Manche tun es nicht (eBook)

Band 1 der Tetralogie 'Das Ende der Paraden'
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31764-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In seinem grandiosen Hauptwerk gelingt es Ford Madox Ford, große Figuren zu schaffen und an ihnen exemplarisch den Verfall einer jahrhundertealten Gesellschaft zu demonstrieren. Christopher Tietjens ist ein vermögender englischer Gentleman mit fast unmenschlicher Selbstbeherrschung - und so lässt er auch die Romanzen und Amouren seiner attraktiven Frau scheinbar ohne sichtbare Regung über sich ergehen. Doch je unnahbarer und kühler er sich gibt, desto perfider und demütigender die Versuche seiner Frau, die Maske der standesgemäßen Selbstlosigkeit zu zerbrechen ... England, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Christopher Tietjens ist ein perfekter englischer Gentleman mit nahezu unmenschlicher Selbstbeherrschung - zum Glück, denn andernfalls wäre er vermutlich schon längst zum Mörder geworden. Seine impulsive Frau Sylvia lässt keine Gelegenheit aus, ihn lächerlich zu machen, zu demütigen und zu erniedrigen. Ihr Furor gilt seiner standesgemäßen Selbstlosigkeit, seiner perfekt abgeschotteten Gefühlswelt - kurz: jener Englishness, die seinem Leben in einer immer intriganter und korrupter werdenden Umwelt Halt und Form gibt. Je unnahbarer er sich gibt, desto wütender wird Sylvia. Tietjens flieht in den Weltkrieg. Im Bombenhagel glaubt er sich in Sicherheit - aber Sylvia verstrickt ihn in einen fürchterlichen Zweifrontenkrieg. Band 1 der Tetralogie Ende der Paraden.

Ford Madox Ford (1873-1939) wurde als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin unter dem Namen Ford Hermann Hueffer geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er auf englischer Seite teilnahm, legte er seinen deutschen Namen ab und lebte in Frankreich und Amerika. Er war mit vielen Künstlern und Schriftstellern wie Joseph Conrad, D. H. Lawrence, Wyndham Lewis, Ezra Pound und Ernest Hemingway befreundet.

Ford Madox Ford (1873-1939) wurde als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin unter dem Namen Ford Hermann Hueffer geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er auf englischer Seite teilnahm, legte er seinen deutschen Namen ab und lebte in Frankreich und Amerika. Er war mit vielen Künstlern und Schriftstellern wie Joseph Conrad, D. H. Lawrence, Wyndham Lewis, Ezra Pound und Ernest Hemingway befreundet. Joachim Utz übersetzte u.a. Yeats, Owen, Spender und Tomlinson und wurde in der Presse für seine "hoch sensible, nuancenreiche und vokabelvirtuose" Übertragung der Werke von Ford Madox Ford gelobt.

II


In Begleitung ihres französischen Kammermädchens, ihres Priesters und ihres schlecht beleumundeten jungen Freundes, einem Mr. Bayliss, verbrachte Mrs. Satterthwaite ihren Aufenthalt in Lobscheid, einem unbekannten und wenig besuchten Luftkurort in den tiefen Nadelwäldern des Taunus’. Mrs. Satterthwaite war eine Dame von äußerster Vornehmheit und vollendetem Gleichmut – die Geduld riss ihr wirklich nur, wenn jemand an ihrer Tafel und unter ihren Augen ihre berühmten roten Weintrauben verzehrte, ohne die Haut und alles was sonst dazugehörte mitzuessen. Vater Consett war in Lobscheid, um es sich in den drei Wochen seines Urlaubs von den Slums von Liverpool einfach wahnsinnig gut gehen zu lassen; Mr. Bayliss, mager wie ein Skelett und in eng anliegenden blauen Serge gekleidet, mit goldnem Haar und rosig angehaucht, war nicht nur durch seine Tuberkulose dem Tod nahe und absolut mittellos, sondern hatte daneben auch so kostspielige Vorlieben, dass er bereit war, sich stumm wie ein Stein zu verhalten, täglich große Mengen Milch zu trinken, und sich gut zu benehmen. Eigentlich war er nur mit von der Partie, um Mrs. Satterthwaites Briefe zu schreiben, doch ließ die Dame ihn nie in ihre privaten Gemächer vordringen, aus Furcht sich anzustecken. Er musste sich damit zufrieden geben, eine wachsende Bewunderung für Vater Consett zu nähren. Der Priester, mit seinem riesigen Mund, den hohen Wangenknochen, dem ungepflegten schwarzen Haar, einem breiten Gesicht, das immer etwas ungewaschen wirkte, und mit Händen, die nie richtig sauber schienen und mit denen er stets in der Luft herumfuchtelte, konnte nie auch nur einen Augenblick stillhalten und hatte einen Akzent, wie man ihn außerhalb aus der Mode gekommener englischer Romane über Irland selten zu hören bekommt. Sein unablässiges Gelächter klang wie das Geräusch, das ein dampfbetriebenes Karussell ausstößt. Er war, kurzum, ein Heiliger, und Mr. Bayliss wusste es, wenn auch nicht, was genau ihn dazu machte. Schließlich, und mit finanzieller Nachhilfe von Mrs. Satterthwaite, wurde Mr. Bayliss zu Vater Consetts Almosenspender, machte sich die Regeln des Heiligen Vinzenz von Paul zu eigen und verfasste eine Reihe sehr bewundernswerter, wenn auch überfrachteter religiöser Gedichte.

