Sagen und Legenden vom Niederrhein -  Tilman Röhrig

Sagen und Legenden vom Niederrhein (eBook)

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2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Regionalia Verlag
978-3-95540-755-1 (ISBN)
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Von Drachen, Zwergen und dem Teufel selbst: Die schönsten Sagen und Legenden vom Niederrhein erzählt uns Tilman Röhrig in seiner wunderbaren Sprache neu - und er hat sie aufgespürt, die legendären Gestalten und Wesen des Niederrheins: Den Schwanenritter von Kleve; die Geschichte der Elga von Liedberg, deren junges Leben auf dem Scheiterhaufen endet; den Schlafkamp bei Meerbusch; die große Drachensage von Geldern; die Legende des Heiligen Norbert von Xanten; die teuflischen Beutezüge in Kempen, Wesel, Büderich und Grefrath ... »Tilman Röhrigs Denken und Schreiben öffnet fundamentale Lebensbilder, die Erfahrungen und Handeln bestimmen. Dabei wird ein umfassendes Zeitbild deutlich, das wie ein Gewebe alle Facetten des Lebens durchwirkt ... Erzählungen entstehen durch seine literarische Kunst, die uns Fremdartiges nahebringt, um zu versuchen, durch Miterleben zu begreifen.« (Prof. Dr. Peter Conrady)

Tilman Röhrig, geboren 1945, ist freischaffender Schriftsteller, viele seiner Bücher erreichten hohe Auflagen und wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt. »Sagen und Legenden vom Niederrhein« ist sein drittes Werk über die Regionen des Rheinlandes, das im Regionalia Verlag erscheint.

Eins

Der Drache von Geldern


Auf dem Feld hat er fünf Knechte

in seinen Klauen zerrissen.

Im Morgengrauen schäumte das Wasser auf Rhein und Maas. Von Norden her flogen Drachenboote den Ufern zu, die furchtbaren Echsenköpfe zum Angriff erhoben, wie Flammen züngelten ihre gespaltenen Zungen. Aus den Bäuchen sprangen Unholde an Land. Sie ließen die Boote wie leere Hüllen zurück. Jeder Trupp trug sein Drachenhaupt voran, jeder Mann wurde zum Teil eines riesigen Leibes, ihre Schilde fügten sich zur ledernen Schuppenhaut. In den Augen glühten Gier und Mordlust. Mit Feuer, Schwertern und Äxten fielen Wikingerhorden über das blühende Land des Niederrheins her, zerrissen Kinder, Frauen und Männer, fraßen das Vieh, sie stießen den Brand in jede Hütte, jedes Haus. Des Nachts zeichneten Feuerlohen und Funkenregen ihre todbringenden Bahnen. Anfang Mai des Jahres 878 führte die Spur eines der Drachen direkt in das Gebiet des Herrn von Pont.

»Ich verbiete es!«, befahl der verhärmte Mann seinen beiden Söhnen. Lupold und Wichard standen vor dem Vater, beide waren gerüstet. Drache oder Rotte der Wikinger, ganz gleich, die Junker waren zum Kampf bereit. »Wir dürfen doch nicht tatenlos zusehen.« Wichard war stark. Lupold, der ältere Bruder, ersetzte körperliche Kraft durch Gewandtheit und Vernunft. Sie waren der Stolz des Vaters.

»Wir warten.« Otto von Pont wollte keinen der beiden dem sicheren Tod ausliefern. »Vielleicht werden wir und die Burg verschont.«

Kein Angriff bedrohte den Herrensitz. Mordend und plündernd zerstörte das Ungeheuer die Siedlungen und Gehöfte rundum, zog über die Grenze und nistete sich, kaum eine Wegstunde entfernt, im weiten Sumpfgebiet am Ufer der Niers ein. Otto von Pont atmete auf. »Gott hat mein Gebet erhört.«

»Aber Vater!« Lupold zeigte von der Wehrmauer ins verwüstete Land. »Dort lebten Menschen, die für uns das Brot backten, unser Vieh hüteten. Die meisten unserer Höfler liegen nun erschlagen auf den Feldern. Auch sie haben gebetet, doch Gott hat sie nicht erhört. Sie hofften auf unseren Schutz, doch wir haben uns feige verkrochen.«

»Schweig!« Zornröte flammte im Gesicht des Herrn von Pont. »Wage es nicht, deinen Vater zu mahnen.«

