Jeder für sich und Gott gegen alle (eBook)

Spiegel-Bestseller
Erinnerungen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27561-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jeder für sich und Gott gegen alle -  Werner Herzog
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Die Lebenserinnerungen des großen Filmemachers Werner Herzog. - 'Jetzt schon ein Klassiker.' Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau
Werner Herzogs lang erwartete Erinnerungen erzählen ein Jahrhundertleben, wie es nicht einmal in einen seiner eigenen berühmten Filme passen würde. Ein immerzu hungriger Junge, mit der Mutter aus dem bombardierten München in ein bitterarmes Nest in den Alpen geflohen. Ein Jugendlicher, der ganz allein lostrampt und bald darauf im hintersten Ägypten im Fieberwahn auf den Tod wartet. Ein Liebender, ein Enthusiast, ein Getriebener: Ein Mann, der mitten im Dschungel leise auf den tobenden Klaus Kinski einredet, ein Mann, der weinend um seinen Freund Bruce Chatwin an dessen Sterbebett sitzt. Wüst und sanft, voller Lebensgier und Staunen über unsere Welt ist dieses Buch ein literarisches Ereignis.

Werner Herzog, 1942 in München geboren, lebt in Los Angeles. Sein Werk mit legendären Filmen wie 'Aguirre, der Zorn Gottes', 'Nosferatu', 'Fitzcarraldo', 'Grizzly Man', 'Höhle der vergessenen Träume' oder 'Mein liebster Feind' wurde mit allen großen Preisen ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen 1978 Vom Gehen im Eis, 2004 Die Eroberung des Nutzlosen, 2021 Das Dämmern der Welt und 2022 die Erinnerungen Jeder für sich und Gott gegen alle.  

2

El Alamein


Vor einiger Zeit fand ich in Unterlagen eine Postkarte meiner Mutter, datiert auf den 6. September 1942, mit Bleistift geschrieben. Die Briefmarke mit dem Portrait von Adolf Hitler ist bereits mit aufgedruckt. Der Stempel ist klar erkennbar: München, Hauptstadt der Bewegung. Die Karte ist adressiert an Herrn Prof. Dr. R. Herzog u. Fam. in Großhesselohe vor München. An meinen Großvater Rudolf Herzog also, den Patriarchen der Familie. Meinen Vater benachrichtigte meine Mutter offensichtlich nicht.

»Lieber Vater«, schreibt sie an meinen Großvater. »Ich teile Dir mit, dass ich gestern Abend einen Sohn geboren habe. Er soll den Namen Werner tragen. Mit schönen Grüßen, Liesel.« Mein Name, Werner, war ein Akt der Auflehnung gegen meinen Vater, der für mich den Namen Eberhard bestimmt hatte. Mein Vater war zum Zeitpunkt meiner Geburt als Soldat in Frankreich, nicht etwa an irgendeiner Front, sondern, weil er sich zu drücken verstand, in der Etappe, wo der Nachschub verteilt wurde, vor allem die Nahrungsmittel. Gezeugt hatte er mich während seines letzten Urlaubs vom Kriegsgeschehen kurz nach Neujahr. Meine Mutter fand später heraus, dass er die erste Hälfte seines Urlaubs von zehn Tagen zuvor bei einer Geliebten verbracht hatte und erst danach bei ihr auftauchte.

Ich wurde geboren genau vor dem entscheidenden Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Im Osten versuchte die deutsche Wehrmacht Stalingrad einzunehmen, was innerhalb weniger Monaten zur katastrophalen deutschen Niederlage im Osten führen sollte, und in Nordafrika versuchte der deutsche General Rommel bis El Alamein vorzustoßen, was bald zu einem ähnlichen Debakel für das sogenannte Tausendjährige Reich führen würde. Später in meinem Leben, als ich dreiundzwanzig Jahre alt war und die USA Hals über Kopf verließ, weil ich meinen Visa-Status verletzt hatte und nach Deutschland ausgewiesen worden wäre, floh ich nach Mexiko, wo ich irgendwie Geld verdienen musste, um zu überleben. Ich arbeitete bei Charriadas, der mexikanischen Form des Rodeos, als eine Art Clown in der Arena, ritt auf jungen Stieren, obwohl ich zuvor noch nie auch nur auf einem Pferd gesessen hatte. Ich trat unter dem Künstlernamen El Alamein auf, weil niemand meinen Namen richtig aussprechen konnte und man mich der Einfachheit halber El Aleman nannte, der Deutsche. Ich aber bestand auf El Alamein, weil ich doch zum Ergötzen des Publikums bei jedem Auftritt schwer gebeutelt wurde, in stiller Erinnerung an die deutsche Niederlage in der Wüste Nordafrikas. Jeden Samstag konnte man diese Niederlage erneut bestaunen, besser gesagt die Verletzungen, die ich mir unweigerlich zuzog.

