Wintergewitter (eBook)

Reitmeyers zweiter Fall. Kriminalroman
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2016 | 1. Auflage
439 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74852-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wintergewitter -  Angelika Felenda
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München 1920. Kommissär Reitmeyer ist aus dem Krieg zurückgekehrt, versucht die dort erlittenen Traumata vor seiner Umgebung zu verbergen und dämpft aufkommende Panikattacken mit Geigenspiel. Dabei hat die Polizei alle Hände voll zu tun: Nahrungsmangel und Geldentwertung haben dazu geführt, dass die Stadt von einer regelrechten »Diebstahlseuche« heimgesucht wird und Schieber und Schleichhändler dicke Geschäfte machen. Da wird die junge Cilly Ortlieb, Kleindarstellerin in schlüpfrigen Produktionen des Münchner Filmkonzerns Emelka, tot im Keller einer Gastwirtschaft gefunden. Was zunächst wie ein Unfall aussieht, entpuppt sich als Mord mit einer großen Menge Morphium.


Während die rechte Einwohnerwehr durch die Straßen Münchens marschiert, sucht Kommissär Reitmeyer - von seinen Vorgesetzten argwöhnisch beäugt - in illegalen Spielclubs, Bars und Geheimbordellen nach einem zweifachen Frauenmörder. Dabei begegnet er Gerti Blumfeld, die auf der Suche nach ihrer abgetauchten Schwester eines der Mordopfer kennengelernt hat und bald selbst auf die Todesliste des Täters gerät ...



<p>Angelika Felenda hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als literarische Übersetzerin in München.</p>

Angelika Felenda hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als literarische Übersetzerin in München.

1


Es war eines der Häuser am Fuß des Nockherbergs, das man wahrscheinlich abgerissen hätte, wenn der Krieg nicht dazwischengekommen wäre. Schief und krumm, auf einer Seite leicht abgesackt, klammerte es sich auf der anderen ans Nachbargebäude, um nicht im feuchtmodrigen Morast entlang des Auer Mühlbachs zu versinken. An den Ecken und Laibungen bröckelte der Putz, der Lack an den Fensterrahmen war abgesplittert, die Fassade zeigte noch Spuren eines früheren Anstrichs, ein schimmliges Grün, das sich im Grau der restlichen Fläche kränklich ausnahm.

Und so roch es auch, als Reitmeyer in den Hauseingang trat und die Stufen zu der Kellerwohnung hinunterstieg. Während er den düsteren Gang entlangging, wurde vor ihm eine Tür aufgerissen und eine Frau mit einem Kübel in der Hand trat heraus.

»Ich möcht zum Herrn Maikranz«, sagte er und hielt seine Polizeimarke hoch. »Ich bin hier doch richtig?«

Die Frau sah ihn mit leerem Blick an und nickte. Dann schlug sie den Türflügel zurück und machte eine Geste, dass er eintreten solle.

Auf der Schwelle zögerte Reitmeyer einen Moment, nicht nur wegen des Geruchs, sondern wegen der drangvollen Enge in dem länglichen Raum, wo zwischen Bettstatten und Kommoden, zwischen Tisch und Herd und ein paar Stühlen, die von Kindern besetzt waren, kein Platz für einen Besucher zu sein schien.

»Kommen S’ nur rein, Herr Kommissär«, hörte er eine Stimme aus einem der Betten. »Das ist aber schön, dass Sie nach mir schauen.« Ein Kopf mit einer dicken Bandage, die auch das rechte Auge bedeckte, tauchte auf.

»Herr Maikranz«, sagte Reitmeyer und bahnte sich den Weg durch das Gerümpel aus Möbeln und Hausrat. »Wie geht’s Ihnen jetzt?«

Der Mann rappelte sich schwerfällig hoch und schüttelte ihm die Hand. »Schon besser. Aber ob ich mein Augenlicht behalt, steht noch nicht fest, hat der Doktor im Krankenhaus gesagt. Wir hoffen halt das Beste.«

Da die Kinder ihn nur schweigend anstarrten und keine Anstalten machten, einen der Stühle zu räumen, überlegte Reitmeyer, ob er sich auf die Bettkante setzen sollte. Frau Maikranz, die auch wieder eingetreten war, scheuchte eines der Mädchen hoch und wischte schnell mit einem Lappen über den Hocker, bevor sie Reitmeyer bat, Platz zu nehmen. Dann stellte sie sich ans Fußende des Bettes. »Ham S’ die Saubande schon erwischt, die meinen Mann so zugerichtet hat?«, fragte sie.