Erbittert stieß jetzt Wichard die Fäuste gegeneinander. »Wer sich nicht wehrt, der geht unter.«

»Wie dumm ihr seid!« Der alte Mann zwang sich zur Ruhe. »Seit Jahrzehnten werden mein Land und auch die übrigen Herrschaftsgebiete des Niederrheins immer wieder heimgesucht. Niemand kann dieser teuflischen Geißel widerstehen. Ihr wart noch Kinder ...« Otto von Pont stockte, die Erinnerung bereitete ihm Qual. »Eure Mutter. Sie hat es gewagt. Um euch zu schützen.« Damals saß Frau von Pont am Ufer der Niers. Ihre Söhne ließen glatte Steine übers Wasser hüpfen, jauchzten. Jäh fuhr eine der Bestien zwischen den Sträuchern hervor. Noch ehe das vielköpfige Ungeheuer über den Kindern war, stellte sich ihm die Mutter entgegen.

»Ihr konntet gerettet werden. Doch sie ...« Otto von Pont schloss die Augen. »Was auch geschieht. Ich will euch nicht auch verlieren.« Nie war die Wunde verheilt, der Verlust hatte den Herrn gebrochen. Wichard und Lupold blickten sich an und schwiegen.

Im Juni erreichten bestürzende Nachrichten die Burg: Ein Hirte hatte nahe des Sumpfgebietes seine Schafe auf die Weide getrieben. Des Morgens fanden zwei Müllerknechte den verstümmelten Mann am Wegrand. »Der rote Drache ... Vom Mispelbaum kam er ... Meine Tiere hat er gefressen ... Ich wollte fort ... Dann ...« Mit einem Röcheln starb der Schäfer.

Einige Tage später wankte eine Magd auf den Hof. Der Kittel hing in Fetzen, ihr Gesicht war leichenblass, das Haar verkohlt. »Der Drache!« Sie hustete, keuchte: »Gestank und Feuer kamen aus dem Maul.« Sie rang nach Luft und stürzte leblos zu Boden.

»Die Bestie hat das Dach der Scheune weggerissen. Rüben und alles Korn hat sie gestohlen.«

»Auf dem Feld hat sie gestern fünf Knechte in ihren Klauen zerfleischt.«

Niemand wagte sich mehr in die Nähe des von Schlinggewächsen überwucherten Mispelbaums, niemand bestellte mehr seinen Acker am Rand des Sumpfgebietes. Voll Grauen rafften die Menschen ihre wenige Habe zusammen. Doch wohin? Ihr kleines Volk hatte keinen eigenen Vogt, und der König war weit. Sie flohen über die Grenze zur Burg des Herrn von Pont, lagerten draußen vor dem Tor. Wer Macht hat, der soll uns auch beschützen, verlangten sie stumm.

»Öffnet Speicher und Keller.« Otto von Pont schickte seine Söhne. »Wir teilen mit den Armen. Sie sollen satt werden. Mehr vermag ich nicht zu tun.«

»Doch, Vater«, begehrte Wichard auf.

Ehe Lupold dem Bruder beipflichten konnte, herrschte Otto: »Gehorcht!« Seine hagere Gestalt zitterte.

Im August waren die Vorräte der Burg fast aufgezehrt. Alle Felder lagen brach, keine neue Ernte wurde eingebracht. Von Woche zu Woche mengte der Bäcker mehr Asche und Erde ins Mehl. Es gab kaum noch Fleisch. Wieder und wieder wurden die Knochen des Schlachtviehs ausgekocht. Hunger quälte die Kinder, die Frauen und Männer vor dem Tor, leer blieben die Schüsseln auf dem Tisch in der Burghalle. Wichard zerdrückte das Trinkhorn. »Auch ohne Kampf tötet uns der Drache. Erst verhungern die Leute da draußen, dann wir selbst.«

Otto von Pont stützte den Kopf in beide Hände.