Nur zwei Wochen nach meiner Geburt wurde die Hauptstadt der Bewegung, München, von einem der frühen Luftangriffe getroffen. Meine Mutter lebte in einem kleinen Dachatelier mitten in der Stadt, in der Elisabethstraße 3. Dreizehn Jahre später würden wir in eine Pension im selben Haus ziehen, nur ein Stockwerk tiefer, wo ich dann den Wüterich Klaus Kinski bei seinen Tobsuchtsanfällen kennenlernte. 1942 aber, noch vor meiner Erinnerung, wurden ringsum viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht, und auch das Haus, in dem ich gerade zu leben begonnen hatte, wurde stark beschädigt. Meine Mutter fand mich in meiner Wiege, bedeckt von einer dicken Schicht von Glasscherben, Ziegeln und Schutt. Ich war völlig unverletzt geblieben, meine Mutter aber, in ihrem Schrecken, nahm meinen älteren Bruder Tilbert und mich und verließ die Stadt und floh in die Berge nach Sachrang, dem abgelegensten aller Orte in Bayern, in einem schmalen Tal direkt an der Grenze zu Österreich gelegen. Dort wuchs ich auf. Meine Mutter kannte dort ein paar Menschen und fand durch sie eine Bleibe auf dem außerhalb des Dorfs gelegenen Bergerhof — nicht auf dem Hof selbst, sondern im sogenannten Austragshäuschen, einem winzigen daneben gelegenen Bau, in dem nach bayerischer Sitte das alte Bauernpaar sein Auskommen findet, nachdem es den Hof an den ältesten Sohn übergeben hat. Wir bewohnten das Untergeschoss, über uns war eine Flüchtlingsfamilie aus dem norddeutschen Hameln einquartiert.

Von meinem Vater und seiner Familie werde ich noch erzählen. Zuerst aber zur Familie meiner Mutter, den Stipetićs, die aus Kroatien stammten, ursprünglich aus dem dalmatinischen Split, und später nach Zagreb umgesiedelt waren, zu einer Zeit, in der die Stadt noch Agram hieß. Meine Vorfahren dort waren im 19. Jahrhundert hohe Verwaltungsbeamte und Militärs und mein Großvater ein Major im habsburgischen Generalstab, den ich aber nie kennenlernte, weil er bereits starb, als meine Mutter erst achtzehn Jahre alt war. Ihren Erzählungen nach hatte er einen Hang zum surrealen Witz, zum Absurden. Zwei Jahre lang war er in Üsküp stationiert, dem heutigen Skopje, und trug dort die gesamte Zeit über immer nur einen Handschuh. Später, im Kaffeehaus in Wien, zog er vor dem Ober seine Offiziershandschuhe aus und hatte zum Erstaunen aller eine tief braungebrannte und eine schneeweiße Hand. Wie in rebellischer Auflehnung spielte er in voller Galauniform mit Straßenjungen Murmeln und tat sich mit bizarren, unmilitärischen Taten hervor. Dieser kroatische Teil meiner Familie war nationalistisch gesinnt, wollte die Unabhängigkeit Kroatiens von der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Diese Bestrebungen mündeten später in den Faschismus. Mit Unterstützung Hitlers übernahm in Kroatien ein Poglavnik, ein Führer, die Macht für drei Jahre, und erst bei Kriegsende war Schluss mit dem Spuk.