»Deswegen bin ich da.« Reitmeyer zog ein Foto aus der Innentasche seines Mantels. »Das wollt ich Ihnen zeigen. Ob Sie den Mann erkennen?«

Maikranz hielt das Foto in das spärliche Licht, das durch das Kellerfenster einfiel, und studierte das Bild eingehend. »Ich glaub schon«, sagte er nach einer Weile. »Es war zwar schon spät, aber vom Schaufenster war genügend Licht. Das hab ich Ihnen ja schon gesagt. Die Kerle sind aus dem Pelzgeschäft rausgestürmt und zu ihrem Wagen gerannt. Der Letzte hat mir einen Schwinger versetzt, dass ich mit dem Kopf gegen den Mauervorsprung gestürzt bin. Aber sein Gesicht hab ich genau gesehen. Das vergess ich mein Lebtag nicht mehr.« Er gab das Foto zurück. »Das ist der Kerl.« Er ließ sich auf das Kissen sinken. »Wie sind Sie auf den gekommen?«

»Im Rahmen von Ermittlungen. Aber bislang konnten wir ihm nichts nachweisen.«

»Aufhängen sollt’ man das Gesindel«, sagte Frau Maikranz. »Einen anständigen Menschen halb totschlagen, der bis spät in der Nacht in der Küche arbeiten muss. Und wenn er jetzt noch sein Aug’ verliert …« Sie folgte Reitmeyers Blick auf die Ziegelsteine, die unter die Füße der Möbelstücke geschoben waren. »Das ist wegen dem Wasser«, sagte sie. »Wenn’s stark regnet, drückt’s von unten oft rein.«

»Einmal sind meine Schuh davong’schwommen«, sagte ein kleiner Bub stolz, bevor seine ältere Schwester ihn anstieß und er wieder schwieg.

Reitmeyer stand auf. »Ich hab’s leider eilig, Herr Maikranz. Ich muss gleich weiter. Aber ich meld mich wieder, wenn sich was Neues ergibt.« Er schüttelte ihm die Hand. »Und weiterhin gute Besserung.«

Frau Maikranz öffnete ihm die Tür. »Jetzt sperren S’ den Lump doch ein?«

»Ich tu mein Bestes, Frau Maikranz. Das versprech ich Ihnen.«

Wie gehetzt lief Reitmeyer den Gang entlang und mit ein paar Sätzen die Treppe hinauf. Erst vor dem Haus wagte er, wieder tief durchzuatmen. Der faulig modrige Geruch in der Kellerwohnung, der Mief aus altem Bettzeug, Windeln und aufgewärmtem Kohl hatte ihm fast die Luft abgeschnürt. Am liebsten hätte er sich geschüttelt wie ein Hund nach einem Regenguss. So mussten diese Leute leben. Es war menschenunwürdig. Aber sie waren nicht die Einzigen. Es herrschte verheerende Wohnungsnot.

Als er über die Ludwigsbrücke fuhr, kam von Westen eine dunkle Wolkenwand auf ihn zu, in der Ferne grollte Donner, und über der Isar zuckten Blitze. Ein Wintergewitter. Das war selten. Er trat in die Pedale, um noch vor Ausbruch des Unwetters die Ettstraße zu erreichen. Doch es fielen bereits die ersten Tropfen, und als er im Hof sein Fahrrad abstellte, goss es so heftig, dass er gerade noch den Eingang erreichte, bevor er völlig durchweicht war.

Im Treppenhaus wischte er sich die Nässe vom Mantel und hastete die Stufen hinauf. Um fünf hatte er die Vernehmung angesetzt. Jetzt würde er den Kerl drankriegen. Diesmal würde er ihn festnageln.

Als er die Tür zum Vernehmungsraum öffnete, war noch niemand da. Er sah auf die Uhr. Fünf vor fünf. Aber die angeforderte Akte über die Militärlaufbahn von Willy Bauer lag auf dem Tisch. Er blätterte sie kurz durch. Mit sechzehn hatte sich Bauer freiwillig gemeldet, mehrere Auszeichnungen für Tapferkeit erhalten, und 1918, im letzten Kriegsjahr, war er zum Leutnant befördert worden.

Reitmeyer zuckte zusammen, als draußen ein Blitz aufflackerte, gefolgt von einem Donnerschlag, der das Gebäude in seinen Grundfesten zu erschüttern schien. Er stand auf und ging zum Fenster. Heftiger Regen prasselte gegen die Scheiben, der Baum gegenüber bog sich unter den peitschenden Böen. Reitmeyer rieb sich den Nacken. Der Typus Bauer war ihm bekannt: Verwegener Frontkämpfer, EK II. Dekoriertes Kanonenfutter. Ohne die verheerenden Verluste gerade unter Leutnants hätte er eine solche Karriere nie gemacht. Von den Offizieren mit regulärer Laufbahn, die auf ihrem Standesdünkel beharrten, wurden solche Leute allerdings nicht für voll genommen.

