Langeweile. Zwei oder drei dieser Gesichter kannte er; er kam jetzt seit zehn Tagen regelmäßig hierher, und er schien nicht der Einzige zu sein, der es vorzog, jeden Tag den Weg hier heraus in Kauf zu nehmen und zwei oder auch drei und, wenn er Pech hatte, mehr Stunden darauf zu warten, an die Reihe zu kommen, statt sich ein Bett hier im Krankenhaus zu nehmen und sich bei der morgendlichen Visite untersuchen zu lassen.

Manchmal fragte er sich, ob es ein Fehler war. Er verbrachte ohnehin den größten Teil seiner Zeit hier in der Klinik – entweder in diesem Warteraum, in einem der drei angeschlossenen Behandlungszimmer oder zwei Etagen tiefer an Beccis Bett –, und die wenigen Stunden, die er noch zu Hause zubrachte, reichten kaum aus, um den gewaltigen Berg an Arbeit zu erledigen, den er nicht hätte, wäre er einfach nicht greifbar.

Seine rechte Hand fuhr in einer unbewussten Geste über den linken Oberarm, während er den Blick hob und die rot leuchtende Digitalanzeige über der Tür ansah. Neunundzwanzig. Seine Nummer war die nächste, die an der Reihe war. Die Berührung tat weh, trotzdem fuhr er fort, mit den Fingerspitzen leicht über seinen Arm zu fahren, um den Muskel zu massieren. Obwohl die Wunde viel weniger tief war als die in seinem Bein, machte sie ihm erheblich mehr zu schaffen. Fast jede Bewegung des Armes tat weh, und es verging keine Nacht, in der er nicht mindestens zwei- oder dreimal vor Schmerz aufwachte, wenn er sich herumdrehte und den Arm belastete.

Aber er wollte sich nicht beschweren. Wenn er bedachte, in welchem Zustand Rebecca und er vor vierzehn Tagen gewesen waren, als der Helikopter auf dem vereisten Fluss in Bosnien landete, dann erschien es ihm fast wie ein kleines Wunder, dass er jetzt tausend Kilometer entfernt in einem Wartezimmer saß und im Grunde nichts weiter spürte als ein leichtes Ziehen in der Schulter und ein Gefühl tödlicher Langeweile.

Stefan hasste es, zu warten. Er war es gewohnt; sein Job brachte es mit sich, dass er manchmal Stunde um Stunde warten musste, manchmal ganze Tage und Nächte – auf einen ganz bestimmten Lichteinfall, eine ganz bestimmte Gelegenheit, einen ganz bestimmten Schnappschuss, den er nur zu oft dann doch nicht bekam.

Aber dass er das Warten kannte, bedeutete nicht, dass er es lieben musste.

Nicht, wenn es so viel Besseres gab, das er mit seiner Zeit anfangen konnte. Zum Beispiel nach Hause zu fahren, ungefähr achtzig Anrufe abzuhören und sich zu überlegen, welche davon er ignorieren und welche der Anrufer er mit immer neuen Ausreden abspeisen sollte, dachte er sarkastisch. Er war immer noch nicht sicher, ob es nicht ein Fehler gewesen war, auf einer ambulanten Behandlung zu bestehen, aber eines wusste er mit Sicherheit: Es war falsch gewesen, sich sofort zurückzumelden. Dass Becci und er als Freiberufler arbeiteten, bedeutete nicht, dass es niemanden gab, der glaubte, einen Anspruch auf sie und die Ergebnisse ihrer Arbeit zu haben.

Irgendwie war es ihm bisher gelungen, Rebecca zumindest vor den meisten seiner zudringlichen Kollegen zu beschützen, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Die Meute witterte eine Story, und sie wollte sie haben. Dass er dazugehörte, verschaffte ihm eine kleine Gnadenfrist, aber keinen Freibrief. Stefan fragte sich, ob Becci und er auf Außenstehende wohl genauso wirkten, wenn sie hinter einer Geschichte her waren, und er kam als Antwort auf ein zwar unangenehmes, aber eindeutiges Ja.

Vielleicht war es ein Akt höherer Gerechtigkeit, dass sie nun einmal die andere Seite der Medaille kennen lernten, und vielleicht würden sie sich in Zukunft daran erinnern, wenn das alles hier vorbei war und sie sich wieder in die Meute einreihten, die auf der niemals endenden Jagd nach Neuigkeiten und Sensationen war. Vielleicht. Aber wahrscheinlich nicht. Nichts geriet so schnell in Vergessenheit wie gute Vorsätze. Selbst solche, die aus eigener schlechter Erfahrung geboren waren.

Ein leises ›Pling‹ drang in seine Gedanken. Stefan sah hoch und erkannte, dass die Digitalanzeige nun seine Nummer zeigte. Rasch legte er die Zeitschrift auf den Tisch, die ohnehin nur zwar aufgeschlagen, aber ungelesen auf seinen Knien gelegen hatte, stand auf und betrat den Untersuchungsraum.

Der Arzt war noch nicht da, und bevor die Krankenschwester auch nur etwas sagen konnte, knüpfte er bereits sein Hemd auf, warf es ab und rollte noch im Hinsetzen das linke Hosenbein bis nach oben. Die Schwester betrachtete ihn stirnrunzelnd, sagte aber nichts dazu. Sie war neu; jedenfalls hatte er ihr Gesicht hier noch nicht gesehen, und vielleicht war sie gelehrige Patienten wie ihn nicht gewohnt. Was Stefan anging, tat er das nicht, um ihr die Arbeit zu erleichtern oder sie zu beeindrucken; er wollte die unangenehme Prozedur nur so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Die Schwester legte einen grauen Schnellhefter mit seinem Namen und einer ellenlangen Ziffernkombination darunter auf den schmucklosen Schreibtisch, der neben der Untersuchungsliege stand, klappte ihn auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Stefan war wieder allein, und er wartete wieder. Er testete seine Willensstärke, indem er nicht alle paar Sekunden auf die Uhr sah, aber er schätzte, dass mindestens weitere zehn Minuten vergingen, ehe die Tür sich endlich wieder öffnete und Dr. Krohn hereinkam.