Leise drängte Lupold den Vater: »Nichts tun bedeutet Schuld. Wie willst du diese Last tragen?«

Der hagere Mann stöhnte. Schließlich blickte er seine Söhne an. »Ihr habt recht. Gott wird mich strafen, wenn ich weiter tatenlos zusehe. Nur, ich bin zu alt und müde, deshalb sollt ihr …«

»Ja, Vater!«, riefen beide. »Wir kämpfen gegen das Untier!«

»Nein!« Die scharfen Falten um den Mund vertieften sich. »So hört doch.« Er wandte sich an Lupold. »Du hast Verstand. Halte deinen Bruder zurück. Ja, ihr sollt den Drachen töten, doch nicht mit ihm kämpfen.«

Wichard schleuderte das Trinkgefäß gegen die Hallenwand. »Zögern! Zaudern! Wie lange noch? Losschlagen müssen wir. Mit Gott, Drauf und Dran!«

Inständig flehte der Vater um Mäßigung. »Blinde Kühnheit allein macht euch nicht zu Helden. Erst wenn es keinen Ausweg mehr gibt, wird Mut zum Heldenmut.«

Lupold begriff. »Sorg dich nicht. Mir fällt schon was ein.«

Noch am selben Tag riefen sie im Zeltlager vor der Burg die verängstigten Menschen zusammen. »Wer hat den Drachen gesehen?« Breitbeinig stand Wichard da.

Zaghaft meldete sich ein Bauer, dann der Schmied, dann traten Mägde und Knechte vor.

»Wie sieht die Bestie aus?« Alles wollte Lupold wissen, genau musste er den Feind kennen, um gegen ihn anzutreten.

Die Antworten ließen ihn erbleichen. Selbst Wichard sanken die mächtigen Schultern. Groß und rot war er, das wussten sie. Doch dann: drei Echsenköpfe. Aus jedem Maul züngelten todspeiende Schlangen. Der schuppige Rumpf war bis zum Schwanz mit einem spitzigen Höckerkamm bewehrt. Flügel hatte er wie eine riesige Fledermaus und gekrümmte Krallenklauen. Nicht nur Feuer spie der Drache.

Mehr noch wussten die Gequälten zu berichten: Wen der Blick aus den glühenden Augen traf, der wurde blind. Allein sein heißer Atem verwelkte Blätter, verdorrte das Gras. Mit gellenden Schreien lähmte er seine Opfer. Im Schwanz saß die größte Kraft. Ein einziger Schlag fällte Ochsen, oder er umschlang die Beute und zerquetschte sie. »Wenn der Drache einatmet, saugt er alles an, was vor ihm steht.« Der Bauer griff sich an die Kehle. »Niemand …«

»Genug!« Lupold wehrte ab. Mit rauer Stimme versicherte er: »Ich und mein Bruder«, er schluckte schwer, bemühte sich, den Menschen etwas Hoffnung zu geben, »wir werden das Land von dieser Ausgeburt der Hölle befreien.«

Kaum waren die Junker zurück im Burghof, brummte Wichard: »Wie denn? Da hilft nur Drauf und Dran, und wenn es uns das Leben kostet.«

»Warte ab.«

Lupold ließ den Bruder die letzten drei Schweine schlachten. Er selbst rührte im Kessel einen kalten Brei aus Blut, Pech und Haaren, dazu gab er Sumpfschlangenwurz, Kornrade und viel vom Wasserschierling. Diesen Giftschlamm füllte er in die Saumägen und nähte sie mit gezwirbelten Darmsehnen zu.

Im Nachmittag des letzten Augusttages ritten die Brüder aus dem Tor. Heiß war es. Am Rand des Sumpfgebiets saßen sie ab. Drüben, inmitten des kahlgebrannten Feldes, ragte der Mispelbaum. Sie waren entfernt genug, um den Drachen nicht zu reizen, nah genug, um die tödlichen Köder auszulegen. Deutlich führte eine schwarz verkohlte Schneise bis zum Ufer der Niers. Diesen Weg nahm das Ungeheuer, wenn es den Durst stillen wollte.

Rasch legten Wichard und Lupold die prallen Saumägen aus und hasteten davon. Nahe der Grenze warteten sie. Kein Laut war zu hören. Erst in der Dämmerung erzitterte die Erde wie unter hundert Pferdehufen. Lupold fasste den Arm des Bruders. »Vielleicht, Wichard, vielleicht …«

Schreie! Markerschütterndes Gebrüll. Der Lärm riss ab. Nach einer Weile folgte urtiefes Röcheln, Würgen. Feuerlohen zuckten über der Niers. Und dann wieder ließ das...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95540-755-1 / 3955407551
ISBN-13 978-3-95540-755-1 / 9783955407551
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