Stern 111 (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman | Georg-Büchner-Preis 2023

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
500 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76477-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stern 111 -  Lutz Seiler
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Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlassen Inge und Walter Bischoff ihr altes Leben - die Wohnung, den Garten, ihre Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem »Lebensgeheimnis«, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des »klugen Rudels« aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel betreibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, »die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war«.

Ein Panorama der ersten Nachwendejahre in Ost und West, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse: Nach dem prämierten Bestseller Kruso führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort - in einem Roadtrip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der uns die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden.



Lutz Seiler (geboren 1963) wuchs in Ostth&uuml;ringen auf. Sein Heimatdorf Culmitzsch wurde 1968 f&uuml;r den Uranbergbau geschleift. In Gera schloss er eine Lehre als Baufacharbeiter ab und arbeitete als Zimmermann und Maurer. W&auml;hrend seiner Armeezeit begann er sich f&uuml;r Literatur zu interessieren und selbst zu schreiben. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universit&auml;t in Halle (Saale). 1990 ging Seiler nach Berlin, wo er einige Jahre als Kellner arbeitete. L&auml;ngere Auslandsaufenthalte in Rom, Los Angeles und Paris. Seit 1997 leitet er das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus bei Potsdam. Seiler lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau in Wilhelmshorst und Stockholm.<br /> Von 1993 bis 1998 war Seiler Mitbegr&uuml;nder und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift <em>moosbrand</em>. Er schrieb zun&auml;chst vor allem Gedichte (f&uuml;nf Gedichtsammlungen sind erschienen) und Essays, sp&auml;ter auch Erz&auml;hlungen und Romane. F&uuml;r die Erz&auml;hlung <em>Turksib</em> wurde Seiler 2007 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. F&uuml;r sein Romandeb&uuml;t <em>Kruso</em> erhielt er 2014 den Deutschen Buchpreis. Der Roman wurde in 25 Sprachen &uuml;bersetzt, mehrfach f&uuml;r das Theater adaptiert und von der UFA verfilmt. Sein zweiter Roman<em> Stern 111</em> wurde 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im August 2021 erschien der Gedichtband <em>schrift f&uuml;r blinde riesen</em>. 2023 wird Lutz Seiler mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis ausgezeichnet.

Das Drahtwort


Weit vor der Einfahrt stoppte Carls Zug, begleitet von einem stählernen Stottern und Zucken, als hätte das Herz seiner Fahrt kurz vor dem Ziel plötzlich aufgehört zu schlagen. Draußen ein Meer sich überkreuzender Schienenstränge, dahinter die Klagemauer. Die Klagemauer war eine kilometerlange Ziegelwand, die das Leipziger Bahnhofsgelände zur Stadt hin begrenzte, von seltsamen, an Bienenwaben erinnernden Öffnungen durchbrochen, durch die man eine Straße und Häuser und manchmal auch Menschen sehen konnte. Aus irgendeinem Grund geschah es nicht selten, dass die Züge hier draußen, die Ankunft vor Augen, stehen blieben, für Minuten oder Stunden, es war wie eine alte Plage, ein altbekanntes Leid. Der Blick des Reisenden fiel dann unweigerlich auf diese Mauer – so hatte sie ihren Namen erworben.

Am Morgen nach dem Telegramm war Carl nach Gera aufgebrochen. Er trug saubere Jeans und seine alte schwarze Motorradjacke mit den schrägen Reißverschlüssen über der Brust, darunter ein frisch gewaschenes Hemd. Er besaß drei dieser kragenlosen Arbeitshemden, identische Hemden mit dünnen blassblauen Streifen, die noch aus der Zeit vor dem Studium stammten, aus seiner Lehrzeit auf dem Bau. Er hatte sich sogar die Haare ein Stück abgeschnitten, mühsam, mit seiner stumpfen Nagelschere – schulterlang musste genügen. Wie ein lange Verschollener kehrte er nach Hause zurück, für einen Moment sah er es so. Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr – das war das Traurige an diesen Geschichten. Die Heimkehrer fanden nicht mehr zurück ins Festlandleben. All die Klippen, Stürme, Jahre – die ganze Einsamkeit, die, wie sich herausstellen sollte, im Grunde das Beste gewesen war. Oft vertrugen sie das Festlandessen nicht oder starben an ihrem überlangen Haar, das sie auf Jahrmärkten vorführen mussten, um Geld zu verdienen, und dann, eines Nachts, im Schlaf, legte es sich wie eine Schlinge um ihren Hals …

