Denkanstöße 2021 (eBook)

Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99793-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denkanstöße 2021 -  Isabella Nelte
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Was kann jeder von uns tun, um grüner und nachhaltiger zu leben? Warum müssen wir über Heimat und Identität nachdenken, wenn wir als Gesellschaft wieder handlungsfähig werden wollen? Und was verrät die Nachwendegeneration über den Status Quo der deutschen Einheit? Diese Fragen stehen stellvertretend für die Denkanstöße 2021, die acht besondere Perspektiven auf unser gesellschaftliches, privates und politisches Leben versammeln und damit zum Nachdenken anregen. In diesem Lesebuch erwarten Sie kenntnisreiche und herausfordernde Beiträge von Nora Kreft, Bettina M. Pause und Shirley Seul, Denis Scheck, Philipp Gut, Valerie Schönian, Alexander von Schönburg, Rolf Dobelli und Ulrich Wickert.

Isabella Nelte studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, bevor sie sich mit einer antiquarischen Buchhandlung einen Lebenstraum erfüllte. Sie lebt mit ihrer Familie in einer alten Mühle im Taunus.

Isabella Nelte studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, bevor sie sich mit einer antiquarischen Buchhandlung einen Lebenstraum erfüllte. Sie lebt mit ihrer Familie in einer alten Mühle im Taunus.

Nora Kreft
Was ist Liebe, Sokrates?


Die Liebe stellt regelmäßig unser Leben auf den Kopf. Man kann nicht nebenbei lieben und ansonsten weitermachen wie bisher: Liebe verändert uns von Grund auf, verwandelt Sehnsüchte und Wünsche, und auch unsere Wahrnehmung. Wir sehen und hören anders, wenn wir lieben, weil unsere Aufmerksamkeit einen neuen Fokus hat. Kein Wunder, dass gerade der Beginn der Liebe sehr verwirrend und anstrengend sein kann. Alle Gedanken kreisen auf einmal um den Liebsten oder die Liebste, und man hofft nichts sehnlicher, als dass man zurückgeliebt wird. Das macht ziemlich verletzlich, nicht nur anfangs, sondern überhaupt: Liebende gewöhnen sich nicht wirklich an die Liebe und werden mit der Zeit nicht weniger verletzlich. Wenn man zum Beispiel eine Person verliert, die man liebte, ist es nicht leicht, weiterhin jeden Tag aufzustehen und weiterzuleben. Es ist, als ob uns erst die Liebe erklärte, was Sterben eigentlich bedeutet und was Alleinsein ist.

Liebe überkommt uns manchmal plötzlich, und manchmal bahnt sie sich langsam an, aber in jedem Fall entzieht sie sich unserer direkten Kontrolle. Sie mischt sich zwar in unsere Entscheidungen ein, zumindest in die wichtigen, aber zur Liebe selbst kann man sich nicht einfach entscheiden. Man kann sich zu ihr bekennen oder nicht, man kann versuchen, die Schar von Gefühlen und Wünschen zu ignorieren, die sie mit sich bringt, aber ob man überhaupt liebt, liegt nicht einfach in unserer Hand, und das gilt für romantische Liebe ebenso wie für Elternliebe, Geschwisterliebe, tiefe Freundschaft und so weiter.

Wenn sie uns so verändert und verletzlich macht und wir sie noch nicht einmal selbst in der Hand haben, warum sehnen wir uns trotzdem nach Liebe? Was ist das Besondere an ihr? Warum würden die meisten sogar lieber unglücklich als überhaupt nie lieben? Warum versuchen wir, sie in unzähligen Liedern in Worte zu fassen? Warum ist es überhaupt so schwer, die richtigen Worte für Liebe zu finden? Warum vertun wir uns so oft dabei und setzen immer wieder an?

Weil Liebe so ein erstaunliches Phänomen ist und weil es sie schon seit Anfang der Menschheit zu geben scheint – auf jeden Fall seit Beginn der von Menschen dokumentierten Geschichte –, hat sich auch die Philosophie schon immer Gedanken über Liebe gemacht. Große Philosophen und Philosophinnen aus allen Jahrhunderten haben sich gefragt, was romantische Liebe, Elternliebe, Geschwisterliebe und tiefe Freundschaft gemeinsam haben, was sie eigentlich alle zu Liebe macht, und kluge Ideen zu Papier gebracht. Wäre es nicht ungemein spannend, wenn sie durch die Zeit reisen und unsere Fragen zur Liebe mit uns diskutieren könnten? Die grundlegenden Fragen, die sich allen Menschen schon immer gestellt haben, aber auch über die Themen, die uns im Augenblick ganz besonders angehen und die Ausdruck unserer Zeit und Kultur sind – Dating Apps, Liebe und künstliche Intelligenz und so weiter?

