Das wiedergefundene Licht (eBook)

Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand
eBook Download: EPUB
2020 | 15. Auflage
286 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11535-2 (ISBN)

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Das wiedergefundene Licht -  Jacques Lusseyran
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Die berühmt gewordene Lebensgeschichte eines als Kind Erblindeten, der seine Behinderung mit Phantasie und Disziplin überwindet, eines Mannes, dessen Leben als Widerstandskämpfer, Literaturprofessor und Schriftsteller von einer sensiblen Zuversicht getragen war, die ihn befähigte, auf unvergleichliche Weise zu »sehen«.

Jacques Lusseyran, am 19. September 1924 in Paris geboren, studierte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Literatur an der Sorbonne und wurde später in den USA Universitätsprofessor für französische Literatur. Er kam 1971 bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Jacques Lusseyran, am 19. September 1924 in Paris geboren, studierte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Literatur an der Sorbonne und wurde später in den USA Universitätsprofessor für französische Literatur. Er kam 1971 bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Zwei

OFFENBARUNG DES LICHTES


Sieben Jahre lang sprang ich, rannte ich, lief ich durch die Alleen des Champ de Mars. Ich galoppierte die Trottoirs der engen Pariser Straßen entlang, vorbei an zusammengedrängten Häusern und duftenden Wohlgerüchen. Denn in Frankreich hat jedes Haus seinen charakteristischen Geruch. Die Erwachsenen bemerken ihn kaum, doch die Kinder nehmen ihn in seiner ganzen Fülle wahr, und sie erkennen die Häuser an ihrem Geruch. Da gibt es den Geruch des Milchladens, den Geruch der Konditorei, den Geruch der Zuckerbäckerei, den Geruch der Schusterwerkstatt und der Apotheke, oder den Geruch jenes Ladens, dessen Kaufmann in der französischen Sprache einen so schönen Namen trägt, »le marchand de couleurs«, der Farbenhändler. All diese Häuser erkannte ich wieder, wenn ich wie ein kleiner Hund meine Nase in die Luft streckte.

Ich war überzeugt, dass nichts mir feind war, dass die Äste, an die ich mich hängte, mich aushalten würden, dass die Pfade, und selbst die verschlungenen, mich an einen Platz führen würden, wo ich keine Angst zu haben brauchte, und dass alle Wege mich zurück zu meiner Familie bringen würden. Man könnte sagen, dass ich – außer der wichtigsten von allen: der Geschichte des Lebens – keine Geschichte hatte.

Doch da war das Licht. Das Licht übte auf mich einen geradezu faszinierenden Zauber aus. Ich sah es überall, und ich betrachtete es Stunden hindurch. Keiner der Räume unserer Dreizimmerwohnung ist mir deutlich in Erinnerung geblieben, geblieben ist der Balkon: Denn hier, auf dem Balkon, gab es das Licht. Geduldig stützte ich mich auf das Geländer – ich, der ich immer so ungestüm war – und sah zu, wie das Licht vor mir im Trichter der Straße nach rechts und nach links über die Häuserwände rieselte.

Das war kein Rieseln wie von Wasser: Es war leichter, war unendlich, seine Quelle war überall. Ich liebte zu sehen, dass das Licht von keiner bestimmten Stelle herkam, dass es vielmehr ein Element nach Art der Luft war. Wir fragen uns niemals, woher die Luft kommt. Sie ist da, und wir leben. So ist es auch mit der Sonne.

Für mich war die Sonne hoch oben am Mittagshimmel, dieser Fleck im Raum, uninteressant, ich suchte sie an anderen Orten: im Flimmern ihrer Strahlen, im Echo, das wir gewöhnlich nur den Tönen zugestehen, das aber dem Licht gleichermaßen eigen ist. Das Licht gebar neues Licht, rief sich von Fenster zu Fenster, von einem Stückchen Mauer zur Wolke hinauf, drang in mich ein, wurde Ich. Ich schlang Sonne in mich hinein.

Dieser Zauber ließ auch bei Anbruch der Nacht nicht nach. War ich abends vom Spaziergang zurück und das Essen beendet, war der Augenblick gekommen, ins Bett zu gehen, fand ich den Zauber im Dunkel wieder. Dunkel – auch das war für mich Licht, nur in neuer Form und in neuem Rhythmus, ein Licht, das langsamer dahinfloss. Mit einem Wort, nichts auf der Welt, selbst das nicht, was ich hinter geschlossenen Augenlidern in meinem Innern wahrnahm, konnte diesem unendlichen Zauber entgehen.

Auch wenn ich durch den Champ de Mars lief, suchte ich das Licht. Ich wollte mit einem Satz hineinspringen, dort, wo die Allee endet, wollte es fangen wie einen Schmetterling, der über einem Wasserbecken fliegt, mich mit ihm ins Gras oder in den Sand legen. Keine Erscheinung, nicht einmal die Töne, denen ich doch so aufmerksam lauschte, schienen mir so wertvoll wie das Licht.

Mit vier oder fünf Jahren entdeckte ich dann plötzlich, dass man das Licht in der Hand halten kann. Dazu brauchte man nur Buntstifte oder Farbklötze zu nehmen und mit ihnen zu spielen. Jetzt verbrachte ich ganze Stunden damit, Farben aller Art aufzumalen, ohne rechte Form sicherlich, aber ich konnte in sie eintauchen wie in eine Quelle. Meine Augen sind noch heute ganz erfüllt von ihnen.

Man sagte mir später, meine Augen seien schon in diesem Alter schwach gewesen. Kurzsichtigkeit, so viel ich weiß. Damit könnten sich vielleicht »Positivisten« meine Besessenheit erklären. Als kleines Kind wusste ich aber nicht, dass ich nicht besonders gut sehen konnte. Ich kümmerte mich wenig darum; ich war glücklich, mit dem Licht Freundschaft zu schließen, als sei es der Inbegriff der Welt.