Der Zugführer lief die Waggons ab, er fluchte und schlug mit einem Stock gegen die Scheiben: »Aussteigen, alles aussteigen!«

Es war ein altes Außengleis mit einem provisorischen Bahnsteig aus Holz. Und eigentlich war es kein Bahnsteig, eher eine Rampe, aus der Gras und seitlich ein paar junge Birken herauswuchsen, denen Altöl und Exkremente nicht viel auszumachen schienen. Ihre Blätter leuchteten gelb. Carl sah dieses Leuchten und hörte das klopfende Geräusch seiner Schritte auf dem Holz der Rampe, wie Sträflinge in einer Reihe marschierten sie Richtung Bahnhofshalle, auf einem schmalen Steg zwischen den Gleisen.

Die halbdunkle Halle war überfüllt, eine wogende Bewegung, Schreie und Gebrüll. Aus den Lautsprechern, die jedes Wort in eine dumpfe, hohle Traumsprache verwandelten, tönte ein einzelner, vollkommen unverständlicher Ruf, immer wieder, in endloser Wiederholung: »Uh-ück!«

Die Belagerung galt dem D-Zug nach Berlin, einer Reihe von acht oder neun schmutzverkrusteten Karossen mit nikotingelben Scheiben. In den Nachrichten des Vorabends war von Sonderzügen und weiteren provisorischen Grenzübergängen die Rede gewesen, verbunden mit der sich formelhaft wiederholenden Bitte um Besonnenheit. Einigen Berlinfahrern gelang es, die Oberlichter der schmierigen Waggons zu erklimmen, um sich kopfüber in die überfüllten Abteile zu stürzen. Eine Szene aus Bombay oder Kalkutta – im Bahnhof von Leipzig wirkte sie maßlos, wie Teil einer überzogenen Choreographie, falsch, aber groß angelegt.

Langsam schob sich Carl ins Gewühl. Immer wieder blieb seine Tasche stecken. Der Trageriemen schnitt in seine Schulter und drohte zu reißen. Augenblicklich bereute er es, all seine Blätter und Bücher mitgeschleppt zu haben – wie dumm, wie leichtsinnig von ihm. Ein paar Flüche kamen auf, sein Gesicht wurde in den groben Filz einer Jacke gepresst, die augenblicklich ein animalisches Geräusch von sich gab – dann rammte etwas seine Brust. Er fiel, gezogen und gedreht von der Last seiner Tasche. Jemand, der ihn sicher nur auffangen wollte, stieß ihm mit Wucht die flache Hand ins Gesicht; Carl schmeckte Schweiß und verlor die Orientierung.

»Uh-ück! Uh-ück!«

Der Ruf kam jetzt von ganz oben. Es war die Stimme eines trunkenen Riesen, der aus der rußgeschwärzten Kathedrale des Bahnhofs herunterlallte, doch seine Zwerge gehorchten nicht mehr.

»Meine Tasche!«, rief Carl, als er wieder zu sich kam.

»Welche Tasche, junger Mann? Meinen Sie diese?«

Die Tasche war noch da, genau genommen lag er darauf. Für einen Moment sah Carl nichts als Gesichter, die sich über ihn beugten, angespannt, aber beherrscht. Es ist die Freude, dachte Carl, reine Freude. Aber eigentlich konnte er nicht erkennen, was sie beherrschte, ob es noch Freude war oder schon Hass.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Ein Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt, streckte ihm ein Taschentuch entgegen. Wie immer überraschte Carl das leuchtende Rot, diese frische, leicht fettige Substanz, die im Grunde nicht von ihm stammen konnte, Blut.