Sie bewährten sich also als glückliche, unschuldige Gemeinschaft. Mrs. Satterthwaite nämlich interessierte sich – es war das einzige Interesse, das sie hatte – für hübsche, dünne und junge Männer mit skandalösem Leumund. Dafür wartete sie gerne selbst vor Gefängnistoren auf sie oder ließ ihren Wagen dort vorfahren, um sie abholen zu lassen. Bei diesen Gelegenheiten pflegte sie deren gewöhnlich auffällige Garderobe zu erneuern und sie mit so viel Geld zu versorgen, dass sie sich ein ordentliches Vergnügen leisten konnten. Schlug dies, entgegen allen Erwartungen – aber öfter als man glauben sollte! – zum Guten an, zeigte sie sich in einer müden Weise erfreut. Manchmal schickte sie sie zusammen mit einem Priester, der einen Urlaub brauchte, an einen hübschen Ort; manchmal holte sie sie auf ihren Sitz im Westen Englands.

Sie fühlten sich wohl in ihrer Gemeinschaft und waren zufrieden. Lobscheid verfügte über ein leer stehendes Hotel mit großen Veranden sowie ein paar Bauernhäuser, weiß getüncht mit grauem Holzwerk, unter den Giebeln mit Sträußen blauer und gelber Blumen bemalt oder mit scharlachroten Jägern, die auf purpurne Hirsche schossen. Sie ähnelten bunten Pappschachteln, die man ins tiefe Gras eines Feldes gestellt hatte; dahinter begannen die Nadelwälder, die sich düster, braun und in geometrischer Regelmäßigkeit bergauf und bergab meilenweit über die Hügel erstreckten. Die Bauernmädchen trugen Kamisole aus schwarzem Samt, weiße Mieder, unzählige Unterröcke und einen verrückten bunten Kopfputz mit Kugeln, die in Aussehen und Größe Dampfnudeln glichen. In Reihen von vier bis sechs liefen sie nebeneinander umher, langsamen Schritts, und warfen dabei weißbestrumpfte Füße in Tanzschuhen vor sich in die Luft, wobei ihr Kopfputz feierlich nickte; junge Männer in blauen Blusen, Kniehosen und, an Sonntagen, mit einem Dreispitz auf dem Kopfe, liefen hinterdrein und sangen mehrstimmige Lieder.

Die französische Zofe – Mrs. Satterthwaite hatte sie sich von der Herzogin von Carbon Château-Herault im Austausch gegen ihre eigene ausgeliehen – war anfänglich geneigt, den Ort maussade zu finden. Doch im Zuge einer gewaltigen Liebesaffäre mit einem hübschen, groß gewachsenen blonden jungen Burschen, zu dem eine Büchse, ein goldbeschlagenes armlanges Jagdmesser, eine leichte graugrüne Uniform mit goldnen Abzeichen und Knöpfen gehörten, versöhnte sie sich mit ihrem Los. Als der junge Förster versuchte, sie zu erschießen – »et pour cause«, wie sie sagte –, war sie hingerissen und Mrs. Satterthwaite müde amüsiert.

Im großen, düsteren Speisesaal des Hotels saßen sie zusammen bei einer Partie Bridge: Mrs. Satterthwaite, Vater Consett, Mr. Bayliss. Ein junger blonder Unterleutnant von großer Unterwürfigkeit, der dort, zum letzten Mal, seine rechte Lunge und seine Karriere zu retten suchte, und der barttragende Kurarzt platzten herein. Vater Consett, schwer atmend und häufig auf seine Uhr schauend, spielte sehr schnell und rief aus: »Jetzt beeilt euch; es ist fast zwölf. Schaut mal zu, dass ihr euch beeilt.« Und da Mr. Bayliss Strohmann war, rief der Priester aus: »Drei, keine Trümpfe; ich bestimme den Trumpf. Sorgt mir für einen Whisky Soda, aber verwässert ihn mir nicht wie beim letzten Mal.« Er spielte sein Blatt mit außerordentlicher Schnelligkeit, warf seine letzten beiden Karten hin und rief: »Ach! Verflixt und zugenäht; ich bin zwei Punkte zurück und habe nicht einmal die Farbe bekannt«, stürzte seinen Whisky Soda hinunter, schaute auf die Uhr und rief: »Hab’s auf die Minute geschafft! Hier, Doktor, nehmen Sie mein Blatt und spielen Sie die Partie zu Ende.« Er musste am nächsten Tag für den örtlichen Priester die Messe übernehmen, und die Messe konnte man nur lesen, wenn man seit Mitternacht nüchtern geblieben war und nicht Karten gespielt hatte. Bridge war seine einzige Leidenschaft; zwei Wochen im Jahr konnte er ihr in seinem ermüdenden Leben frönen. Im Urlaub stand er um zehn Uhr auf. Um elf Uhr hieß es dann: »Die Karten für den Vater.« Von zwei bis vier gingen sie im Wald spazieren. Um fünf hieß es dann wieder: »Die Karten für den Vater.« Um neun hieß es: »Vater, kommen Sie denn nicht zum Bridge?« Worauf Vater Consett übers ganze Gesicht grinste und sagte: »Wie gut ihr es meint mit einem armen alten Hund. Es wird euch im Himmel vergolten werden.«