 

Auf den folgenden Seiten spinnen wir dieses Gedankenspiel weiter. Acht Philosophinnen und Philosophen treffen aufeinander, und zwar in Immanuel Kants Haus in Königsberg, also im heutigen Kaliningrad. Es sind historische Figuren aus ganz verschiedenen Zeiten, die Wesentliches zur Philosophie der Liebe beigetragen haben: Sokrates aus der klassischen Antike, Augustinus aus deren Endphase und dem beginnenden Mittelalter, Immanuel Kant aus dem 18. und Søren Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert, Sigmund Freud und Max Scheler aus der ersten und Simone de Beauvoir und Iris Murdoch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie kommen zusammen, weil Immanuel Kant eine mysteriöse Einladung verschickt hat. Früher lud er häufig zu sich ein, aber irgendwann wurde es still um ihn. Jetzt taucht er plötzlich aus der Versenkung auf und will über Liebe reden. Dem historischen Immanuel war die Liebe moralisch suspekt. Der Immanuel in diesem Buch will das Thema noch einmal aufrollen, und seine sieben Gäste sollen ihn dabei unterstützen.

Schränkt Liebe unsere Autonomie ein?


Sokrates läutete die nächste Sitzung ein: »Jetzt ist die Zeit gekommen, um über Glück und Unglück zu sprechen. In den trägen Mittagsstunden, in denen die Müdigkeit ihr Netz auswirft.«

Simone schaute ihn etwas ratlos an. Sie wusste nicht recht, ob sie warten oder anfangen sollte. Immanuel hatte für einen Moment die Augen geschlossen und döste im Sonnenlicht, das jetzt durch die Fenster schien. Dann rappelte er sich auf und sagte: »Ein paar Schluck Wasser und wir sind wieder in Fahrt, meine Freunde! In zwei Stunden mache ich einen kurzen Gang um den Block – natürlich gern in Begleitung, falls jemand mitkommen möchte. Aber bis dahin: Simone, erklär uns doch bitte deine Zweifel.«

Simone stand in den Startlöchern: »Es ist ganz einfach«, begann sie. »Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass Liebe etwas Gutes ist? Liebe macht doch oft ziemlich unglücklich: Wenn der Geliebte die Liebe nicht erwidert oder wenn ihm etwas zustößt, wenn er gar stirbt, dann leidet die Liebende furchtbare Schmerzen und kann sich auf gar nichts anderes mehr konzentrieren. Liebe macht verletzlich.«

»Aber das Glück, das man erfährt, solange man den Geliebten um sich hat und mit ihm das Leben teilen darf, ist diese potenziellen Schmerzen doch wert. Man geht ein Risiko ein, wenn man sich auf Liebe einlässt, aber ganz ohne Risiko gibt es nichts Gutes, oder?«, meinte Iris und goss sich Kaffee nach.

»Doch!«, mischte sich Augustinus ein. »Wer Gott liebt, geht kein Risiko ein. Gott kann man nicht verlieren. Deshalb kann man sich an ihm ganz ohne Angst und Schmerz erfreuen. Darum glaube ich ja, dass wir nur Gott lieben und die weltlichen Güter links liegen lassen sollten. Na ja, und auch aus den Gründen, die ich heute Morgen schon vorgetragen habe.«

