Gilgi - eine von uns (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Refinery (Verlag)
978-3-96048-097-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gilgi - eine von uns -  Irmgard Keun
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Die Geschichte, mit der die 26-jährige Irmgard Keun 1931 über Nacht berühmt wurde. Gilgi, ein Mädchen im Köln der 1920er Jahre, gibt ihre Stelle als Sekretärin auf und zieht von Zuhause aus, weil sie das bevormundete Dasein bei den Eltern satt hat. Doch auch das 'weiche, zerflossene, bedenkenlose' Leben mit dem Schriftsteller Martin ist keine Alternative, und aus ihrem Leben, sagt Gilgi, 'soll nicht so'n Strindberg-Drama werden'. Und da nimmt sie es wieder in die eigenen Hände und macht sich wirklich auf den Weg in die Selbstständigkeit.

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, Gilgi - eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, "Gilgi – eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" sensationelle Erfolge. 1935 ging sie ins Exil und kehrte fünf Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

Frühmorgens, eine Viertelstunde vor Ablaufen des Weckers kommt Frau Kron in Gilgis Zimmer und setzt sich zu ihr auf den Bettrand. Mit ihren braven, rauhen Hausfrauenhänden streicht sie über Gilgis nackte Arme, ihre mageren Kleinmädchenschultern. Einen Augenblick lang spürt Gilgi keine Lust, über die ungewohnten Zärtlichkeiten zu staunen, noch sie abzuwehren. Die vertraute Körpernähe der Mutter, der leichte Kernseifengeruch ihrer Hände versetzen sie in einen Zustand animalischen Wohlbehagens und nestwarmer Geborgenheit.

»Jilgi, mein Kind, du hast mich doch lieb, nicht wahr?«

»Was ist los?« Gilgi fährt auf und sieht erschrocken und mißtrauisch aus.

»Du hast mich doch lieb, nicht wahr, Jilgi?« Gilgi sieht die Mutter an: ihre fleischigen Wangen sind heißrot gefärbt wie nach besonders geschäftigen Wasch- oder Kuchenbacktagen. Gilgi begreift, daß die Frage nur eine Einleitung ist, weiß der Himmel wozu. Komische Einleitung. Überflüssige Frage. Sie hat nie darüber nachgedacht, ob sie die Mutter lieb hat. Mitleidig streift ihr Blick über Frau Krons breiten, verfetteten Rücken.

»Jilgi, du wirst heute einundzwanzig Jahr alt.«

»Das weiß ich.«

»Tja«, sagt Frau Kron und wieder »tja«, dann schweigt sie. Ihre blassen, vollen Lippen bewegen sich, zittern.

»Nu’ red’ schon, Mutter.« Frau Kron schweigt. Gilgi schiebt ungeduldig ihre langen, schmalen Füße unter der Bettdecke vor – sie könnte schon immer ihre Turnübung machen.

»Jilgi!« Frau Krons Stimme klingt hoch und trokken, »du bist nämlich nicht unser Kind.«

Gilgi vergißt zu atmen.

»Was – hast – du – da – gesagt?«

»Du bist nicht unser Kind.«

»So!« Gilgi begreift nicht ganz. Zehn Minuten später hat sie begriffen. »So«, macht sie noch einmal.

Immer schön fest auf den Füßen stehn, ja nicht wackeln. Wenn weiter nichts ist. Ihr Gesicht ist gleichmütig, sie reagiert nach innen.

»In zwanzig Minuten bin ich am Kaffeetisch, Mutter.«

Frau Kron begreift, daß sie gehen soll. »Nimm’s dir nicht weiter zu Herzen, Kind.«

»Nein«, sagt Gilgi und macht die erste Rumpfbeuge. Frau Kron geht.

Immer hübsch fest auf den Füßen stehn. Auf – nieder. Ihr soll’s nur recht sein so. Warum wohl mit dieser Eröffnung ausgerechnet bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag gewartet wurde? Es fällt ihr nicht ein, sich durch solche Sachen aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Soll sie erschüttert sein? Verlangt man heftige Gemütsbewegungen von ihr? Muß sie etwas Besonderes tun? Wie benimmt man sich in solchem Fall?

Eine kleine Näherin ist ihre Mutter. Vater unbekannt. Von Proletariern stammt sie ab. Das freut sie, denn sie hat nie Wert darauf gelegt, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören.

