Der Mann, der aufrecht blieb (eBook)

Band 3 der Tetralogie 'Das Ende der Paraden'
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2018 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31763-3 (ISBN)
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Eine letzte große Schau des Zerfalls der englischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg. Nach jahrlanger Trennung und Ungewissheit sehen sich der Kriegsheimkehrer Christopher Tietjens und die von ihm verehrte Valentine Wannop am Tag des Waffenstillstands wieder. Doch die quälenden Bilder des grauenhaften Krieges lassen ihn noch nicht los. Allerdings hat er jetzt - nachdem im Krieg die alte Welt des Viktorianismus und der feudalen Tradition untergegangen ist - die Kraft, sich den Angriffen seiner ihn hassenden Ehefrau zu entziehen, und ist reif, sich zu seiner Liebe zu Valentine zu bekennen. Bisher hatte er sich dies aus Gründen gesellschaftlicher Konventionen versagt. Aus dem Albtraum des Krieges und dem Chaos einer orientierungslosen Gegenwart erwächst den Liebenden die Chance eines Neubeginns. Beider Ziel ist es, gemeinsam ein Leben zu führen, in dem sie sich nicht mehr vor Kugeln und Intrigen wegducken müssen, und das zu tun, wofür sie sich gegenseitig verehren: aufrecht zu bleiben. Ford Madox Fords Fähigkeit, die Nachwirkungen der historischen Ereignisse bis in die Seelen der Menschen hinein zu erkennen und zu beschreiben, macht ihn zu einem der »ganz großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Graham Greene). Band 3 der Tetralogie Ende der Paraden. »Grandiose Weltliteratur.«Joachim Scholl, Deutschlandfunk »Der beste Roman über den Ersten Weltkrieg.«Anthony Burgess

Ford Madox Ford (1873-1939) wurde als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin unter dem Namen Ford Hermann Hueffer geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er auf englischer Seite teilnahm, legte er seinen deutschen Namen ab und lebte in Frankreich und Amerika. Er war mit vielen Künstlern und Schriftstellern wie Joseph Conrad, D. H. Lawrence, Wyndham Lewis, Ezra Pound und Ernest Hemingway befreundet.

Ford Madox Ford (1873-1939) wurde als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin unter dem Namen Ford Hermann Hueffer geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er auf englischer Seite teilnahm, legte er seinen deutschen Namen ab und lebte in Frankreich und Amerika. Er war mit vielen Künstlern und Schriftstellern wie Joseph Conrad, D. H. Lawrence, Wyndham Lewis, Ezra Pound und Ernest Hemingway befreundet. Joachim Utz übersetzte u.a. Yeats, Owen, Spender und Tomlinson und wurde in der Presse für seine "hoch sensible, nuancenreiche und vokabelvirtuose" Übertragung der Werke von Ford Madox Ford gelobt.

II


Zehn Minuten später stellte sie Miss Wanostrocht entschlossen, aber ohne Heftigkeit, die Frage:

»Nun, Frau Direktor, was hat Ihnen diese Frau erzählt? Ich mag sie nicht; ich habe keine gute Meinung von ihr und eigentlich habe ich ihr nicht zugehört. Aber ich würde es gerne wissen!«

Miss Wanostrocht, die gerade ihren dünnen schwarzen Mantel von dem Kleiderhaken hinter der hochpolierten Pitchpine-Tür ihres privaten Zimmers genommen hatte, errötete, hängte das Kleidungsstück wieder auf und drehte der Tür den Rücken zu. Schmächtig, ein wenig steif, ein wenig errötet, verwelkt und verblichen wirkte sie und ein wenig wie in die Enge getrieben.

»Sie dürfen nicht vergessen«, hob sie an, »dass ich Schulleiterin bin.« Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung drückte sie die Innenseite ihrer schmalen linken Hand auf den auffällig goldenen Zopf auf ihrem stumpf-braunen Haar. Keine der Damen dieser Schule hatte ausreichend zu essen gehabt – jahrelang. »Wir akzeptieren instinktiv«, fuhr sie fort, »jedes Mittel, um etwas zu erfahren. Ich mag Sie sehr gerne, Valentine – wenn Sie mir erlauben, Sie privat so anzureden. Und ich dachte, für den Fall, dass Sie sich in …«

»In Schwierigkeiten befinden?«, fragte Valentine … »In Gefahr?«

»Sie müssen verstehen«, erwiderte Miss Wanostrocht, »dass dieser … Person ebenso sehr daran gelegen war, mir Dinge über Sie mitzuteilen, wie Ihnen – es war der Vorwand, Sie anzurufen – Nachrichten über eine, eine … andere Person mitzuteilen. Mit der Sie einmal … Umgang hatten. Und die wieder aufgetaucht ist.«

»Ach!«, hörte Valentine sich ausrufen. »Er ist wieder aufgetaucht, wirklich? Ich habe so etwas geahnt.« Sie war froh, dass sie sich unter Kontrolle hatte.