Wieder ertönte ein Donnerschlag, und in den prasselnden Regen mischten sich Hagelkörner, die wie Kugeln ins Blech der äußeren Fensterbank einschlugen. Als er sich abwandte, sah er den Tisch im Augenwinkel: Papiere, Flaschen, Becher, der graue Kasten des Feldtelefons, ein paar Revolver – das übliche Durcheinander, alles beleuchtet von einer einzigen Kerze, die in einem See aus geschmolzenem Talg auf der Tischplatte klebte.

Er blieb ruhig. Das plötzlich wiederkehrende Bild von seinem Unterstand brachte ihn nicht mehr aus der Fassung. Es ließ sich wegblinzeln. Wenn ihn jedoch ganze Salven von Erinnerungsbildern bedrängten, wie Filme gleichsam, war es anders. Immer noch.

Im selben Moment ging die Tür auf. Zwei Wachleute schoben den Delinquenten herein, führten ihn zu dem Stuhl am Vernehmungstisch und drückten ihn auf den Sitz. Bauer ließ alles mit hochmütig verächtlicher Miene über sich ergehen.

»Sie warten draußen«, sagte Reitmeyer zu den Wachleuten.

Bauer lehnte sich zurück, rutschte an die vordere Sitzkante und streckte die Beine von sich, als lümmelte er auf einem Kneipenstuhl. Reitmeyer ließ sich nicht provozieren. Er nahm die Akte und blätterte darin herum.

»Sie waren also Offizier?«, fragte er nach einer Weile und blickte über die Akte hinweg auf das blasse Bürschchen, das in der grauen Jacke und der fleckigen Hose eher wie ein Hoteldiener aussah. Keines nobleren Etablissements allerdings. Auch in den ungeprägten, fast kindlichen Zügen seines Gesichts erinnerte nichts an die Attribute, die man mit einem leitenden Militär in Verbindung brachte.

Bauer setzte sich auf. »Ich war Frontoffizier«, spuckte er aus.

Reitmeyer nickte. Natürlich wollte er sich von den Stabsoffizieren absetzen, die von Leuten wie seinesgleichen als Drückeberger in der Etappe angesehen wurden.

»Und nach dem Krieg?«

»Freikorpskämpfer.«

»Aha.« Reitmeyer lehnte sich zurück. »Und nachdem die Freikorps in Preußen aufgelöst wurden?«

»Bin ich zurück nach Bayern gekommen. Und hab mich bei der Reichswehr beworben. Im Moment bin ich noch bei der Einwohnerwehr.«

Die Hoffnung, in die Reichswehr übernommen zu werden, konnte er sich abschminken. Die »echten« Offiziere der ehemals kaiserlichen Armee teilten die wenigen Stellen unter sich auf. Das wusste er sicher selbst. »Und bei der Einwohnerwehr haben Sie eine feste Stelle? Ich meine, ein Einkommen, von dem Sie leben können?«

»Ach, darauf wollen Sie hinaus?«, erwiderte Bauer mit einem hochmütigen Lächeln. »Wenn ich Ihrer Meinung nach nicht genügend verdiene, liegt es auf der Hand, dass ich ein Einbrecher bin?«

»Vielleicht nicht ganz abwegig. Sie haben keine Ausbildung, nichts gelernt, außer mit der Waffe zu kämpfen, können in keinen bürgerlichen Beruf zurückkehren …«

»Und deshalb wollen Sie mir einen Einbruch anhängen?«, schrie Bauer und sprang auf. »Mich zu einem Verbrecher abstempeln, während die wirklichen Verbrecher, die mit ihrem Defätismus und ihren Streiks die Heimatfront...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2016
Reihe/Serie Kommissär-Reitmeyer-Serie
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 1920 • 1920er • Babylon Berlin • Der eiserne Sommer • Eiserner Sommer • Erster Weltkrieg • Herbststurm • historisch • Kommissär Reitmeyer • Krimi • Kriminalroman • München • Oktoberrevolution • Spannung • ST 5012 • ST5012 • suhrkamp taschenbuch 5012 • Thriller • Volker Kutscher • Zweiter Weltkrieg • Zwischen den Weltkriegen
ISBN-10 3-518-74852-1 / 3518748521
ISBN-13 978-3-518-74852-7 / 9783518748527
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