Gilgi geht in das Plüschzimmer. Der Washington, das tuchene Rechteck, der zeitungslesende Herr Kron – alles ist ihr genau so fremd, wie es ihr immer war. Nicht mehr, nicht weniger. Auf dem Tisch steht der übliche Geburtstagsnapfkuchen mit den schönen, regelmäßigen Ondulationswellen. Über die Sofalehne gebreitet liegen Frau Krons Geschenke: dunkelblauer Seidenstoff für ein Kleid, lange weiße Glacéhandschuhe (beides mit Gilgi zusammen gekauft) und aus eigenem Antrieb eine Flasche Eau de Cologne und eine unverwendbare Tasche. In der Tasche steckt Herrn Krons jährliches Geburtstagsgeschenk: ein Fünfzigmarkschein.

»Danke, Vater.« Gilgi gibt Herrn Kron die Hand. Er sieht von der Zeitung auf.

»Laß’ dir jut jehn, im neuen Jahr, Jilgi, bleib jesund und – denk’ jaanich mehr an das, was dir Mutter eben jesaacht hat.«

»Tu’ ich schon jetzt nicht mehr, Vater.«

»Na, denn is man jut.«

»Danke, Mutter.« Gilgi küßt Frau Kron auf die Schläfe.

»Jefalln dir die Sachen, Kind? Der Stoff is dekatiert. Was sagste zu der Tasche?«

»Wunderschön, Mutter.« Gilgi hält die Tasche in der Hand. Die Mutter guckt so ängstlich und erwartungsvoll, man muß noch was sagen, aber was, was, was? »Wunderschön, wirklich, wun…« Die erwartet nun was, hat sich Sorgen gemacht, nun muß man was sagen, irgendwas mit Liebe und Gefühl, aber das geht doch nicht so auf Kommando, gerade weil’s erwartet wird, geht’s nicht, da schiebt sich ein Riegel vor, fester, immer fester… »Ich – also – wunderschön, wirklich … also, ich – bin so froh, Mutter – wirklich.« Ufff, Gilgi sinkt auf den Stuhl. Wo andre Leute nur immer im richtigen Augenblick die richtigen Worte hernehmen mögen?

»Iß, Jilgi, trink, Jilgi.« Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Sie würgt am Napfkuchen, hat keinen rechten Appetit. Iß, Gilgi, trink, Gilgi! Verflucht anständig von den Leuten. Haben mir einundzwanzig Jahre hindurch Wohnung gegeben, Essen und Trinken. Haben mich was lernen lassen. Der Mann da, der da die Zeitung liest und den ich eigentlich nichts angehe, schenkt mir jedes Jahr fünfzig Mark. Warum? Die dicke Frau da, die hat fünf Nächte lang geheult und nicht geschlafen, damals, als ich Scharlach hatte. Warum? Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Und ich? Womit hab’ ich bezahlt? Verdammt, ich hab’ Schulden.

»Noch ein Stück Napfkuchen, Jilgi?«

»Danke, Mutter.« Ob ich nächstens mal mit ihr zum Kränzchenkaffee gehe? Sinnlos verschwendete Zeit. Ob ich jetzt abends immer zu Hause sitzen soll? Sinnlos verschwendete Zeit. Jedes Beisammensein mit euch ist sinnlos verschwendete Zeit. War’s, ist’s, wird’s immer sein. Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Also, wenn ich jetzt auch nur eine halbe Träne heule, schlag’ ich alles kaputt.

Gilgi ist bei ihrem Freund Pit.

»Pit, ich bin aus Versehen zur Welt gekommen.«

»Das sind viele.«

»Meinst du nicht, man müßte seinen Eltern dankbar sein?«

»Wofür?«

»Für Geld und Gefühle und alles Mögliche.«

»Gilgi, du weißt, ich hab’ keine Zeit zu albernen Gesprächen.«

Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Sie hockt auf der ärmlichen Feldbettstelle, die Beine übereinander geschlagen, das Kinn auf die Hände gestützt.

»Ich friere, Pit.«

»Dann mußt du irgend wohin gehn, wo’s wärmer ist.« Pit ist unfreundlich, das ist er meistens. Gilgi nimmt’s ihm nicht übel. – Ein armes Luder der Pit. Geld hat er nie. Volkswirtschaft studiert er – und seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Stundengeben. Mitunter spielt er Klavier in fragwürdigen Kneipen. Manchmal hat er Hunger. Sie ist befreundet mit ihm seit Jahren. Sie hat ihn gern, man kann sich auf ihn verlassen.

