Das Ereignis (eBook)

Spiegel-Bestseller
Nobelpreis für Literatur 2022 | Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf?

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
103 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76940-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Ereignis -  Annie Ernaux
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Nobelpreis für Literatur 2022

Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.

Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf? Mit schonungsloser Offenheit erzählt Annie Ernaux von ihrem eigenen Schwangerschaftsabbruch. Und von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste - und die bis heute nachhallen.



Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.

 
 
 
 
 
 

Im Oktober 1963 wartete ich in Rouen über eine Woche darauf, dass meine Tage kamen. Es war ein sonniger, warmer Monat. Ich fühlte mich schwer und verschwitzt in meinem zu früh hervorgeholten Mantel, vor allem in den Kaufhäusern, durch die ich schlenderte, um Nylonstrümpfe zu kaufen, während ich darauf wartete, dass die Vorlesungen wieder anfingen. Wenn ich in das Studentinnenwohnheim in der Rue d'Herbouville zurückkehrte, hoffte ich jedes Mal, einen Fleck in meinem Schlüpfer zu entdecken. Ich begann abends in meinen Kalender zu schreiben, in Großbuchstaben und unterstrichen: NICHTS. Nachts wachte ich auf und wusste sofort, dass da »nichts« war. Im Jahr zuvor hatte ich um dieselbe Zeit herum begonnen, einen Roman zu schreiben, das kam mir jetzt sehr weit weg vor, wie etwas, das sich nicht wiederholen würde.

 

An einem Nachmittag ging ich ins Kino und sah mir einen italienischen Schwarz-Weiß-Film an, Il posto. Er war langsam erzählt und traurig, es ging um das Leben eines jungen Mannes und seine erste Arbeitsstelle in einem Büro. Der Saal war fast leer. Während ich die magere Gestalt des kleinen Angestellten im Regenmantel betrachtete, die Demütigungen, die er erlitt, wusste ich angesichts der absoluten Trostlosigkeit des Films, dass meine Tage nicht kommen würden.

 

An einem Abend ließ ich mich von einigen Mädchen aus dem Wohnheim mit ins Theater nehmen, sie hatten eine Eintrittskarte übrig. Es wurde Geschlossene Gesellschaft von Sartre gespielt, und ich hatte noch nie ein zeitgenössisches Stück gesehen. Es war ausverkauft. Ich betrachtete die Bühne, weit weg, grell erleuchtet, und dachte die ganze Zeit, dass ich meine Tage nicht hatte. Ich erinnere mich nur noch an die Figur der Estelle, blond, im blauen Kleid, und an den Diener in Livree, mit roten, lidlosen Augen. In meinen Kalender schrieb ich: »Großartig. Wäre da nur nicht diese REALITÄT in meinem Unterleib.«

 

Ende Oktober hörte ich auf zu glauben, dass sie noch kommen würden. Ich ließ mir für den 8. November einen Termin bei einem Gynäkologen geben, Doktor N.

 

Allerheiligen fuhr ich wie immer zu meinen Eltern. Ich befürchtete, meine Mutter würde mich zu der Verzögerung befragen. Ich war sicher, dass sie jeden Monat beim Sortieren der schmutzigen Wäsche, die ich nach Hause brachte, meine Schlüpfer inspizierte.

 

Als ich am Montagmorgen aufstand, war mir flau im Magen und ich hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund. In der Apotheke gab man mir Hepatoum, einen dicken grünen Sirup, von dem mir noch schlechter wurde.

 

O., ein Mädchen aus dem Wohnheim, schlug vor, ich könne an ihrer Stelle an der katholischen Privatschule Saint-Dominique Französisch unterrichten. Es war eine gute Gelegenheit, etwas zu meinem Stipendium dazuzuverdienen. Die Mutter Oberin empfing mich mit der Anthologie Lagarde et Michard für das 16. Jahrhundert in der Hand. Ich erklärte, dass ich noch nie unterrichtet hätte und mich davor fürchtete. Das sei normal, sie selbst habe ihre Philosophieklasse zwei Jahre lang ausschließlich mit gesenktem Blick betreten können. Mir gegenüber auf ihrem Stuhl mimte sie die Erinnerung. Ich sah nur noch den verschleierten Kopf. Als ich ihr Büro mit dem Lagarde et Michard, den sie mir geliehen hatte, verließ, stellte ich mir vor, ich stünde vor einer zehnten Klasse, den Blicken der Schülerinnen ausgesetzt, und mir wurde übel. Am nächsten Tag rief ich die Mutter Oberin an und sagte ab. Sie erwiderte unwirsch, ich solle ihr das Schulbuch zurückbringen.

Am Freitag, den 8. November, begegnete ich auf dem Weg zur Place de l'Hôtel-de-Ville, wo ich den Bus zu Doktor N. in der Rue La Fayette nehmen wollte, Jacques S., einem Studenten der Literatur und Sohn eines Fabrikanten aus der Gegend. Er fragte, was ich am linken Ufer der Seine zu tun habe. Ich antwortete, ich hätte Magenschmerzen und wolle zu einem Stomatologen. Er korrigierte mich entschieden: Ein Stomatologe sei nicht für Magenleiden zuständig, sondern für Infektionen der Mundhöhle. Aus Angst, er könnte wegen meines Fehlers Verdacht schöpfen und mich zur Arztpraxis begleiten wollen, ließ ich ihn, als der Bus kam, abrupt stehen.

