Lachmöwe (eBook)
480 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99873-4 (ISBN)
Gisa Pauly hängte nach zwanzig Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und veröffentlichte 1994 das Buch »Mir langt's - eine Lehrerin steigt aus«. Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Ihre Sylt-Krimis um die resolute Mamma Carlotta erobern jedes Jahr aufs Neue die Bestsellerlisten. Gisa Pauly wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Satirepreis der Stadt Boppard und der Goldenen Kamera des SWR für das Drehbuch »Déjàvu«. Die Leser der Fernsehzeitschrift rtv wählten sie zur beliebtesten Autorin des Jahres 2018.
Gisa Pauly hängte nach zwanzig Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und veröffentlichte 1994 das Buch "Mir langt's – eine Lehrerin steigt aus". Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Ihre Sylt-Krimis um die resolute Mamma Carlotta erobern jedes Jahr aufs Neue die Bestsellerlisten. Gisa Pauly wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Satirepreis der Stadt Boppard und der Goldenen Kamera des SWR für das Drehbuch "Déjàvu".
2
Erik erschrak, als der linke Blinker den Takt zu schlagen begann. »Ich Idiot!«
Da hatte er doch tatsächlich den Weg genommen, der ihm in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war, die Richtung, die er blindlings einschlug, wenn er in Gedanken war. Und das war er an diesem Morgen! Die Staatsanwältin hatte angerufen. Tilla! So musste er sie jetzt nennen. Ungern, aber was blieb ihm anderes übrig? Von Anfang an hatte er sie nicht ausstehen, ihre ruppige, unfreundliche Art nicht leiden können. Wenn sie ihn anrief, brachte sie nicht einmal die Höflichkeit auf, ihn zu begrüßen oder sich gar nach seinem Befinden zu erkundigen. Nein, sie fiel immer gleich mit ihrem Anliegen ins Haus und zeigte ihm dann mit der Verächtlichkeit, die sie beherrschte wie keine Zweite, mit diesem Naserümpfen, das er vor sich sah, obwohl sie in Flensburg an ihrem Schreibtisch saß, was sie von ihm hielt. Nichts nämlich! Er war zu träge, zu trödelig, zu leidenschaftslos und zu umständlich. Alles andere als ein gewiefter Kriminalbeamter, der auf Zack war. Erst recht kein attraktiver Mann, keiner, der sich gut und modisch kleidete, der mehr für sein Äußeres tat, als regelmäßig zum Friseur zu gehen und seinen Schnauzer zu pflegen. Schon seit Jahren war er für sie wegen seiner Mittelmäßigkeit ein rotes Tuch. Bis vor einigen Monaten war das so gewesen. Dann allerdings hatte sich etwas geändert. Noch immer konnte er nicht sagen, was eigentlich passiert war. Oder vielmehr … er wollte es nicht.
Er fuhr auf den Parkplatz, der voller Baufahrzeuge stand, auch ein Kran war dort aufgestellt worden. Das Polizeirevier Westerland, das seit Jahren in dem alten Gebäude am Kirchenweg untergebracht war, musste unbedingt renoviert werden. Aber schnell hatte sich herausgestellt, dass es nicht damit getan sein würde, den Anstrich der Räume und die Fußböden zu erneuern. Es waren eklatante Schäden an dem alten Gemäuer festgestellt worden, die umfangreiche Umbaumaßnahmen erforderlich machten. Und das würde lange dauern. So war die gesamte Polizei in ein paar hässliche Container umgesiedelt worden, die neben dem Telekom-Gebäude errichtet worden waren. Die Kriminalpolizei hatte Glück gehabt, ihr waren ein paar Büroräume in der oberen Etage des Telekom-Gebäudes überlassen worden. Und Erik, mit der Stimme der Staatsanwältin im Ohr und ihren Worten in den Gedanken, war daran vorbeigefahren, die Kjeirstraße bis zu ihrem Ende, und dann in den Kirchenweg eingebogen. Erst als er die Lieferwagen der Baufirma am Straßenrand gesehen hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass er den Weg zur Arbeit gefahren war, der ihm seit Jahren vertraut war. Tilla würde mit Spott nicht sparen, wenn sie davon erführe.