Iris sah nachdenklich aus, aber Simone übernahm wieder, noch bevor sie etwas erwidern konnte: »Hey, ich war noch nicht fertig! Ich spreche jetzt nur von Liebe zu anderen Menschen, Augustinus, denn die Möglichkeit der Gottesliebe hilft Atheistinnen wie mir nicht wirklich weiter. Die Liebe zu Menschen macht, wie gesagt, verletzlich und ist deshalb riskant. Egal ob erotische Liebe oder Elternliebe oder enge Freundschaft. Insbesondere die erotische Liebe birgt allerdings noch weitere Gefahren, über die wir nachdenken müssen. Denn selbst wenn alles einigermaßen glimpflich verläuft, man als Liebespaar zusammenlebt und einem der Geliebte nicht abhandenkommt, kann sie dazu führen, dass man sich selbst verliert. In der Liebe gibt es zwei widerstreitende Tendenzen: eine, die die Autonomie der Liebenden bestärkt und fördert, und eine, die genau das Gegenteil zu Folge hat und ihre Autonomie untergräbt. Liebende wollen einerseits miteinander kommunizieren, einander herausfordern und sich gerade an ihrer Zweisamkeit erfreuen, und dafür müssen beide autonom sein. Und andererseits haben sie den Hang, sich mit dem Geliebten zu identifizieren, zu denken und zu tun, was er denkt und tut. Und zwar nicht, weil man es selbst überdacht hat und auch für richtig hält, sondern nur, weil es von ihm kommt.«

»Ist das nicht …«

»Immer noch nicht fertig, Immanuel!«, rief Simone und streckte ihm defensiv die Handflächen entgegen. »Unter bestimmten Umständen wird diese zweite Tendenz besonders wirkmächtig und gewinnt die Oberhand, zum Beispiel in Gesellschaften, die von Unterdrückung gekennzeichnet sind. Patriarchale Gesellschaften fallen darunter. Dort werden Männer als die eigentlichen Subjekte gehandelt, die sich entfalten und autonom werden sollen, während Frauen nur an der Seite eines Mannes soziale Anerkennung bekommen. Es wird von Frauen nicht erwartet, ein eigenständiges Leben zu führen, sondern einen attraktiven Mann zu ergattern, an dessen Leben sie dann teilhaben und den sie in seinem Werdegang unterstützen können. Unter anderem indem sie die Kinder großziehen und den Haushalt führen. Ihre Begabungen können Frauen hier nicht wirklich entwickeln und ausleben, höchstens als amüsantes Hobby, und dementsprechend frustriert und gelangweilt sind sie oft. Besonders wenn die Kinder dann aus dem Haus sind. Als Gegengift gegen diese Frustration und – ja, mehr noch – dieses Leid stürzen sie sich in die Liebe. Sie geben sich ihrem Mann ganz hin, und er muss als Gegenleistung für sie leben, groß herauskommen, Karriere machen. Je stärker er ist, desto besser fühlt sie sich mit ihren gestutzten Flügeln. Die Liebe zu ihm verstärkt also ihre gesellschaftliche Ohnmacht, ja macht sie zur Komplizin ihrer eigenen Unterdrückung. In einer solchen Situation kann es für Frauen wirklich besser sein, der Liebe zu entsagen oder wenigstens keine konventionellen Beziehungen mit Männern zu führen. Denn erstens ist Autonomie ein ebenso hohes Gut wie Liebe, wenn nicht ein noch höheres, und die geht einem in solchen Szenarien verloren. Und zweitens wird die Liebe durch den Verlust von Autonomie ja ohnehin torpediert: So eine Abhängigkeit vom Geliebten kann nicht lange gut gehen. Falls sich herausstellt, dass der Mann gar nicht so stark ist wie erhofft, oder wenn er scheitert, dann erfüllt er nicht mehr seine Funktion für die frustrierte Frau. Und wenn die Frau keine eigenen Gedanken mehr hegt und sich völlig für den Mann aufreibt, dann wird auch sie mit der Zeit weniger interessant, weniger attraktiv für ihn. Und aus ist es mit der Liebe, die doch die Rettung sein sollte.«

Simone hatte ihre Überlegungen mitreißend und bestimmt vorgetragen. Die anderen waren nacheinander aus ihrer Versenkung aufgetaucht, als ob Simones Körperspannung sie aufgerichtet hätte. Man war jetzt bei der Sache.

»Also, du willst sagen: Liebende haben immer schon den Hang, sich selbst aufzugeben und ihre Autonomie für den Geliebten an den Nagel zu hängen....

Erscheint lt. Verlag 31.8.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte ALEXANDER VON SCHÖNBURG • Anthologie • Ben Ferencz • Bestseller • Bettina M. Pause • Denis Scheck • geschenk buch • Lesebuch • Nora Kreft • Rolf Dobelli • Rückblick • Ulrich Wickert • Valerie Schönian
ISBN-10 3-492-99793-7 / 3492997937
ISBN-13 978-3-492-99793-5 / 9783492997935
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