Der Arzt begrüßte ihn mit einem wortlosen Nicken, ignorierte den Ordner mit seiner Krankengeschichte und begann sofort und immer noch ohne ein einziges Wort gesagt zu haben, den Verband von seinem linken Oberarm zu entfernen.

Stefan biss die Zähne zusammen. Es tat weh; nicht sehr, aber es war jene Art von Schmerz, die nicht einmal besonders heftig, trotzdem aber kaum auszuhalten war. Er beherrschte sich, konnte aber ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken, als Krohn endlich den Verband von seinem Oberarm und der Schulter entfernt hatte und ihn achtlos zu Boden warf.

»Das sieht ja alles schon sehr schön aus«, sagte der Arzt. »Ihre Heilung macht gute Fortschritte. Anscheinend sprechen Sie ganz ausgezeichnet auf die Medikamente an.« Er schwieg eine halbe Sekunde, dann legte er den Kopf schräg und fügte in leicht misstrauischem, aber auch fast vorwurfsvoll klingendem Ton hinzu: »Sie nehmen sie doch, oder?«

»Natürlich«, antwortete Stefan – was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Mittel, die Krohn und seine Kollegen ihm in den letzten beiden Wochen verschrieben hatten, hätten ausgereicht, eine mittlere Schiffsapotheke zu füllen. Er hatte die Waschzettel gelesen und dann für sich entschieden, was davon er nehmen und was er in der Toilette herunterspülen sollte. Offensichtlich hatte er die richtige Wahl getroffen.

»Dann ist es ja gut«, sagte Krohn. Er rutschte mit seinem Stuhl ein kleines Stück zurück, beugte sich vor und begann den Verband von Stefans Wade abzuwickeln, was entschieden mehr wehtat. »Entschuldigen Sie meine Frage, aber Sie glauben ja nicht, wie viele Patienten hierherkommen und erwarten, dass ich Wunder vollbringe, und dann nichts von den Mitteln nehmen, die ich ihnen verschreibe.« Er riss das Ende des Verbandes mit einem Ruck von Stefans Bein – Stefan unterdrückte im letzten Moment einen Schmerzensschrei –, betrachtete die Wunde eingehend und sagte dann fast fröhlich:

»Hervorragend. Sie scheinen nicht nur ein braver Patient zu sein, sondern auch über ausgezeichnetes Heilfleisch zu verfügen.«

»Ja«, antwortete Stefan gepresst. Er ließ absichtlich offen, welchen Teil von Krohns Worten er damit bestätigte.

Der Arzt sah hoch. »Haben Sie Schmerzen?«

»Jetzt?« Stefan nickte. »Ja.«

»Das meine ich nicht, überhaupt?«

»Es geht«, erwiderte Stefan wahrheitsgemäß. »Es tut mehr weh, als es sollte. Ich meine … letztendlich ist es nur ein Kratzer.«

»Aus Ihrer Wade fehlt genug Fleisch, um ein gutes Barbecue daraus zu machen«, erwiderte Krohn kopfschüttelnd. »Das würde ich nicht als Kratzer bezeichnen. Außerdem ist das keine normale Wunde. Bisswunden sind meistens schmerzhafter als andere Verletzungen. Aber, wie gesagt, Sie scheinen ganz ausgezeichnet zu heilen. In drei oder vier Wochen merken Sie nichts mehr davon.«

Stefan sagte nichts. Der Schmerz war nicht das Schlimme. Die Wunden würden vernarben, egal ob in drei Wochen oder in drei Monaten, aber er fragte sich, ob er die Erinnerungen, die mit diesen Narben verbunden waren, jemals ganz würde vergessen können. Im Moment bereitete es ihm keine Mühe, damit umzugehen. Sie waren noch zu frisch. Er musste nur die Augen schließen, und er war wieder in jener Nacht auf dem Eis, hörte das Heulen der Wölfe und das Peitschen der Schüsse und Rebeccas verzweifelte Schreie. Es war nicht schlimm, kaum mehr als Bilder aus einem Film, den er gesehen hatte; ein überstandenes Abenteuer, das seinen schmerzhaften Preis forderte, mehr aber auch nicht. Aber er wusste genau, wie solche Dinge liefen: Der kribbelnde Thrill bewältigter Gefahr würde vergehen, ebenso wie das Hochgefühl, etwas eigentlich Aussichtsloses geschafft zu haben. Aber möglicherweise würde die Angst zurückbleiben, und vielleicht meldete sie sich nach Jahren wieder und auf einer Ebene, auf der er ihr wehrlos ausgeliefert war.

Krohn hörte endlich auf, auf eine Art und Weise mit...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Abenteuer • Europa • fantastisch • Fantastischer Roman • Fantasy • Fantasy Bücher • Fiktion • Gaiman • Harry Potter • Legenden • Magie • Märchen • Mythen • Mythologie • Phantastik • Phantastisch • Rowling • Sagen • Unheimlicher Roman • Werwölfe
ISBN-10 3-7325-1712-8 / 3732517128
ISBN-13 978-3-7325-1712-1 / 9783732517121
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