Vielleicht brauchte sie sich gar keine Sorgen zu machen. Sie konnte nicht sagen, dass im Vergleich dazu, was sie gerade noch vor zehn Minuten gewesen war, sie sich verändert fühlte durch das Wiederauftauchen eines Mannes, von dem sie gehofft hatte, ihn aus ihrem Bewusstsein getilgt zu haben. Ein Mann, der sie »beleidigt« hatte. Auf die eine oder andere Weise hatte er sie beleidigt!

Wahrscheinlich aber hatte sich ihre gesamte Lebenslage verändert. Bevor Edith Ethel ihren unmöglichen Satz in jenen Apparat gesprochen hatte, hatte sich ihre Vorstellung vom Leben auf nichts weiter als auf ein Familienpicknick unter Feigenbäumen am Rand eines ungewöhnlich blauen Meeres beschränkt – und dieser Lebenstraum schien ihr so leicht erfüllbar wie ein Kuss auf die eigene Hand! Mutter in Schwarz und Rot; Mutters Sekretärin in schmucklosem Schwarz. Der Bruder? Oh, eine romantische Figur; schlank, muskulös, in weißen Hosen und mit einem feinen Strohhut und – ja, warum sollte man denn keine romantischen Vorstellungen von seinem Bruder haben – einer breiten scharlachroten Schärpe. Mit einem Fuß auf dem Strand, mit dem anderen … in einem sanft auf den plätschernden Wellen schaukelnden leichten Boot. Netter Junge; netter kleiner Bruder. Seit Kurzem bei der Marine und deshalb in der Lage, ein leichtes Boot zu führen. Morgen würden sie abreisen … aber warum nicht schon an diesem Nachmittag, mit dem Zug um vier Uhr zwanzig?

»Sie hatten die Schiffe und hatten die Männer

Und das Geld hatten sie obendrein!«

Gott sei Dank hatten Sie das Geld!

In zwei Wochen würden die Schiffe bestimmt wieder fahren, Charing Cross – Vallombrosa. Und die Gepäckträger würden auch wieder aus der Armee entlassen sein. Man konnte nicht mit Mutter, Mutters Sekretärin und Bruder hinlänglich bequem reisen – mit deiner ganzen Welt und dem nötigen Gepäck – ohne eine Schar von Gepäckträgern … Und Buttermarken? Was konnten sie schon bedeuten, verglichen mit einer Reise ohne Gepäckträger?

Nachdem sie einmal damit begonnen hatte, fuhr sie in Gedanken fort, das alte britische und antirussische Kriegslied aus den fünfziger oder siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu singen, das einer ihrer kleinen Freunde kürzlich wiederentdeckt hatte – um die historische Wildheit seiner Landsleute unter Beweis zu stellen:

»Wir haben’s dem Bären schon früher gezeigt

Und werden es wieder tun!

Der Russe kriegt Konstantinopel nie …«

»Oh!«, rief sie plötzlich aus.

Eigentlich hatte sie »Oh, verdammt!«, sagen wollen, doch die plötzliche Erinnerung daran, dass der Krieg seit mehr als einer Viertelstunde vorbei war, hatte sie dazu bewogen, es bei »Oh!« zu belassen. Du darfst nicht mehr wie im Krieg sprechen! Du bist jetzt wieder eine junge Dame. Auch der Frieden hat sein Ermächtigungsgesetz. Trotzdem hatte sie an den Mann, der sie einmal beleidigt hatte, als an den Bären gedacht, mit dem sie wieder würde kämpfen müssen! Doch mit warmer Großmut sagte sie:

»Eine Schande, ihn einen Bären zu nennen!« Trotzdem war er – der Mann, von dem es hieß, er sei »wieder aufgetaucht« – mit all seinen Problemen ein bisschen absorbierend … Irgendwie überwältigend, mit seinen wiegenden grauen Schultern, die dich mit der Last ihrer unerträglichen Probleme mitsamt deinen eigenen Problemen aus dem Weg schoben …

All diese Gedanken hatten sie noch in der Schulaula beschäftigt, noch bevor sie zur Direktorin gegangen war, und unmittelbar nachdem Edith Ethel, Lady Macmaster, den unerträglichen Satz von sich gegeben hatte.

Lange hatte sie dort nachgedacht … Zehn Minuten!