Meine Großmutter war eine Bürgerliche aus Wien, zu der meine Mutter nie ein inniges Verhältnis hatte, weil sie sich ihr Leben lang nicht für das Bürgertum erwärmen konnte. Ich kannte die Großmutter nur von wenigen Besuchen her, und in meiner Erinnerung ist nur lebendig, wie ich sie, ihrem Tod bereits nahe, mit meiner Mutter in einem Pflegeheim besuchte. Die Großmutter war verwirrt und bat mich um ein Glas Wasser, das ich am Waschbecken für sie füllte. »Eine Delikatesse«, wiederholte sie immer wieder, nahm kleine Schlucke, dankte mir immer wieder für die so außerordentliche Delikatesse.

Lotte, die jüngere Schwester meiner Mutter, geriet nach dieser österreichischen Großmutter und hatte daher wenig innere Nähe zu meiner Mutter. Lotte war eine durchaus warmherzige Frau mit zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der Sohn, mein Cousin, ein paar Jahre älter als ich, mit dem ich mich gut verstand, spielte eine Rolle in einem dramatischen Moment meines Lebens, als ich mit dreiundzwanzig das erste Mal aus den USA zurück nach Deutschland kam. Meine erste große Liebe war dort zu Hause geblieben, aber zu dem Zeitpunkt war unser Verhältnis schon lange problematisch, weil ich in diesen Jahren eine rasante Entwicklung nahm, die ihr fremd war. Ich hatte sie kennengelernt, als ich im Betrieb ihrer Eltern, einer kleinen Metallfabrik, in Nachtschicht als Punktschweißer arbeitete. Damit hatte ich bereits in meiner Zeit auf dem Gymnasium angefangen, weil ich Geld für meine ersten Filmproduktionen brauchte. Vielleicht aus Verunsicherung, weil ich ihr bei meiner Abreise keine Verlobung angetragen hatte, heiratete sie während meiner Zeit in den USA meinen Cousin, ohne es mich wissen zu lassen. Bei meiner Rückkehr kam sie gerade erst von ihrer Hochzeitsreise zurück und brannte dennoch mit mir für ein paar Tage durch, aber weder sie noch ich hatten es in uns, das Geschehen zu wenden. Weil sie nicht direkt zu ihrem Mann, meinem Cousin, zurückwollte, brachte ich sie zu ihren Eltern, die mich mit ihren vier Söhnen erwarteten. Vielleicht waren es auch nur drei, meine Erinnerung bauscht sie zu einer echten Übermacht auf. Ich wollte meine Geliebte nicht einfach vor der elterlichen Haustür abladen, ich war bereit, mich zu stellen. Ihre Brüder, kraftstrotzende bayerische Rohlinge, die alle Eishockey spielten, hatten die Drohung ausgesprochen, mich beim ersten Auftauchen umzubringen. Ihre Eltern stießen zu Recht ähnliche Drohungen aus. Ich aber fürchtete mich nicht und betrat ihr Haus. Mit meinem Cousin hatte ich am Tag zuvor eine merkwürdige Begegnung gehabt, meine Geliebte zwischen uns beiden Männern hin- und hergerissen. Ich bin mir noch heute sicher, dass es keine Handgreiflichkeiten gab, nicht die geringste Berührung, aber ich hatte danach dennoch ein geschwollenes Jochbein wie von einem heftigen Schlag. Erst vier...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtzig • Aguirre • Aust • Autobiografie • Autobiographie • Bairisch • bayerisch • Bayern • Biographie • Bomben • Bundesrepublik • Dörrie • Einsamkeit • Eisner • Existenz • Fassbinder • Film • Fitzcarraldo • Freiheit • Gehen • Gewalt • Glück • Hollywood • Hypnose • Kino • Kinski • Kluge • Konflikt • Kunst • Künstler • Lebenskunst • Lebensweg • Los Angeles • Mann • Männer • Männlichkeit • Mattes • Memoiren • München • Nazi • Nazizeit • Obama • Oscar • Pubertät • Rebellion • Regie • Regisseur • Religion • Schicksal • Schirach • Schlöndorff • selge • Springsteen • Trampen • Transzendenz • Wandern • Weisheit
ISBN-10 3-446-27561-4 / 3446275614
ISBN-13 978-3-446-27561-4 / 9783446275614
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