»Wird es gehen?« Das Mädchen berührte Carl am Arm, er sah ihr rundes Gesicht und darin ihre sehr hellen, wässrigen Augen, wie blind.

›Nein, du musst jetzt bei mir bleiben, für immer.‹

»Danke, es geht schon.«

Er ging weiter, auf einen leeren Bahnsteig hinaus. Er gab sich Mühe, nicht besonders auf das blinde Mädchen zu achten (sie war nicht blind), aber sie blieb bei ihm und hielt ihn am Arm, sie waren ein Paar, so lange, bis Carl sich endlich auf eine Bank fallen ließ.

»Wollten Sie auch nach Berlin?«

Carl legte den Kopf zurück und spürte es im Hals – ein warmer Faden, der irgendwo am Gaumen abgespult wurde und eigenartigerweise ein wenig brannte, man musste schlucken, immer wieder, bekam ihn aber nicht hinunter. Seit früher Jugend blutete ihm öfter die Nase. Als es auf diese Dinge noch angekommen war, hatte er seine Freunde damit beeindruckt, dass er die Blutung mit einem einzigen Schlag seiner Faust gegen die Stirn zum Stillstand bringen konnte. Es war ein Boxertrick. Der Handballen fuhr mit Schwung gegen die Stirn, genauer gesagt, er glitt mit einem Stoß darüber hinweg. Der Schlag musste kräftig sein; der Kopf flog dabei ruckartig nach hinten, und auf den Ruck kam es an. War man zu zögerlich, funktionierte es nicht.

»Nein, ich wollte …« Er schüttelte vorsichtig den Kopf, um die Drehbewegung vor seinen Augen zu stoppen. Eine Weile blieb das Mädchen noch bei ihm stehen. Carl überlegte, was er sie fragen könnte, aber dann war sie plötzlich gegangen, und er murmelte die Antwort:

»Nach Hause. Ich wollte nach Hause.«

Zentimeterweise löste sich der D-Zug nach Berlin vom Bahnsteig, die überfüllten Waggons glitten vorüber. Jemand brüllte: »Arrivederci, du Penner!«, und ein Chor, der sich spontan zusammengefunden hatte, stimmte das Lied an, das Carl nur in der melancholischen Tonlage seiner Großmutter kannte: »Ich möcht ja so gerne noch bleiben …« Carl sah zu, wie sich die Wagen entfernten. Der ausfahrende Chor kam an der Rampe mit den leuchtenden Birken vorbei, die zittrig und schüchtern zu winken begannen.

Das Wort Penner summte noch in seinem Schädel. Ein Penner war jemand, der mit blutender Nase auf einem Bahnsteig hockte, an dem kein Zug abfuhr. Jemand, der nicht weiß, wohin die Reise geht, dachte Carl.

Er zog das Telegramm aus seiner Tasche. Es war nur ein Zettel, handgeschrieben, darunter ein Stempel, in der rechten unteren Ecke hatte der Bote Datum und Uhrzeit notiert: 10. November, 9.20 Uhr. »wir brauchen hilfe komm doch bitte sofort deine eltern.« Kein Vorwurf, nichts über sein monatelanges Schweigen, nur das, ein Hilferuf. Nur das kleine schwache Wörtchen doch, Carl konnte es hören, leise, von seiner Mutter gesprochen: »komm doch«. Er sah, wie sie den Berg hinuntereilte in den Ort, mit ihren kurzen, kräftigen Schritten, er sah, wie sie die Adresse diktierte, wie sie das Telegrammformular ausfüllte, sorgfältig, aber auch angespannt, nervös, weshalb sie die Anrede versäumte, und er sah, wie Frau Bethmann, die Frau am Schalter, die Silben zählte. Selbst in diesen Tagen, in denen die unvorstellbarsten Dinge geschahen, funktionierte »das Drahtwort«, wie sie es nannten in den Schalterstuben der Post.

Carl musste zugeben, dass er sich bis...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-76477-2 / 3518764772
ISBN-13 978-3-518-76477-0 / 9783518764770
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