Die anderen vier spielten konzentriert weiter. Der Priester setzte sich so hinter Mrs. Satterthwaite, dass sein Kinn fast ihren Nacken berührte. Wenn er es nicht mehr aushalten konnte, packte er sie an den Schultern und rief: »Spielt die Königin, Frau!« und stieß ihr seinen Atem den Rücken hinunter. Wenn Mrs. Satterthwaite dann aber die Karo zwei spielte, warf sich der Priester zurück und stöhnte. Über die Schulter sagte sie zu ihm:

»Ich möchte heute Abend mit Ihnen sprechen, Vater«, machte den letzten Stich und strich siebzehn Mark fünfzig von dem Doktor und acht Mark von dem Unterleutnant ein. Der Doktor rief aus:

»You gan’t dake that immense sum from us and then ko off. Now we shall be ropped py Herr Payliss at gutt-throat!«

Wie eine Wolke aus schwarzer Seide glitt sie durch die Schatten des Speisesaals und ließ den Gewinn in ihr schwarzes Kosmetiktäschchen fallen. Der Priester begleitete sie. Draußen vor der Tür, unter dem Geweih eines königlichen Hirsches, im Dunst von Paraffin-Lampen und Holzpolitur, sagte sie:

»Kommen Sie bitte auf mein Zimmer. Die Verlorene Tochter ist zurück. Sylvia ist hier.«

Der Vater sagte:

»Es war mir doch, als hätte ich sie kurz von der Seite gesehen im Bus nach dem Dinner. Sie wird zu ihrem Gatten zurückkehren. Was für eine arme Welt.«

»Sie ist ein boshafter Teufel!«, sagte Mrs. Satterthwaite.

»Ich kenne sie, seit sie neun war«, sagte Vater Consett, »und ich habe nur wenig an ihr entdeckt, was ich meinen Schäfchen zur Nachahmung hätte empfehlen können.« Und fügte hinzu: »Aber vielleicht hat mich der Schock ungerecht werden lassen.«

Langsam stiegen sie die Treppe empor.

Mrs. Satterthwaite setzte sich auf den Rand eines Rohrstuhls. Sie sagte:

»Also gut!«

Sie trug einen schwarzen Hut von der Größe eines Wagenrades und ihre Kleider wirkten immer so, als bestünden sie aus vielen quadratischen Stücken Seide, die man ihr einfach übergeworfen hatte. Da sie der Meinung war, ihr Teint, der von einem matten Weiß war, habe sich nach zwanzig Jahren Make-up leicht ins Violette verfärbt, trug sie, wenn sie kein Make-up aufgelegt hatte – was in Lobscheid immer der Fall war –, an mehreren Stellen in ihren Gewändern Stücke braunroter Bänder, sowohl, um dem Violett ihres Teints etwas entgegenzusetzen, als auch um zu zeigen, dass sie nicht Trauer trug. Sie war sehr groß und außerordentlich hager; der Ausdruck ihrer dunklen Augen, unter denen daumengroße dunkelbraune Flecken hingen, war abwechselnd sehr müde oder sehr gleichgültig.

Die Hände auf dem Rücken und mit gesenktem Kopf lief Vater Consett auf den nicht sehr gut gebohnerten Dielen auf und ab. Es gab zwei Kerzen, die ein trübes Licht verbreiteten und in imitierten nouvel art-Leuchtern aus Zinn standen, ziemlich schäbig; zur...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2018
Übersetzer Joachim Utz
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Das Ende der Paraden • der aufrecht blieb • Der Mann • Der Mann, der aufrecht blieb • Ehekrise • Erster Weltkrieg • Ford Madox Ford • Keine Paraden mehr • Zapfenstreich
ISBN-10 3-462-31764-4 / 3462317644
ISBN-13 978-3-462-31764-0 / 9783462317640
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99