Tilla! Was für ein exaltierter Name! Aber er passte zu ihr. Ende des vorigen Jahres war es passiert. Sie hatten an einer Hotelbar mehrere Cocktails getrunken, und Erik war der Fehler unterlaufen, die Staatsanwältin zu küssen. Unter Alkoholeinfluss, wohlgemerkt! So was zählte doch nicht. Noch heute bereute er es bitter und konnte sich überhaupt nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Wenn sie wenigstens darüber hinweggegangen wäre und diese dumme Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen hätte. Aber nein! Sie duzte ihn seitdem und machte keinen Hehl daraus, dass sich zwischen ihr und dem Kriminalhauptkommissar von Sylt im zwischenmenschlichen Bereich etwas verändert hatte.
Während Erik auf dem Parkplatz wendete, um wieder in den Kirchenweg einzubiegen und zum Telekom-Gebäude zurückzufahren, brummte er ungehalten vor sich hin. Alle Streifenpolizisten von Sylt tuschelten vermutlich darüber, dass Erik Wolf und Dr. Tilla Speck etwas miteinander hatten. Erik mochte sich gar nicht vorstellen, welche Blüten Klatsch und Tratsch mittlerweile trieben.
Langsam fuhr er die Kjeirstraße zurück und bog auf den Parkplatz neben den Containern ein. Dort war für ihn ein Platz reserviert, an dem sein Name stand. Sein Mitarbeiter Sören Kretschmer stand neben seinem Rennrad, das er sorgfältig am Fahrradständer angekettet hatte, und wartete auf ihn.
»Warum hat das so lange gedauert, Chef?«
Erik antwortete nicht, sondern ging an ihm vorbei in den Container, an dem ein großes Schild mit der Aufschrift Polizeirevier Sylt – Wache prangte. Er trat durch die Tür, die den Hinweis trug: Bitte hier klingeln/anmelden, allerdings ohne zu klingeln, und erst recht, ohne sich anzumelden. Polizeimeister Enno Mierendorf und Obermeister Rudi Engdahl beschäftigten sich dort in aller Seelenruhe mit ein paar Handtaschen- und diversen Ladendiebstählen. Zurzeit ereignete sich nicht viel auf Sylt, obwohl die Saison schon begonnen hatte. Die Touristen aus Nordrhein-Westfalen hatten die Insel als Erste gestürmt, viele Feriengäste aus anderen Bundesländern würden an diesem Wochenende folgen. Erik ließ sich auf den neuesten Stand der träge laufenden Ermittlungen bringen, dann verließ er den Container wieder und ging zum Eingang des Telekom-Gebäudes, in dem Sören bereits verschwunden war. Wenn Tilla gesehen hätte, mit welcher Gemütlichkeit im Revierzimmer gearbeitet wurde! Sie wäre hellauf entsetzt gewesen.
Erik musste lange auf den Aufzug warten, Sören war natürlich zu Fuß in die dritte Etage hochgestiegen, er nutzte ja jede Gelegenheit zur körperlichen Ertüchtigung. Seit sie ihr Büro im Telekom-Gebäude hatten, ermahnte Sören seinen Chef häufig, etwas für seine Fitness zu tun. »Jeden Tag ein paarmal hier hoch und wieder runter, das bringt schon was!«
Doch Erik fand jedes Mal einen neuen Grund, warum es ihm gerade an diesem Tag nicht möglich war. Mal wollte er nicht in Schweiß geraten und sein frisches Hemd ruinieren, mal wollte er nicht mit Atemnot oben ankommen, wo jemand auf ihn wartete, dem er sich fit und ausgeruht präsentieren wollte, und dann wieder hatte er einfach keine Lust. So wie an diesem Tag. Es fiel ihm wesentlich leichter, lange auf den Aufzug zu warten, als die Treppen hochzusteigen. Er besaß eben mehr Geduld als Bewegungsdrang. Außerdem konnte er hier, vor der Lifttür, die sich nicht öffnete, in Ruhe in sich gehen.