 

In dem Moment, als ich von der Liege stieg und mir mein großer grüner Pulli über die Oberschenkel fiel, sagte der Gynäkologe, ich sei höchstwahrscheinlich schwanger. Was ich für eine Magenverstimmung gehalten habe, sei Morgenübelkeit. Er verschrieb mir trotzdem Spritzen, die meine Menstruation auslösen sollten, schien aber selbst nicht an ihre Wirkung zu glauben. An der Tür grinste er jovial, »Kinder der Liebe sind immer die schönsten«. Ein grauenhafter Satz.

Ich ging zu Fuß zurück zum Wohnheim. Im Kalender steht: »Ich bin schwanger. Wie schrecklich.«

 

 

Anfang Oktober hatte ich mehrmals mit P. geschlafen, einem Studenten der Politikwissenschaften, den ich in den Sommerferien kennengelernt und daraufhin in Bordeaux besucht hatte. Ich wusste, dass ich mich nach dem Knaus-Ogino-Kalender in einer riskanten Phase befand, aber ich glaubte nicht, dass sich da etwas in mir »einnisten« könnte. In der Liebe und der Lust hatte ich nicht das Gefühl, mein Körper unterscheide sich grundsätzlich von dem eines Mannes.

 

Alle Bilder meines Aufenthalts in Bordeaux – das Zimmer am Cours Pasteur mit dem ständigen Autolärm, das schmale Bett, die Terrasse des Café Montaigne, das Kino, in dem wir uns einen Historienfilm, Der Raub der Sabinerinnen, ansahen – bedeuteten nur noch eins: Ich war dort gewesen, ohne zu wissen, dass ich gerade schwanger wurde.

 

Am Abend gab mir die Krankenschwester des Studentenwerks kommentarlos eine Spritze, am nächsten Morgen eine zweite. Wegen des Feiertags am 11. November war es ein langes Wochenende. Ich fuhr zu meinen Eltern. Irgendwann floss ein hellrotes Rinnsal aus mir heraus. Ich legte den Schlüpfer und die befleckte Leinenhose gut sichtbar auf den Haufen schmutziger Wäsche. (Kalender: »Eine kurze, folgenlose Blutung. Genug, um meine Mutter zu täuschen.«) Zurück in Rouen rief ich Doktor N. an, der mir meinen Zustand bestätigte und ankündigte, er werde mir die Schwangerschaftsbescheinigung schicken. Ich bekam sie am nächsten Tag. Entbindung von: Mademoiselle Annie Duchesne. Voraussichtlicher Termin: 8. Juli 1964. Ich sah den Sommer, die Sonne. Ich zerriss die Bescheinigung.

 

Ich schrieb P., dass ich schwanger sei und es nicht behalten wolle. Beim Abschied hatten wir nicht gewusst, wie es mit uns weitergehen würde, und ich fand es befriedigend, seine Sorglosigkeit zu stören, auch wenn ich mir keine Illusionen darüber machte, dass er meine Entscheidung abzutreiben mit großer Erleichterung aufnehmen würde.

 

Eine Woche später wurde Kennedy in Dallas ermordet. Aber dafür konnte ich schon kein Interesse mehr aufbringen.

 

 

 

 

 

Die folgenden Monate sind in ein Dämmerlicht getaucht. Ich sehe mich unablässig durch die Straßen laufen. Jedes Mal, wenn ich später an diese Zeit zurückdachte, kamen mir literarische Ausdrücke in den Sinn, »die Fahrt hinaus«, »jenseits von Gut und Böse« oder auch »Reise ans Ende der Nacht«. Sie schienen mir dem zu entsprechen, was ich damals erlebt und empfunden hatte, etwas Unsagbares von einer gewissen Schönheit.

 

Seit Jahren umkreise ich dieses Ereignis in meinem Leben. Wenn ich in einem Roman von einer Abtreibung lese, stürzt mich das in eine bild- und gedankenlose Erstarrung, als würden die Worte sofort zu einem heftigen Gefühl werden. Ebenso erschüttert es mich, wenn ich zufällig La javanaise, J'ai la mémoire qui flanche oder ein anderes Chanson höre, das mich in jener Zeit begleitet hat.

 

Vor einer Woche habe ich mit dieser Erzählung begonnen, ohne die geringste Gewissheit, dass ich sie fortsetzen würde. Ich wollte nur mein Bedürfnis, darüber zu schreiben, überprüfen. Ein Bedürfnis, das unweigerlich in mir aufkam, wenn ich an dem Buch schrieb, an dem ich seit zwei Jahren arbeite. Ich widerstand ihm, musste...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Übersetzer Sonja Finck
Sprache deutsch
Original-Titel L'Événement
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960ger • Abtreibung • aktuelles Buch • Aufstieg • Autofiktion • Bestseller bücher • Biografie • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Bürgertum • Didier Eribon • Die Jahre • Edouard Louis • Édouard Louis • Eine Frau • Feminismus • Frankreich • Frau • Frauen • Geburt • Literaturnobelpreis • Milieu • Neuerscheinungen • neues Buch • Nobelpreis • Paris • Pierre Bourdieu • Roe v. Wade • Scham • Schwangerschaftsabbruch • Sexualität • Sozialscham • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • spiegel bestsellerliste • Spiegel-Bestsellerliste • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 5275 • ST5275 • suhrkamp taschenbuch 5275 • Supreme Court • Tabu • Trauma • Verhütung • Weiblichkeit
ISBN-10 3-518-76940-5 / 3518769405
ISBN-13 978-3-518-76940-9 / 9783518769409
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