Das verlorene Paradies (eBook)

Roman. Nobelpreis für Literatur 2021
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2021 | 1. Auflage
336 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29437-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das verlorene Paradies -  Abdulrazak Gurnah
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»Wer als weißer Europäer Gurnah liest, begreift die eigene Provinzialität, den so engen Ausschnitt, mit dem er die Welt und ihre Geschichte betrachtet. Was für eine glückliche Wahl aus dem so fernen Schweden.« DIE ZEIT
Feinsinnig, lebendig und in leichtem, humorvollem Ton erzählt Abdulrazak Gurnah vom Erwachsenwerden des zwölfjährigen Yusuf in einer Welt des Übergangs: Als sich Yusufs Vater mit seinem kleinen Hotel verschuldet, wird der Junge in die Hände von »Onkel« Aziz gegeben und muss vom Land in die Stadt umziehen. Täglich erlebt er, wie subtile Hierarchien das Zusammenleben von afrikanischen Muslimen, christlichen Missionaren und indischen Geldverleihern bestimmen. Als sein Onkel Yusuf auf eine Karawanenreise ins Landesinnere mitnimmt, endet dessen Jugend abrupt. Die Kolonialisierung durch die Europäer beginnt in seiner ostafrikanischen Heimat Spuren zu hinterlassen. Das alte Leben verschwindet und mit ihm Yusufs Traum von seinem kleinen Garten Eden. Im Original 1994 erschienen, stand der Roman u.a. auf der Shortlist des Booker Prize und bedeutete Gurnahs Durchbruch als Schriftsteller.

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag.

Die Stadt in den Bergen


1

Seine erste Reise ins Landesinnere kam unerwartet. Allmählich gewöhnte er sich an zufällige Ereignisse dieser Art. Die Vorbereitungen waren in vollem Gang, als Yusuf erfuhr, dass er auch an dem Ausflug teilnehmen sollte. Im hinteren Teil des Ladens und auf der Terrasse hatten sich Vorräte für die Reise angesammelt. Wohlriechende Säcke mit Datteln und Beutel mit getrockneten Früchten wurden in einem der angrenzenden Lagerräume gestapelt; angezogen von dem Duft und der süßen Feuchtigkeit, die aus den gewirkten Strohsäcken strömten, fanden Bienen und Wespen ihren Weg durch die vergitterten Fenster. Andere Packen, die nach Hufen und Fellen rochen, wurden eilig direkt ins Haus gebracht. Sie waren sperrig und in Juteleinen verpackt.

»Magendo«, raunte Khalil. »Schmuggelware für die Grenze. Das große Geld.«

Mit hochgezogenen Brauen beobachteten Kunden das Eintreffen der mit Juteleinen umhüllten Lieferungen und wechselten verschwörerische Blicke mit den alten Männern. Diese waren zwar von ihrer Bank auf der Terrasse vertrieben worden, aber von einem Platz unter den Bäumen sahen sie dennoch gelassen dem Treiben zu, nickten und grinsten, als hätten sie Anteil an allem, was da vor sich ging. Sooft Yusuf von einem der Alten in Beschlag genommen wurde, musste er sich weitschweifige, bedächtige Reden über Hämorrhoiden, Stuhlgang und Verstopfung anhören, je nachdem, wem er in die Hände gefallen war. Hatte er jedoch ihr Gerede von den Gebrechen eines verfallenden Körpers ertragen, durfte er anschließend Geschichten von anderen Reisen hören und erleben, wie die alten Männer in der Aufregung der Vorbereitungen zu einer neuen Expedition sich selbst vergaßen.

Die Luft war geschwängert vom Geruch nach fremden Ländern, der Reisen in die Ferne heraufbeschwor, und hallte wider von Befehlen und Anweisungen. Als der Tag des Aufbruchs näher rückte, legte die Hektik sich allmählich. Onkel Aziz’ ruhiges, gedankenverlorenes Lächeln, sein unbewegtes, gleichmütiges Gesicht ließen den Leuten keine andere Wahl, als sich anständig zu benehmen. Schließlich brach die Expedition in heiter-gelassener Stimmung auf, angeführt von dem Hornisten, der eine geschwätzige Melodie blies, und den Trommlern, die sie mit einem passenden Rhythmus untermalten. Auf den Straßen standen die Leute unbeweglich da und beobachteten, wie sie vorbeizogen, fast zaghaft lächelnd und ihnen zuwinkend. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen zu leugnen, dass dieser Zug ins Landesinnere der Sinn ihres Daseins war, gleichzeitig wussten sie um die Worte, mit denen man solche Reisen als notwendig erscheinen lassen konnte.