Insgesamt dachte er viel mehr über Dr. Tilla Speck nach, als ihm recht war und als irgendjemand ahnte. Seine Schwiegermutter versuchte ja oft, seine Ideen anzustoßen und in Tillas Richtung zu schieben. Wenn sie dann verzweifelte, weil er nicht reagierte, hatte sie keine Ahnung, dass er längst in Gedanken bei der Staatsanwältin war. Ihr letzter Fall hatte sie noch näher zueinandergeführt. Wieder hatte er sie geküsst. Und diesmal konnte er sich nicht darauf berufen, dass Alkoholeinfluss seine Sinne vernebelt hatte. Nun fielen ihm auch wieder ihre Worte ein. Es war am Strand gewesen, bei Dunkelheit, in einem Strandkorb, in dem sie sich verstecken konnten. Sie hatte ihm gestanden, dass sie nicht wegen der Ermittlungen nach Sylt gekommen war, sondern seinetwegen. Und er hatte nichts darauf erwidert, hatte die Worte zwischen ihnen stehen und dann davonfliegen lassen, war später nicht darauf zurückgekommen und hatte sich in letzter Zeit oft gefragt, was seine Verschlossenheit wohl bei ihr anrichtete. Welche Frau hielt es aus, den Blick auf ihre Gefühle freizugeben und keine Erwiderung zu erhalten? Als er sich diese Frage zum ersten Mal gestellt hatte, war ihm klar geworden, wie schäbig er sich benommen hatte. Notgedrungen hatte er sie angerufen und war sich noch erbärmlicher vorgekommen, als sie sich darüber freute.
Endlich öffnete sich die Tür des Aufzugs, zwei Telekom-Angestellte schoben einen Stuhl und mehrere Pakete heraus und warfen ihm eine Erklärung zu, warum es so lange gedauert hatte. Er hörte gar nicht zu, winkte ab, als hätte er alle Zeit der Welt, und stieg in den Aufzug. Heute Morgen hatte Tilla ihn angerufen, weil sie nach Sylt kommen wollte. Frühere Nachbarn aus Flensburg hatten endlich ein Haus auf Sylt gefunden, in Eriks Nähe, und die Staatsanwältin eingeladen, sie bald zu besuchen.
»Stell dir vor, sie wohnen auch am Süder Wung. Da könnte ich doch mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich werde die Gerckes besuchen, mir ihr neues Haus ansehen, mich zu Carlotta in die Küche setzen, ihr beim Kochen zusehen und abends etwas mit dir unternehmen. Wie wär’s mit der Bar vom Hotel Windrose?« Sie hatte leise gelacht. »Wir haben immer noch nicht unser Versprechen eingelöst. Der Barkeeper wartet noch darauf, uns alle Cocktails zu mixen, die er im Repertoire hat.«
Und er? Er hatte zugesagt und behauptet, er freue sich über ihren Besuch. Zum Glück hatte sie gleich ergänzt, sie habe wieder ein Hotelzimmer gebucht. Allerdings nicht im Hotel Windrose, dort war nichts mehr frei gewesen, sondern im Horizont, in dem seine Tochter ihre Ausbildung machte. Aber egal! Hauptsache Hotelzimmer! Erik lebte nach wie vor in der Angst, seine Schwiegermutter könne der Staatsanwältin das Gästezimmer anbieten. Tja, und nun freute er sich tatsächlich. Auch deswegen, weil sie das Gespräch begonnen hatte, indem sie ihren Namen nannte und Erik begrüßte. Dass sie ihn duzte, hatte auch den Vorteil, dass sie nicht mehr seinen Nachnamen auf ihn abschoss, so wie früher, sondern ihn beim Vornamen nannte, der viel weicher und freundlicher über ihre Lippen kam. Und am Ende des Gesprächs hatte sie noch liebenswürdige Worte gefunden, ehe sie den Hörer auflegte. Es hatte also tatsächlich etwas gefruchtet, dass er sich ein Herz gefasst und ihr erklärt hatte, wie sehr ihn ihre Unhöflichkeit aufbrachte.
Sein Mitarbeiter Sören Kretschmer, frischgebackener Oberkommissar, hatte schon seine Akten aus dem Schrank genommen und grinste ihn an. »Haben Sie wieder den Aufzug genommen?«
Er war ein sportlicher junger Mann von Ende zwanzig, der auf ein Auto verzichtete und jeden Weg mit seinem Rennrad...
Erscheint lt. Verlag | 3.5.2021 |
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Reihe/Serie | Mamma Carlotta |
Mamma Carlotta | Mamma Carlotta |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestellerautorin • Bücher für den Urlaub • Bücher Romane für Frauen • Demenz • Deutsche Krimis • humorvoller Krimi • Kommissar • Küstenkrimi • lustiger Krimi • Mamma Carlotta • Nordsee • Pflegerin • Regionalkrimi • Rezepte • Strandlektüre • Sylt Krimi • Urlaub • Urlaubslektüre |
ISBN-10 | 3-492-99873-9 / 3492998739 |
ISBN-13 | 978-3-492-99873-4 / 9783492998734 |
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