In knappen Zügen fasste sie die erste einer ganzen Reihe unangenehmer Erfahrungen zusammen – aus einer Zeit, die fast vergessen zu haben sie sich schmeichelte. Vor Jahren hatte Edith Ethel sie aus dem blauen Himmel heraus beschuldigt, von jenem Mann ein Kind zu haben. Dabei trat er in ihren Gedanken kaum als Mann auf. In ihren Gedanken war er eine schwerfällige graue intellektuelle Masse, jetzt wahrscheinlich hinter den geschlossenen Läden eines leeren Hauses in Lincoln’s Inn umherirrend, offenbar geistesgestört, da er den Portier ja nicht erkannt haben soll … Nichts weniger, ich versichere es dir! Sie war nie in diesem Haus gewesen, aber sie stellte ihn sich vor, wie er im Licht, das durch die Schlitze in den Fensterläden des Eingangs brach, über die Schulter weg auf einen zurückschaute, grau wie ein ungeheurer Bär … Auf dem Sprung, dich in einem Anfall von Verwirrung zu umklammern!

Sie überlegte, wie lange es her war, dass die großartige Edith Ethel diese Behauptung erhoben hatte … selbstverständlich mit allem Anschein von Indignation, um der Gattin des Mannes willen, auf deren »Seite« sich Edith Ethel ebenso selbstverständlich gestellt hatte. (Jetzt versuchte sie, »euch wieder zusammenzubringen« … Es war anzunehmen, dass die Gattin nicht oft genug Edith Ethels Teekränzchen besucht oder eine allzu glänzende Erscheinung geboten hatte, wenn sie dort war. Wahrscheinlich Letzteres!) Wie viele Jahre war das her? Zwei? Nicht so viel! Achtzehn Monate? Bestimmt mehr! … Mindestens, bestimmt mehr! … Wenn man sich in jenen Tagen Gedanken über die Zeit machte, geriet dein Geist haltlos ins Schwimmen … wie Augen, die vom Lesen zu kleiner Schrift zu ermüden begannen … Er war im Herbst ausgerückt, das war sicher … Ja, es war im Herbst, dass er zum ersten Mal ausrückte. Es war Ted, der Freund ihres Bruders, der ’16 ausrückte. Oder der andere … Malachi. So viele rückten aus und kehrten zurück, rückten aus und kehrten vielleicht nicht mehr zurück. Oder nicht mehr ganz: wenn die Nase fehlte … oder die Augen. Oder – oder, oh verdammt! Oh verdammt! Und sie ballte die Hände zu Fäusten, presste sich die Fingernägel in die Hand – verrückt!

Sie konnte sich vorstellen, dass Edith Ethel das gemeint hatte. Er hatte den Portier nicht erkannt; man sagte, er besitze keine Möbel. Dann … Sie erinnerte sich …

Zehn Minuten vor ihrem Gespräch mit Miss Wanostrocht, zehn Sekunden nachdem sie aus dem Mundstück des Telefonapparates gespien worden war – hatte sie auf einer polierten Bank aus Pitchpine gesessen, deren schwarze Eisenfüße an der in einem nonkonformistischen Torpedograu gestrichenen Wand befestigt waren; in zehn Sekunden war ihr alles klar geworden … Ja, genau so war es gewesen!

Im Augenblick, da Edith Ethel die Worte gesagt hatte:

»Die Summe würde absolut niederschmetternd sein …«, hatte Valentine verstanden, dass sie über eine Schuld sprach, die ihr elender Gatte dem einen menschlichen Wesen schuldete, über das nachzudenken sie, Valentine, nicht ertragen konnte. Und natürlich war ihr im selben Moment blitzartig aufgegangen, dass Edith Ethel ihr die jüngsten Neuigkeiten über ihn mitgeteilt hatte: Er war in neuen Schwierigkeiten; zugrunde gerichtet, gesundheitlich zerrüttet, völlig pleite … Nur degradiert hatte man ihn nicht … Aber er war gebrochen … Und allein. Und schrie nach ihr!

Sie vermochte nicht – konnte es nicht ertragen! –, sich auch nur seines Namens zu erinnern oder vor ihr geistiges Auge, dem sie sich unausgesetzt aufdrängten, sein grau-bleiches Gesicht, seine ungeschlachten...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2018
Übersetzer Joachim Utz
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Das Ende der Paraden • Ehekrise • Erster Weltkrieg • Ford Madox Ford • Keine Paraden mehr • Manche tun es nicht • Zapfenstreich
ISBN-10 3-462-31763-6 / 3462317636
ISBN-13 978-3-462-31763-3 / 9783462317633
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