Yusuf hatte schon so viele Aufbrüche miterlebt; mittlerweile genoss er die Unruhe und Hektik der Vorbereitungen. Er und Khalil mussten den Trägern und Wachmännern helfen, irgendwelche Dinge zu holen und wegzubringen, mussten die Augen offen halten, zählen. Onkel Aziz selbst beteiligte sich kaum an den Vorbereitungen. Die Regelung der Einzelheiten lag in den Händen seines mnyapara, Mohammed Abdalla. Der Teufel! Sooft Onkel Aziz zu einer seiner langen Reisen aufbrechen wollte, schickte er nach dem mnyapara, der sich irgendwo im Landesinneren aufhielt. Und er kam immer, denn Onkel Aziz war ein wohlhabender Kaufmann, der seine Expeditionen selbst ausrüsten konnte und keinen Kredit bei einem indischen mukki aufnehmen musste. Für einen solchen Mann zu arbeiten, war eine Ehre. Es war Mohammed Abdallas Aufgabe, die Träger und Wachmänner anzuheuern und mit ihnen ihren Anteil am Gewinn auszuhandeln. Er war auch dafür verantwortlich, sie im Zaum zu halten. Die meisten von ihnen waren Leute von der Küste, oft von weit her, von Kilifi und Lindi und Mrima. Der mnyapara flößte ihnen allen Respekt ein. Sein finsteres, drohendes Aussehen, das erbarmungslose Funkeln in seinen Augen verhießen jedem, der ihm in die Quere kam, harte Strafe. Die einfachsten und gewöhnlichsten Gesten vollzog er im Wissen um diese Macht, die er auskostete. Er war ein großer, kräftiger Mann, der in Vorwegnahme einer Herausforderung mit vorgerückter Brust einherschritt. In seinem massigen Gesicht mit den hohen Wangenknochen schienen ungestillte Bedürfnisse aufzuwallen. Mit einem dünnen Bambusstock, den er immer bei sich trug, verlieh er seinen Gesten Nachdruck; war er verärgert, so ließ er ihn durch die Luft zischen oder auf den Rücken eines faulen Arbeiters niedersausen, wenn er zornig war. Er stand in dem Ruf, ein brutaler Männerliebhaber zu sein, und oft konnte man beobachten, wie er geistesabwesend über seine Lenden strich. Die Leute, vor allem solche, die Mohammed nicht eingestellt hatte, behaupteten, er suche sich Träger aus, die willens waren, sich während der Reise für ihn auf allen vieren auf den Boden zu kauern. Manchmal sah er Yusuf mit einem Furcht einflößenden Lächeln an und schüttelte leicht den Kopf vor Entzücken. »Mashaallah«, sagte er. Ein Wunder Gottes. Dann wurden seine Augen sanft vor Freude, und sein Mund verzog sich zu einem ungewohnten Grinsen, das seine vom Kautabak fleckigen Zähne entblößte. Wenn diese Qual ihn überkam, stieß er tiefe Seufzer der Lust aus und murmelte Zeilen eines Liedes über das Wesen der Schönheit. Er war es, der Yusuf sagte, dass er sie auf ihrer Reise begleiten solle; selbst diese einfache Anweisung klang bedrohlich.

Für Yusuf bedeutete es eine lästige Unterbrechung der Gleichförmigkeit, die sein Leben in der Gefangenschaft im Lauf der Jahre angenommen hatte. Denn trotz allem war er in Onkel Aziz’ Laden nicht unglücklich gewesen. Mittlerweile war ihm klar, er war als rehani hier, an seinen Onkel Aziz verpfändet, um für die Schulden seines Vaters bei dem Kaufmann zu bürgen. Es war nicht schwer zu erraten, dass sein Vater sich im Lauf der Zeit zu viel Geld geliehen hatte, mehr noch als der Verkauf seines Hotels einbringen würde. Oder er hatte Pech gehabt. Oder hatte törichterweise Geld ausgegeben, das er nicht besaß. Khalil erklärte ihm, so mache der Seyyid es immer, um dann, wenn er irgendetwas brauchte, Leute zur Hand zu haben, die angewiesen werden konnten, das zu tun, was nötig war. Wenn der Seyyid dringend Geld brauchte, opferte er eine Handvoll seiner Schuldner, um es aufzutreiben.