Pit sitzt am Tisch, hat vor sich Bücher, Hefte und eine Kanne mit schwarzem Tee. Gilgi weiß, er kann ihr nichts davon anbieten, weil er nur eine Tasse besitzt. Pit ist nicht eingerichtet auf Besuche.

Gilgi sieht in das nackte, kahle Zimmer, ein schäbiges Zimmer in der Kölner Altstadt. Sie sieht Pits roten Haarschopf, sein weißes Gesicht mit den bösen, scharfen Mundfalten, seine kleinen, hellen Augen. Verrückter Pit! Er könnt’ es so gut haben. Sein Vater hat das schönste Haus in Marienburg, hat Geld und einen guten Namen. Pit ist sein einziger Sohn –.

»Warum bist du von Haus fortgegangen, Pit?«

»Was geht dich das an?« Er mag nicht gefragt werden.

»Was willst du übrigens? Wenn du mir mit Luxusproblemen kommst, fliegst du raus!« Gilgi zieht sich die Bettdecke über die Knie, unterhalb des Kopfkissens wird ein säuberlich gefaltetes Nachthemd sichtbar, weiß Barchent mit roten Börtchen. »Rührend«, lacht Gilgi. Pit steht auf und schiebt das Nachthemd unters Kopfkissen. Rot und giftig sieht er Gilgi an: »Was hast du dich hier so breit zu machen!« Finger von den Weibern, er kann keine Weiber gebrauchen, es geht auch ohne sie, sie sollen nicht herkommen und sich ausgerechnet hier aufs Bett setzen. Das zuckt in den Händen, er möchte das Mädchen da prügeln. Langsam geht er an den Tisch zurück, stößt sich die Kante in die Hüfte. Ohrfeigen rechts und links. Ohrfeigen. Schweinerei. Ich muß klaren Kopf behalten, mein Verstand ist mir ohnehin schon zu schwach.

»Pit, ich wollt’ dich was fragen, ich geh’ vielleicht auch ganz von Haus fort und mach’ mich selbständig.«

»Hättste schon längst tun sollen.« Warum zieht sie den Rock denn nicht runter. Da, wo der Strumpf aufhört, ist ein Streifen helles Fleisch sichtbar. Ein Schwein bin ich. Ohrfeigen.

»Ich weiß nicht, Pit, ob es anständig ist, seine Eltern…«

»Anständig!!« Krraacks, Pit hat einen Bleistift zerbrochen, mitten durch. »Wenn du anständig sein willst, liebe Eltern, Vaterland und Hunde! Heirate und krieg Kinder. Jedem Embryo sein Paragraph 218. Der Staat will Kinder, laufen noch nicht Arbeitslose genug auf der Erde rum.« Pit redet sich in Wut.

»Hör’ auf, Pit, du brauchst nicht so giftig zu werden, den ›Simplicissimus‹ kann ich auch im Café haben.« Da will man den nun was fragen, aber der hat nur seinen Sozialismus und sowas im Kopf. Ich versteh’ nichts von Politik, ich seh’ da nicht durch. Gilgi fährt sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. Mit Pit ist nichts anzufangen heute. Sie hat ihm ihre blödsinnige Geschichte erzählen wollen. Seit acht Tagen bleibt ihr jeder Bissen im Halse stecken, den sie zu Hause ißt. Das kann so nicht weitergehen, da muß was geschehen. Wenn die sie in die Welt gesetzt hätten, na schön, dann könnten sie auch für einen sorgen, solange man nicht für sich selber sorgen kann. Aber so! Ja, wenn man sie lieb hätt’ und zu ihnen gehörte, dann würd’ man sich eben mit Gefühlen bezahlt machen. Aber nehmen, nehmen, nehmen – und...

Erscheint lt. Verlag 11.8.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20er • Belletristik • Drama • dramatisch • gilgi • Klassiker • Köln • Literatur • Mädchen • Roman • Schriftsteller • Sekretärin • Selbständigkeit • Selbstständigkeit • Ullstein
ISBN-10 3-96048-097-0 / 3960480970
ISBN-13 978-3-96048-097-6 / 9783960480976
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