Farben, Formen, selbst Gegenstände – auch die schwersten –, sie alle hatten die gleiche Schwingung. Und wenn ich heute den Dingen, die mich umgeben, mit liebevoller Aufmerksamkeit lausche, finde ich diese Schwingung wieder. Fragte man mich nach meiner Lieblingsfarbe, gab ich stets die gleiche Antwort: »Grün«. Erst später habe ich erfahren, dass Grün die Farbe der Hoffnung ist.

Ich bin überzeugt, dass Kinder immer mehr wissen, als sie sagen können; das ist der große Unterschied zwischen ihnen und uns Erwachsenen, die wir bestenfalls ein Hundertstel dessen wissen, was wir sagen. Zweifellos kommt das ganz einfach daher, dass Kinder alles mit ihrem ganzen Sein begreifen, während wir es nur mit unserem Kopf erfassen. Wenn ein Kind von Krankheit oder Leid bedroht wird, merkt es das sofort: Es hört auf zu spielen und sucht Zuflucht bei seiner Mutter. Und auch ich merkte, als ich sieben Jahre alt war, dass das Schicksal einen Schlag gegen mich bereit hielt.

Es geschah in den Osterferien 1932 in Juvardeil, einem kleinen Dorf in Anjou, wo meine Großeltern mütterlicherseits wohnten. Wir waren im Begriff, nach Paris zurückzukehren. Vor der Türe wartete bereits die Kutsche, um uns zum Bahnhof zu bringen. Damals benutzte man für die sieben Kilometer lange Strecke von Juvardeil zur Bahnstation Etriché-Châteauneuf noch einen Pferdewagen. Erst drei oder vier Jahre später bin ich dort zum ersten Mal einem Auto begegnet – dem kleinen Lastwagen des Kolonialwarenhändlers. Die Kutsche also wartete und bimmelte lustig mit ihren Schellen, ich aber war allein im Garten geblieben, lehnte an der Scheunenecke und weinte. Es waren nicht solche Tränen, von denen man mir später erzählte, es waren Tränen, die ich noch heute fühle, wenn ich an sie zurückdenke. Ich weinte, weil es das letzte Mal war, dass ich den Garten sehen konnte.

Ich hatte die schlimme Neuigkeit eben erst erfahren, ich konnte nicht sagen, wie; aber es gab keinen Zweifel daran. Die Sonne auf den Wegen, die beiden großen Buchsbaumsträucher, die Weinlaube, die Tomaten- und Gurkenreihen, die Bohnenstauden, all diese vertrauten Dinge in meinen Augen sah ich zum letzten Mal. Und ich wusste es. Es war viel mehr als nur ein kindlicher Schmerz, und als meine Mutter, die mich gesucht hatte, mich schließlich fand und mich nach meinem Kummer fragte, konnte ich nur sagen: »Ich werde nie mehr den Garten sehen«. Drei Wochen später sollte es Wahrheit werden.

Am dritten Mai ging ich morgens wie gewöhnlich in die Schule, die Grundschule jenes Teils von Paris, in dem meine Eltern wohnten, in der Rue Cler. Gegen zehn Uhr sprang ich wie alle Kameraden auf, um zur Klassentüre und in den Schulhof hinauszustürmen. Im Gedränge um die Türe holte mich ein Junge, der vom anderen Ende des Klassenzimmers kam und wohl älter oder auch schneller war als ich, ein und rempelte mich versehentlich von hinten an. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, und in meiner Überraschung verlor ich das Gleichgewicht. Ich fand keinen Halt mehr, glitt aus – und fiel gegen eine der scharfen Kanten des Lehrerpults.

Wegen der Kurzsichtigkeit, die man bei mir festgestellt hatte, trug ich zu jener Zeit eine Brille aus unzerbrechlichen Gläsern. Eben diese Vorsichtsmaßnahme wurde mir zum Verhängnis. Die Gläser zerbrachen tatsächlich nicht, aber der Stoß war so heftig, dass ein Brillenarm tief in das rechte Auge eindrang und es herausriss.

Natürlich verlor ich das Bewusstsein, doch nur für kurze Zeit. Denn schon auf dem Schulhof, wohin man mich gebracht hatte, kam ich wieder zu mir, und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam – daran erinnere ich mich deutlich –, war: »Meine Augen! Wo sind meine Augen?« Wohl hörte ich um mich herum erschrockene, aufgeregte Stimmen, die von meinen Augen sprachen. Doch auch ohne diese Stimmen, ja selbst ohne diesen entsetzlichen Schmerz hätte ich gewusst, wo ich getroffen war.

Man legte mir einen Verband an und brachte mich – ich fieberte am ganzen Körper – nach Hause. Mehr als vierundzwanzig Stunden lang war hier alles für mich dunkel. Ich erfuhr später, dass der ausgezeichnete Augenarzt, den meine Eltern sofort an mein Lager holten, erklärte, das rechte Auge sei verloren und müsse entfernt werden. Man solle den Eingriff so schnell wie möglich vornehmen. Was das linke Auge angehe, so sei ohne Zweifel auch dieses verloren, weil die Heftigkeit des Stoßes hier eine Sympathische Ophthalmie hervorgerufen habe. Auf alle Fälle sei die Retina des linken Auges an mehreren Stellen...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2020
Übersetzer Uta Schmalzriedt
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Biografie • biografische Darstellung • Biographie • Biographische Darstellung • Lebensgeschichte
ISBN-10 3-608-11535-8 / 3608115358
ISBN-13 978-3-608-11535-2 / 9783608115352
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