Vielleicht würde eines Tages sein Vater, wenn er es zu etwas gebracht hatte, kommen und ihn freikaufen. Er weinte um seine Mutter und seinen Vater, wann immer er Gelegenheit dazu hatte. Manchmal geriet er in Panik bei dem Gedanken, ihr Bild könnte in seiner Erinnerung verblassen. Der Klang ihrer Stimme oder eine bestimmte Eigenschaft – das Lachen seiner Mutter, das widerstrebende Grinsen seines Vaters – erschien wieder vor seinen Augen, und das beruhigte ihn. Nicht dass er sich nach ihnen gesehnt hätte, jedenfalls tat er dies mit jedem Augenblick weniger; vielmehr war einfach die Trennung von ihnen das denkwürdigste Ereignis in seinem Leben gewesen. Daher dachte er oft daran und war traurig über das, was er verloren hatte. Dinge fielen ihm ein, die er über sie hätte wissen oder nach denen er sie hätte fragen sollen. Die erbitterten Auseinandersetzungen, die ihm solche Angst eingejagt hatten. Die Namen der beiden Jungen, die ertrunken waren, nachdem sie Bagamoyo verlassen hatten. Bezeichnungen von Bäumen. Wenn er nur daran gedacht hätte, sie derlei zu fragen, dann käme er sich vielleicht nicht so unwissend und gefährlich losgelöst von allem vor. Er verrichtete die Arbeit, die man ihm auftrug, führte die Anweisungen aus, die Khalil ihm erteilte, und verließ sich allmählich ganz auf seinen »Bruder«. Wenn er durfte, arbeitete er im Garten.

Dass er den Garten so sehr mochte, hatte seinen Eindruck auf den alten Mann nicht verfehlt, Mzee Hamdani, der morgens und am frühen Nachmittag kam, um sich darum zu kümmern. Der alte Mann sagte nur selten etwas und wurde ärgerlich, wenn er gezwungen war, beim Absingen der zum Teil von ihm selbst komponierten Verse zum Lob Gottes innezuhalten, um jemandem zuzuhören. Jeden Morgen begann er, ohne irgendjemanden zu grüßen, mit seiner Arbeit, füllte die Eimer und schöpfte mit den Händen das Wasser aus ihnen, wenn er über die Wege schritt, so als existiere nichts außer diesem Garten und dieser Arbeit. Wenn die Sonne zu heiß brannte, setzte er sich in den Schatten eines der Bäume und las, leise vor sich hin murmelnd und sich hin und her wiegend, in einem kleinen Buch, ging völlig in seinem hingebungsvollen Beten auf. Nachmittags, nach den Gebeten, wusch er sich die Füße und verschwand. Mzee Hamdani erlaubte Yusuf, ihm zu helfen, wann immer er wollte, weniger indem er ihm irgendeine Aufgabe zuwies, sondern einfach, indem er ihn nicht wegscheuchte. Am späten Nachmittag, wenn die Sonne unterging, hatte Yusuf den Garten für sich. Er stutzte Bäume zurecht, goss und streifte unter den Bäumen und zwischen den Büschen umher. Wenn es dunkel wurde, ertönte nach wie vor die quengelnde Stimme, die ihn wegjagen wollte, obwohl in der zunehmenden Düsternis gelegentlich auch Seufzer und Liedfetzen an sein Ohr drangen. Die Stimme erfüllte ihn mit Traurigkeit. Einmal hörte er einen lang gezogenen Klagelaut voller Sehnsucht, der ihn an seine Mutter denken ließ, sodass er am Fuß der Mauer stehen blieb und, vor Furcht leise zitternd, lauschte.

Yusuf hatte es aufgegeben, nach der Mistress zu fragen. Es machte Khalil wütend.

»Das geht dich nichts an; du sollst keine nutzlosen Fragen stellen. Du wirst uns … Kisirani … Unglück bringen. Du willst, dass Unheil über uns kommt.«

Er wusste, er durfte nicht von ihr reden, wollte er Khalil nicht zornig machen, obwohl er notgedrungen die Blicke auffing, die die Kunden wechselten, wenn sie...

Erscheint lt. Verlag 7.12.2021
Übersetzer Inge Leipold
Sprache deutsch
Original-Titel Paradise
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Deutsch-Ostafrika • eBooks • Exil • Heimat in der Fremde • Historische Romane • Kolonialismus Afrika • Literaturnobelpreis 2021 • Nobelpreis für Literatur 2021 • Postkolonialismus • Roman • Romane • Sansibar • spiegel bestseller • Tansania
ISBN-10 3-641-29437-1 / 3641294371
ISBN-13 978-3-641-29437-3 / 9783641294373
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